Читать книгу Das Tarot der Engel - Marisa Brand - Страница 11

6.

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Das Gebetbuch entglitt Cass’ Händen, fiel zu Boden und öffnete sich. Eine Flut loser Blätter ergoss sich über den Boden, das duftende Lesezeichen flatterte unter die Kniebank.

»Beten wird wohl erlaubt sein. Ich hab’s nämlich nötig«, parierte im Portikus eine Knabenstimme. Ein klatschendes Geräusch war die Antwort. Was sonst. Cass zuckte zusammen. Lord Dudley war kein Mann, dem man Widerworte gab. Sie meinte das Brennen seiner Hand auf der eigenen Wange zu spüren. Sie kannte diese gesalzene Handschrift, seit sie zehn war. Gebe Gott, dass der vorlaute Bursche flinke Beine hat!

»Verdammter, unseliger Dudley«, zischte sie. Der Mann im Beichtstuhl horchte verwundert auf, sah, wie sich das Mädchen rasch bückte, die losen Blätter auflas und sie zurück in den Einband stopfte. Dann faltete es eifrig die Hände zum Gebet und deklamierte ein resolutes Vater unser. Was für eine Schauspielerin! Von hinten näherten sich Stiefeltritte, schneidend eilte Dudleys Stimme ihnen voraus.

»Ich habe dich gesucht!« Eine Tatsache, die schlimmster Vorwurf war.

Cass drehte sich voller Gleichmut um. Die Kunst der Verstellung lernte sich schnell bei Master Dudley. Den Blick hielt sie bewusst gesenkt. Ihre Augen waren verlässliche Verräter.

»Euer Gnaden!« Sie glitt aus der Bank und versank vor dem dunkelhaarigen Mann in einem tiefen Knicks. Der Lord trug einen Mantel in prangendem Rot, dazu Handschuhe und Stiefel aus auffallend gelbem Leder. Die Farben seiner Grafschaft Warwick. Sie gehörte zu den vielen neuen Besitztümern des Fünfzigjährigen, und damit auch das Wappenrecht. Das Wams des Grafen und Herzogs zierte ein Bär, der Ketten, mit denen er an einen groben Pflock gebunden war, machtvoll zerriss.

»Du betest? Nun, mir gefällt, dass du endlich regelmäßig und freiwillig die Kirche aufsuchst, aber hat unsere alte Lady Margaret keine Verwendung für dich?«

Cass schüttelte den Kopf. »Sie lässt sich frisieren und sagt, es zieme sich nicht, dabei den Worten des Herrn zu lauschen.« Sie dämpfte mühsam den Spott in ihrer Stimme. Das Recht darauf behielt sich der Lord gern selber vor. »Ich soll ihr vor dem Zubettgehen Gebete aus Bischof Cranmers Common Book of Prayers vorlesen.«

Zu Cass’ Erstaunen zwinkerte der Herzog ihr verschwörerisch zu. »Damit die Frömmigkeit sie im Schlaf überkommt! Vortrefflich. Die alte Vettel sehnt sich gewiss nach der Messe zurück, dem Spektakel, das ihr Getuschel übertönte und prunkvoller Garderobe einen festlichen Rahmen bot. Soll sie nur um vergangenes Glück trauern, uns gereicht ihr Mangel an Glaubensstrenge zum Vorteil. Sie ist froh, wenn du weg bist, und stellt keine Fragen.«

Er straffte den Rücken, seine Stimme nahm die vertraute Schärfe an. »Ich allerdings muss jederzeit wissen, wo du bist und was du tust. Steh auf.«

Gehorsam erhob sich Cass.

»Lass dich anschauen.« Dudley legte einen behandschuhten Finger unter ihr Kinn und hob es an. Seine schwarzen Augen glitten über die Giebelhaube, deren Schläfenlappen bis auf ihre Schultern herabhingen und dort auf ihr reizloses Kleid trafen. Ein Lächeln entspannte das scharf geschnittene Gesicht des Herzogs, dem ein zweigeteiltes lackschwarzes Spitzbärtchen etwas Fuchshaftes verlieh. Er drückte ihr die Haube zurück in die Stirn.

»So ist es perfekt«, lobte er mit seidiger Stimme. »Deine Ausstattung erinnert ihn an seine lammgesichtige Mutter. Das gefällt ihm.«

Cass riss den Kopf hoch, blitzte ihn herausfordernd an. »Wem?«

»Spiel nicht die Närrin! Seiner Majestät. Wem sonst? Unserem«, er verweilte bei diesem Wort und hob mit fein dosiertem Hohn die Brauen, »König und Verteidiger des Glaubens. Komm, er will dich wieder empfangen. Du machst deine Sache gut.«

Der Herzog von Northumberland bot ihr den linken Arm. Zögernd legte Cass ihre Hand darauf. Er schenkte ihr ein Lächeln, das arglosen Zeitgenossen das Gefühl gab, sie seien der einzige Mensch, mit dem der mächtige Mann sich gern befasste.

Cass errötete. Lord Dudley registrierte es mit Befriedigung und geleitete sie wie eine Königin zum Kirchenportal. Er ahnte nicht, dass weder Freude noch Dankbarkeit Cass’ Wangen färbte, sondern Wut.

War das die Antwort auf ihre Gebete? Nun ja, nicht gerade Gebete.

»Ich habe den König ermuntert, mit dir über seine Großcousine Jane Grey zu sprechen«, sagte der Herzog von Northumberland, während er einen schweren Türflügel aufzog. »Deine Freundin aus Kindertagen.« Wie flüssiges Gold flutete Morgenlicht in das Dunkel der Kirche und blendete Cass. Sie hob die Hände und wandte ihr Gesicht ab.

»Jane Grey? Aber ich kenne sie kaum. Ich habe sie zuletzt gesehen, als wir beide acht oder neun Jahre waren.« Zehn, um genau zu sein, aber es gab Daten und Menschen, die man besser vergaß. Sie hatte viel zu vergessen. Jane Grey, die Großnichte von Heinrich dem Achten, gehörte dazu.

»Was du von ihr kennst, wird genügen. Lobe ihre Glaubensfestigkeit, betone, wie sehr du sie verehrst, deute an, dass du sie für den Inbegriff von Frömmigkeit und allen Tudor-Tugenden hältst.« Dudley hielt die Tür mit der flachen Hand auf, sein rechter Arm bildete einen Bogen. Cass schlüpfte hindurch.

Der süße Duft früh blühender Pfirsichbäume, die den Kiesweg zum Palast säumten, füllte die Luft, im Gebüsch zankten Amseln. Sie nahm nichts davon wahr. Vor ihren Augen loderten Flammen, sie meinte das Knacken von Holz zu hören, das Knistern von Ketzerreisig. Wie aus dem Nichts quoll der überwältigende Gestank brennenden Fleisches in ihre Nase. Jane Grey, noch schmächtiger als sie, hatte direkt neben ihr gestanden und denselben fettigen Geruch – vermischt mit Qualm aus Weihrauchfässern – geatmet. Das pestilenzialische Gemisch würde für sie auf immer mit dem Namen Jane Grey verbunden sein. Genau wie die Erkenntnis, dass Ähnlichkeit in Schicksal und Glauben nicht notgedrungen Freundschaften stiftete.

»Wen Gott liebt, den straft er«, hörte sie das zirpende und eifernde Stimmchen der zehnjährigen Jane in ihrem Ohr. »Sieh nur hin, sie stirbt ohne Schrei. Was für ein Triumph unseres Glaubens. Ich wünschte, ich würde die Reitpeitsche meines Vaters so klaglos hinnehmen können, wenn er mich über der Bibel erwischt.« Die blasse Jane war geradezu aufgeblüht und zutraulich geworden. »Hätte ich nur eine Mutter wie deine, Cass Askew! Du musst so stolz auf sie sein! Sie liebt Gott mehr als alles, was diese fade Welt zu bieten hat.«

»Stolz?«, fragte mit arglosem Staunen das ferne Echo ihrer eigenen Kinderstimme. Es war frei von dem Entsetzen, dass sie empfunden haben musste, während die Flammen Bußkleid, Haar und Leib der Frau am Pfahl in eine lodernde Fackel verwandelten. Diese Frau war in ihrer Erinnerung nicht mehr als eine Fremde. Was lag ihr daran, die Tochter einer Märtyrerin zu sein? Anne Askew hatte schließlich nie Wert darauf gelegt, ihre Mutter zu sein! Mit fünfzehn gegen ihren Willen verheiratet, mit sechzehn ebenso unfreiwillig schwanger, hatte Lady Askew sich dem Kampf für den neuen Glauben zugewandt, die Scheidung von ihrem Mann verlangt und Cass – im Namen Jesu und der Wahrheit – den Dudleys anvertraut.

Um Trost zu finden, hatte sich Cass seither bevorzugt an den rächenden Gott des Alten Testaments gewandt. Dem hätte die beflissene Demut der kleinen Jane Grey nicht gefallen, und ihrer Mutter hätte er gellende Schreie der Wut und des Schmerzes verziehen, auch wenn diese selbst es nicht getan hatte.

Wie versteinert verharrte Cass unter dem Gnadenportal.

»Nun komm schon, du musst nicht dein ganzes Leben in einer Kirche vertrödeln ...« Dudley stieß sie auf den gekiesten Vorplatz. Ein sirrendes Zischen zerschnitt die Luft. »Zur Hölle!«

Cass riss den Kopf herum. Dudley hielt sich die rechte Wange, Blutstropfen sickerten in seinen safrangelben Handschuh. Ein hart und genau geschleuderter Stein hatte ihn getroffen. Der Lord drehte erbost den Kopf nach allen Seiten, schrie nach Wachen. »Das muss dieser verflixte kleine Galgenstrick von vorhin gewesen sein!«

»Ich habe jemanden in den Kirchhof huschen sehen.« Cass wies zu einer vergitterten Einfriedung, die sich an das Seitenschiff und die Kaimauern der Themse schmiegte. Es war der Friedhof der Mönche, die in der ehemaligen Franziskanerkirche jahrhundertelang die Messe gelesen hatten. Zwischen den geborstenen Steinen wucherte Gesträuch. »Sicher will er über den Fluss entkommen.«

»Warte hier! Mit einem verdammten Lausewanz werde ich auch alleine fertig!« Dudley verschwand im Kirchhof.

Cass’ Blick flog zur Krone eines Pfirsichbaums. Zwei schmutzige Füße baumelten zwischen rosafarbenen Blütenwolken. »Mach, dass du wegkommst, bevor die Wachen hier sind.«

Äste knackten. In einem Regen aus Blüten glitt ein dürres Bürschlein am schmalen Stamm herunter und plumpste in den Kies. »Gott zum Gruß, Mylady!« Der Junge rieb sich mit der Rechten das Hinterteil, steckte eine Schleuder in den Bund seiner Hose und zog ein Briefchen hervor.

»Der is für Euch«, zischte er mit wilder Verschwörermiene.

Cass schnappte nach der Botschaft und ließ sie rasch in ihrem Buch verschwinden. Der Junge betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, kaute auf seinen Lippen.

»Nun mach schon, lauf, lauf!«

»Ihr tragt nich zufällig Schmuck? ’n Ring oder ’ne Kette? Irgendwas mit ’nem bunten Glitzerstein?«

Cass’ Blick jagte über die Allee zum Vorplatz der Palastgebäude. »Tut mir leid, ich kann dir nichts zustecken, ich besitze keinen Penny. Und nun nimm die Beine in die Hand.« Sie wies mit dem Kinn in die Allee, an deren Ende sich bunt gekleidete Männer träge aus einem Baumschatten lösten und Hellebarden schulterten.

»Nur eine Frage noch. Seid Ihr eine Braut? Verlobt mit jemand oder so?«

Cass fuhr erschrocken zurück. »Bist du verrückt?«

Nö, aber ich kann ein bisschen lesen, dachte Nat in Gedanken an das Briefchen, dass er soeben für den Pagen zugestellt hatte. Die Bohnenstange kriegte den Hals nicht voll und nahm von allen Seiten mehr Aufträge an, als sie erledigen konnte.

Cass betrachtete ihn ungeduldig. »Verschwinde endlich. Dudleys Leibgardisten werden dich wie ein Ferkel aufspießen, wenn sie dich erwischen.«

»Verdammte Hurenscheiße! Der Kerl in der rot-gelben Geckentracht war Lord Schlachtfest?« Nat verschwand hinter Cass’ Rücken und ließ seine Wieselaugen nach allen Seiten flitzen. »Nix als dämliche Ziergärten, die Obsthaine sind zu weit weg und die Mauern zum Kai zu hoch!« Das kommt davon, dachte er, wenn man nicht als Erstes die Fluchtwege prüft. Anfängerfehler. Joshua Painbody wäre entsetzt und hätte ihm mehr als nur ’ne Ohrfeige verpasst!

Cass wirbelte herum, packte den Jungen beim Hemdkragen und stieß ihn unsanft zum Portikus. »Versteck dich in der Kirche. Schnell, mach schon. Ich lenke die Wachen ab.«

»Gilt das Kirchenasyl hier etwa noch? Is doch ein Tempel der Kanzelschwätzer.«

»Wir Protestanten sind barmherzige Christen, aber dein freches Maul wird dich eines Tages umbringen!«, fauchte Cass, stieß einen der Türflügel auf und schubste den Jungen in das Gotteshaus.

Sie hatte gerade noch Zeit, die Tür hinter dem Jungen zuzuziehen, als Dudley wütend aus dem Friedhof auftauchte. Seine Wachen, die ohne erkennbare Hast die Allee hochstiefelten, wurden Opfer majestätischen Zorns.

Cass fand Gelegenheit, kurz in ihr Gebetbuch zu schauen und es dann voller Freude an die Brust zu drücken. Die Nachricht des Geliebten war sicher verwahrt. Kein Gedicht, kein Hohelied auf die Liebe! Es war ein Heiratsantrag. Ihr Mut – und ein Quäntchen echter Leidenschaft – hatten sich bezahlt gemacht. Endlich, endlich würde sie den Dudleys und ihrer Vergangenheit entkommen. Allein dafür würde sie den Marquis lieben. Mit Leib und Seele.

Ja, sie würde lieben, sie wusste, sie konnte es lernen. Was zählte das Gestern! Ihre Kindheit war nicht mehr als eine Narbe, die gelegentlich juckte. »Niemand, der den Pflug führt und zurückschaut, ist reif für das Königreich Gottes«, murmelte sie. Worte ihrer Mutter.

Dudley drehte sich verärgert zu ihr um. »Was sagst du?«

»Nichts, nur ein Bibelvers, Euer Gnaden!«

»Amen und jetzt komm endlich. Die Pflicht ruft.«

Das Tarot der Engel

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