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1. City of London Mittwoch, 9. April 1553
ОглавлениеLeben hieß Geräusch erzeugen. Zumal in einer Vollmondnacht. Schrilles Schreien. Trunkenes Grölen. Gelächter. Es hallte und lärmte ohne Unterlass in den Gassen beim Stadt- und Gefängnistor Newgate. Wer schwieg, war tot. Genauso tot wie die vom Smithfield, einer sumpfigen Ebene, nur durch einen kurzen Spaziergang und Londons Westmauern vom Kerkerviertel Newgate getrennt, wo man Treibvieh und Hochverräter ausweidete. Die Ochsen, nachdem sie geschlachtet waren, Glaubenssünder und Staatsfeinde, bevor man sie vierteilte, auf Stangen spießte und ihr zuckendes Gedärm verbrannte. Am Horizont ragten die Galgenbäume von Tyburn auf. Grund genug in Newgate, das Leben zu feiern, solange man es hatte.
Auch in dieser Nacht quoll Zechlärm aus Winkeltavernen und Hurenschenken. Beim Gefängnis verwob sich Bänkelgesang mit dem Kreischen der Tollhäusler, die hinter einem Käfiggitter im Torbogen ausgestellt waren. Bis zur Kreuzung von Amen Corner, Ave Maria Lane und Pater Noster Row bei St. Pauls wehte das Stimmenkonzert von Newgate. Musik der Hölle, gefügt aus roher Lust und Schmerz.
»Hier gehts lang«, sagte eine fröhliche Knabenstimme im Schatten der Kathedrale. Der Knirps wies mit schmutzigem Finger in die Warwick Lane. »He, wo seid Ihr hin?«
Seine Augen suchten im Dunkeln nach einem Burschen in Pagentracht und Umhang. »Was ist? Wollt Ihr nun nach Newgate oder nicht?«
Der Page löste sich zaudernd aus einem Seitenportal.
»Können wir keinen Leuchtmann mieten?«, fragte er mürrisch.
»Wozu? Der Mond ist rund, und bei Nacht verirrt sich keiner von denen her«, sagte sein dürrer Führer. Dann grinste er. »Bei Tag natürlich erst recht nicht. Wer braucht da einen Fackelträger? Keine Bange, ich kenn mich aus. Ich bin in Newgate geboren.« Der Stolz in seiner Stimme war unverkennbar.
Was für ein Tölpel, dachte der Page. Dieser Nat oder Pat oder wie auch immer dieser Hungerdarm hieß, war bei Gott kein Beweis für die Gewitztheit der Londoner. Mehr als einen halben Pence würde er dem Bürschchen, das sich ihm auf einer Ufertreppe bei der London Bridge als Führer aufgedrängt hatte, nicht zahlen.
»Nun macht schon«, drängelte der Junge. »Ich pass auf, dass Euch keiner den Hosenboden oder die Nase aufschlitzt.«
»Mit deinem großen Maul? Wie alt bist du, Pat?«
»Nat«, korrigierte der Junge und zuckte die Achseln. »Es heißt, ich wurde zwei Jahre vor König Heinrichs Tod geboren. Und wie heißt du?«
»Das geht dich nichts an, und duze mich gefälligst nicht!« Der hochaufgeschossene Jüngling straffte die Schultern.
Nat war also acht. Acht? Arsch und Gesangbuch! Er ließ sich von einem Kind führen. In dieser Stadt, einem Meer von neunzigtausend Menschen, galt es als Wunder, wenn man das dreißigste Lebensjahr erreichte. Der naseweise Nat würde sicher nicht mal das zehnte schaffen. Nur gut, dass vom Land täglich neue Jugend, frisches, unverdorbenes Blut nachströmte. Jeder fünfte Engländer, so hieß es, lebte inzwischen in London, und die besten bei Hof. Der Gedanke erfüllte den Pagen mit Befriedigung. Er selber war sechzehn und – allen Hänseleien zum Trotz, weil er aus dem Norden kam und niederem Schafzüchteradel entstammte – in den königlichen Palästen von Greenwich, Westminster und Whitehall mächtigen Männern aufgefallen, die ihm geheime Botengänge zutrauten. So auch heute Nacht. Es war eine Sprosse auf der Leiter nach oben.
Nat zerrte an seinem Umhang. Sofort nestelte der Page nach seinem Seitendolch. Er hatte damit so manches Lamm seines Vaters abgekehlt.
»Wenn Ihr so langsam zieht, dann lasst ihn lieber stecken«, bemerkte Nat unbeeindruckt. Er fuhr sich mit der Handkante quer über die Gurgel. »Ihr würdets nicht überleben, wenn einer dieses Brotmesser zu Gesicht bekam.« Mit Kennermiene musterte er die Schneide. »War das teuer? Wenn ja, hat man Euch übers Ohr gehauen. Für einen halben Shilling und eine Kanne Bier klau ich Euch im Hafen ein besseres. Mit Sarazenerschliff. Oder eine rheinische Klinge, die Kölner liefern neben saurem Wein die beste Ware. Die vom Handelshaus van Berck sind unvergleichlich.«
Der Page imitierte das Schnäuzen, das man in den Korridoren von Whitehall und Greenwich Palace für ihn übrig hatte, und spuckte trocken aus. Seine Kehle war zu eng, um anständig Rotz zu erzeugen. Er behalf sich mit einer verächtlichen Miene. »Schwatz nicht, geh weiter!«
Der Junge hüpfte auf bloßen Füßen vor ihm her. Munter, als ginge es zur Maikirmes und nicht in das schwarze Herz von London. Newgate bei Nacht war Englands Antwort auf die Hölle. Mochten die Reformatoren noch so eifrig behaupten, es gäbe weder Fegefeuer noch unablässige Qualen im Purgatorium: Hier waren sie zu Hause.
Mit gesenktem Haupt folgte der Page ihm in eine Gasse. Feuchte Kühle und Fäulnisgase schlugen ihm entgegen. Vom Schlachthaus an der Stinking Lane wehten Gerüche von Verwesung herüber. Der vorzeitige Frühling des Narrenmonats April schien einen Bogen um die Tavernenmeile zu machen. Ihn fror zwischen alterskrummen Fachwerkhäusern und Kellerlöcher, in denen Pfennigshuren, Abtrittfeger und Ratten Quartier nahmen.
Seine Hand glitt unter den Umhang. Er befühlte die Geldkatze am Gürtel, die ein hochnäsiger Lakai ihm anvertraut hatte. Diesmal würde er mehr als den üblichen Botenlohn für sich abzweigen. Sein Auftraggeber war immerhin der mächtigste Mann des Landes.
»He, gehts nicht schneller?«, rügte sein Führer und sprang hasenflink über eine Kellerluke.
Liebend gern, doch mehr als ein mühevolles Waten schien unmöglich zu sein. Zäher Morast, der aus dem Inhalt von Nachtgeschirren und tierischen Ausscheidungen bestand, saugte an seinen Sohlen. Bedauernd dachte der Page an die mühselige Putzerei, an das Terpentin und den Urin einer königlichen Stute, den er den Stallburschen abkaufte, um dem Leder Glanz zu verleihen. Die Abflussrinne in der Mitte des Sträßchens war hoffnungslos verstopft. Selbst Londons nimmersatte Ratten, Milane und Bettler wurden der Abfälle nicht Herr.
Sein kleiner Führer hingegen kam besser damit zurecht. Ein Klappladen flog auf, warf einen Herzschlag lang Licht und Wirtshausgezänk in die Gasse. Der Rest einer Pastete wirbelte durch die Luft – anscheinend der Anlass für einen Streit. Nat klaubte den Brocken aus dem Dreck, wischte darüber und steckte ihn flugs in den Mund.
»Hm, Taubenpudding zum Nachtmahl«, grunzte er schmatzend. »Der Wirt vom Gerösteten Hund hantiert gern mit Marktabfall. Aber wenigstens spart er nicht am Majoran.«
Gestärkt hüpfte Nat voran durch die Finsternis. Der Page stakste halb blind und mit rebellierendem Magen hinter ihm her. Kurz bevor sie auf den Geflügelmarkt einbogen, drehte Nat sich zu ihm um. Verschwörerisch senkte er die Stimme.
»Newgate versorgt neben Londons Bauch auch Londons Lenden mit Hühnchenfleisch. Nehmt Euch Zeit, die Huren zu prüfen. Bessie ist eine saftige Henne, prall und weich wie Gänsedaunen. Die lässt sich in mancher Weise besteigen, und Anne von der Cock Lane kennt Tricks mit ihrem Schnabel ...«
Empört sog der Page die Luft ein. »Willst du kobern? Ich verschwende mich nicht an Gossenschwalben, damit du einen Kupplerpfennig verdienst! Du weißt, wohin ich will.«
»Wollt Ihr, dass jedermann es weiß?«
»Was soll das heißen?«
»Ganz einfach. Ihr seid gewiss nicht der einzige Spitzel aus dem Greenwich Palast in diesem Viertel. Hier herrscht seit Tagen reger Schnüfflerverkehr. Und Eure Tarnung ist dürftig für einen Dudley-Mann ... Oder gehörst du zu Englands letzten Katholiken?
Aus Nats Mund klang das Wort wie Trottel. Unbekümmert fuhr der Knabe fort. »Es heißt, im Norden haben sie noch immer ihre Nester und beten darum, dass Dudley zur Hölle fährt, unser König stirbt und Heinrichs katholische Tochter Maria an seiner Stelle auf den Thron steigt.«
Der Page schnappte wie ein Karpfen nach Luft. »Woher weißt du, dass ich aus dem Nor-?« Er brach ab. Um Würde bemüht, rückte er seinen Umhang zurecht. »Das geht dich nichts an. Was weißt du schon von Politik und Staatskunst!« Eilig schob er hinterher: »Und was die Religion angeht, glaube ich nur, was seine Majestät glaubt.« Zurzeit war das der fünfzehnjährige Edward der Sechste, einziger Sohn des verstorbenen Tudor-Gottes Heinrichs des Achten und fanatischer Protestant. Der Page hielt es wie die meisten braven Engländer, die im Herzen katholisch geblieben waren: Entscheidend war nicht, zu welcher Kirche Gott hielt, sondern der König.
Einige sturschädelige Verwandte des Pagen hatten sich während seiner Kindheit gegen Heinrichs Auflösung von Klöstern erhoben. Sie waren ein warnendes Beispiel für katholische Bekenntniswut geworden. Auf Schafhürden hatte man sie zu den Richtplätzen geschleift und kopfüber neben einigen Mönchen aufgehängt. Wie Schinken im Rauchfang. Das Fleisch war ihnen schwarz vom Leib gefault, während Weihrauchfässer von ihren Hälsen baumelten. Er würde seinen Glauben für sich behalten oder vergessen, so wie die Menschen aus dem Norden ihre Zauberei mit Alraun und Galgenstricken vergessen hatten – nach außen zumindest.
Nat pulte Pastetenreste aus seinen Zähnen. »Religion interessiert mich nicht. Ich glaub nur, was ich weiß, und mach meinen Job: Euch unbeschadet zum Gefängnis bringen – aber nicht hinein.«
Er lachte über seinen Witz und bog auf den Marktplatz ein. Mondlicht tauchte ihn in unbestimmtes Grau. Die Blicke des Pagen huschten nervös hin und her. Landsknechte unterschiedlichster Nationen strichen auf der Suche nach Raufhändeln, gepanschtem Ale und einem flinken Paarungsspiel zwischen vergatterten Marktbuden entlang. Schleppdegen kratzten scharf übers Pflaster. Diese streunenden Mietsoldaten waren die Pest. Der Kronrat und das Parlament holten sie für die ständigen Grenzschlachten mit den Schotten oder als Reserve für Scharmützel mit Frankreich auf die Insel. Verfeindete Adelssippen mieteten sie, um Handstreiche anzuzetteln, wenn ihnen die Zeit für einen Machtwechsel reif schien. Denn in Wahrheit regierte natürlich nicht der Knabenkönig Edward die Insel, sondern sein jeweiliger Vormund.
Erst ein Jahr war es her, dass Lord Dudley, der derzeitige Herrscher im Kronrat, seinen Vorgänger Seymour mit einer Landsknechtarmee aus dem Zentrum der Macht gefegt hatte. Standen aber weder Staatsstreiche noch Revolten oder Kriege an, versetzten die Mietsöldner Londons Bürger in Angst und Schrecken.
Beim Schandpfahl in der Platzmitte entdeckte der Page die Huren. Gebannt starrte er auf die blitzenden Brüste und das schwellende Fleisch, das die Frauen zur Schau stellten. Der Page tappte, wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, auf den Pranger zu. Die Huren verfielen in gurrende Lockrufe, als wollten sie das Schlachtgeflügel imitieren, das sie tagsüber für Pfenniglöhne rupften. Nat ging grüßend vorbei. Der Page straffe seinen schlaksigen Körper und wollte vorbeistolzieren.
Ein Weib mit geschminkten Wangen vertrat ihm den Weg. Sie riss seinen Umhang auf, griff ebenso kundig wie beherzt nach der Schamkapsel, die als gebogenes Horn aus dem Schritt seiner Pluderhose vorsprang, und drückte fest zu. Der Page klappte zusammen wie ein Schnappmesser und stieß ein Winseln aus, das an Schmerz und körperliche Liebe zugleich denken ließ.
»Schwestern, eine Jungfrau! Kein Flaum auf den Wangen und zu viel Rosshaar im Hosenbeutel!« Sie drückte sanfter zu. »Lass mich dein Hähnchen aus dem Nest holen.«
Der Page erstarrte, die Hure lachte wissend. Gesunde Zähne zählten nicht zu ihren Reizen. Der Jüngling sprang fluchend zur Seite und versank in einer gärenden Masse. Die Masse furzte, blutige Federn wirbelten auf, eine aufgestörte Ratte quiekte und biss nach ihm.
Die Weiber johlten, während der Page abwechselnd errötete und erbleichte. Seine Scham schmerzte umso heftiger, weil er in seiner Hose eine Reaktion auf die Handgriffe der Dirne registrierte. Ein Trüppchen Landsknechte feuerte die Dirnen an. Hilflos tastete der Page nach seinem Lämmerdolch.
»Den will ich nicht sehen«, grölte die Hure. »Zeig mir lieber, wie du unter deinen Beinkleidern bewaffnet bist.«
Ihre Stimme nahm einen geschäftlichen Ton an. »Für fünf Pence lass ich dein Krummhorn stramm stehen, für einen halben Shilling deine Hose musizieren.« Die Landsknechte applaudierten. Wieder streckte sie die Hand nach dem Jüngling aus. »Ich wette, an unserem fromm gewordenen Hof öffnet keine Dame ihr Schatzkästlein für einen Frischling wie dich.«
Der junge Mann schlug ihre Hand weg.
»Fünf Pence sind Wucher, Bessie. Einen halben Shilling hast du im Leben noch nicht in der Hand gehabt.« Wie aus dem Nichts war Nat zwischen den Landsknechten aufgetaucht. »Zwei Pence! Und dafür nimmst du ihn mit in die Kammer!«
»Aber beschütt ihn ordentlich mit Wein, sonst taugt er nichts«, grölte ein Söldner.
»Verflucht. Ich will keine Hure«, zischte der Page in Nats Ohr. »Schon gar nicht die!«
»Tut wenigstens so«, zischte der Junge zurück.
An Bessie gewandt, sagte er laut: »Überleg es dir. Wir schauen uns derweil das Galgenfutter im Irrenstall an.«
»Bei Nacht?«, fragte Bessie erstaunt, doch sie war schon abgelenkt von den tastenden Händen eines Soldaten, dem zwei Pence locker saßen.
»Die Narren sind durchgehend verrückt, und heut scheint die Säuferlaterne.« Nat wies zum Mond. »Frau Luna macht sie munter.« Weshalb die Irren im bildreichen Slang von Newgate Lunas Brüder oder nur Lunatics hießen. Poetische Gemüter sprachen von Gottes Gauklerschar.
Nat packte den Pagen am Arm und zog ihn aus dem Pulk zur Stirnseite des Platzes. In Hufeisenform erstreckten sich drei Gefängnistrakte vor ihnen. An den Seitenflügeln vorbei erreichten sie den Schatten des wuchtigen Torhauses. Das Mondlicht malte die Umrisse der Dachzinnen als stumpfe Klauen aufs Pflaster. Der Torgang vor ihnen glich einem klaffenden Maul, dem ein Strom aus halb tierischem Gewinsel und halb menschlichem Gebell entquoll.
»Mistfotze, MISTFOTZE, bekenne!«
»Bei den sieben Bußpsalmen, mir sitzt des Teufels Horn in der Hinterwohnung.«
»Bereue, bereue, Saukerl.«
»Seht den Esel des Herrn.«
»Und da drin soll ein Prophet hausen?«, stammelte der Page.
»Der beste von allen«, bestätigte Nat. »Der halbe Hof schleicht nachts her.«
»Du küsst deine Mutter nimmermehr«, krächzte es über ihren Köpfen. »Nimmermehr. Nimmermehr.«
Entsetzt zog der Page den Kopf ein. »Und wer oder was ist das?«
»Der Papagei des Pförtners. Hat ihm ein Gentleman verehrt, bevor er aufs Schafott musste. Der Vogel taugt mehr als die alten Stundengebete und Gedenkmessen. Den Gentleman vergisst keiner, solang sein Papagei im Gesims sitzt. Eine rabenschwarze Seele. Der hält gesalzene Grabreden für die armen Sünder, die ihren Gang zum Galgenberg antreten. Sogar lateinisch. Habt Ihr einen Silberling?«
»Mehr als einen halben Pence bekommst du für deine Dienste nicht!«
»Der Pförtner verlangt ein Handgeld, wenn er das Fallgitter hochziehen soll. Kostenlosen Käse gibt es nur in Mausefallen.«
Unwillig zog der Page eine Münze aus seiner Geldkatze. Nat rannte zu einer Turmpforte und pochte. Die Pforte tat sich auf, es folgten wispernde Verhandlungen. Nat kehrte mit einer Binsenfackel zum Pagen zurück. Seufzend und rasselnd öffnete sich das Fallgitter zum Torgewölbe. Pfiffe und Jubelschreie schollen ihnen entgegen.
In einem Anflug von Neid bemerkte der Page, wie unbekümmert Nat den Torweg betrat.
»Hierher!«, rief der Junge über den Lärm hinweg und wandte sich einem Käfiggitter zu, das über zwei Stockwerke reichte. Dahinter war auf zwei Ebenen jegliches Elend in menschlicher Gestalt gefangen. Ein Durcheinander aus stinkenden Leibern, die meisten gefesselt, an die Mauern geschmiedet oder an den Füßen zu Paaren verkettet. Man hielt die Irren gern wie Zwillinge, das verdoppelte das Vergnügen. Gelegentlich wurden sie zur Richtbühne auf den Marktplatz geführt. Bei Dudelsackgepfeife und Trommelgedröhn sprangen sie über die Plattform, gerieten in Ekstase und ergötzten die Menge mit Schreien und Tänzen.
Ein besonderer Spaß war es, wenn sie miteinander in Streit gerieten, Fratzen schnitten, Schaum vor dem Mund hatten oder sich entkleideten. So ähnlich musste es in Sodom und Gomorrha zugegangen sein, wobei Sodom in Newgate überwog. Die Nähe von Wahnsinn und Lust sollte den Zuschauern eine Warnung sein, doch das Vergnügen wog schwerer als die Moral. Zudem war eine Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Treiben in Londons City nicht zu übersehen.
Der Page näherte sich mit tastenden Schritten dem Narrenkäfig. Der Gestank des durchnässten und beschmutzten Strohs, auf dem die Tollhäusler lagerten, ekelte und faszinierte ihn zugleich. Genau wie die krallenartigen Hände, die durch das Gitter stießen, das Greinen und die Grimassen des Wahnsinns. An Geruch und Anblick solchen Elends gewöhnte er sich recht mühelos, stellte er stolz fest. Ha, er war dabei, ein Mann zu werden! Dennoch wollte er so rasch als möglich weg von diesem Ort.
»Also, wo ist dieser Enoch?«
Nat wies stumm auf eine Gestalt, die wie in Anbetung vor der hinteren Wand des tief in die Mauer ragenden Verschlages kniete. Ein Hungerskelett in einem Gewand, das den Pagen an ein Mönchshabit erinnerte.
»Ruf ihn her«, verlangte der Page forsch.
Nat schüttelte den Kopf. »Der Meister kommt, wenn es an der Zeit ist.«
Sein Begleiter runzelte verärgert die Stirn, er wollte doch keine Audienz.
»He da!«, schrie er – wollte er schreien, seiner Kehle entrang sich aber nur ein hohes Krächzen. Auf seine brüchige Mannesstimme war noch kein Verlass.
Immerhin, die Gestalt erhob sich. Während sie sich umdrehte, erstarb der Lärm auf beiden Ebenen des Käfigs. Das Gewühl der Leiber ordnete sich. Lumpengestalten krochen auseinander, teilten sich wie einst das Rote Meer für Moses. Unter den Irren schien Meister Enoch der König zu sein.
Er richtete sich zu erstaunlicher Größe auf. Ein Zittern ging durch seinen mageren Leib. Er setzte den rechten Fuß vor, zog den linken nach. Sank wieder auf den rechten, hob sich auf dem linken nach oben, tat wieder einen Schritt, hinkte mit dem linken Bein nach. Seine Arme schlenkerten unkontrolliert nach allen Seiten. Er glich einer grotesken Gliederpuppe, die von einem fernen Fluch gelenkt wurde. Hatte man ihm auf der Streckbank alle Sehnen durchtrennt und die Gelenke zerschlagen?
Nat hielt die Binsenfackel in den Käfig, um dem Mann den Weg auszuleuchten. Von überall funkelten wilde Blicke. Enoch setzte seinen Gang unbeirrt fort. Anscheinend war er blind.
»Was ist mit seinem Leib?«, flüsterte der Page erstaunt.
»Hat zu lange die kleine Erleichterung genossen, bevor er nach Newgate verlegt wurde.«
Das Gesicht des Pagen wurde zum Fragezeichen.
»Na, little ease im Tower! Ein Kellerloch drei Stock unter dem Weißen Turm. Kein Licht, kaum Luft. Man kann drin nicht liegen, nicht sitzen und schon gar nicht stehen. Der Gebrauch seiner Beine und Arme ist Master Enoch in der Hockgrube entfallen. Dafür hat er da drin die Sprache der Engel entdeckt. Der Prophet ist ein Mann der Wunder. Er ...«
Nat brach ab, als das Gesicht des Sehers im Lichtkegel seiner Fackel auftauchte. Der Alte hielt die Augen geschlossen. Der Page erkannte zuerst nichts als Schmutz und Filz. Grauweiße Korkenzieherlocken überwucherten ein Gewirr aus ledrigen Furchen. Das Antlitz einer Mumie. Er schien seinem Alter um mehr als hundert Jahre vorausgeeilt zu sein. War diese Kreatur schon tot?
Vergebens suchte man nach einer Nase, die dem Gesicht Struktur verliehen hätte. Geblieben war nur die Andeutung eines fleischlosen Hügels. Der Mann musste jahrelang eine eiserne Schandmaske getragen haben. Sein Mund war von einem Bart überwuchert, der sich vor seiner Brust mit dem Filzhaar verwob.
Und dieses Wesen sollte der Künder letzter Weisheiten sein? Die Augen des Pagen glitten zurück zum Gesicht des Mannes, der nun unsinnige Gebete flüsterte. Oder Zauberformeln?
»Ol sonf vorsag, goho iad balt, lonsh calz vonpho.«
Unvermittelt hob der Mann im Käfig die Lider. Wie eine Schlange. »Seid mir gegrüßt, Kinder Gottes.«
Der Page schnappte nach Luft. Diese Augen! Das linke war nicht mehr als eine milchig weiße Kugel, die blind in einem See aus Tränen schwamm. Das rechte hingegen strahlte wie geputztes Silber. Die Pupille darin war leicht versetzt und erinnerte an einen Teich von makellosem Schwarz und unermesslicher Tiefe. Etwas bewegte sich darin, ein weiteres Augenpaar?
Himmel, es war sein eigenes! Und dahinter noch eins, und noch eins, eine unendliche Reihe von Augen, die bis zum Beginn der Zeit zurückzublicken schienen. Die ungezählten Blicke fingen ihn ein. Der Page fühlte sich nackt und seiner geheimsten Gedanken entkleidet. Er spürte den Boden unter seinen Füßen nicht mehr, fiel Halt suchend auf die Knie und neigte den Kopf.
»Du bist also gekommen, um eine Weissagung zu kaufen.« Eine Feststellung. Keine Frage. Die Stimme des Greises war mild wie Mandelmilch.
Der Page nickte vage und suchte in seinem Kopf nach der Frage, die sein Auftraggeber ihm durch einen Lakai vermittelt hatte.
Enoch ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Warte.« Wie ein Taschenspieler zog er ein abgegriffenes Kartenspiel aus den Tiefen seiner Kutte hervor. »Zieh!«
Zögernd nahm der Page eine Karte. Sie zeigte einen jungen Helden auf einem heidnischen Streitwagen, der von zwei Hunden gezogen wurde, der eine schwarz, der andere weiß, mit Menschenhaupt und weiblichem Kopfputz.
Enoch betrachtete die Karte und lächelte. »Der Wagen! Wie interessant. Nun, es geht also um das Mädchen mit den zwei Köpfen, das diesen Januar im Dorf zu Greenwich geboren und begraben wurde. Ich nehme an, man hat dieses Wechselbalg rasch getötet?«
Der Page betrachtete die Karte, dann wieder den Propheten. Wie konnte der Mann das wissen? Er hatte seine Fragen nicht einmal diesem Nat verraten. Hatte die Karte Zauberkraft oder konnte der Alte in seinen Gedanken lesen?
Rasch begann der Page den Rest seiner Informationen herunterzuhaspeln. »Die Missgeburt kam am sechsten Todestag von König Heinrich zur Welt. Die Palast-Astrologen halten das für ein Omen. Sie fürchten, dass König Edwards Bastardschwestern sein Leben bedrohen.« Er warf sich in Pose. »Einige behaupten, man müsse Maria und Elisabeth Tudor töten wie das Wechselbalg, sonst werde die helle Themse bald vor Blut und Kadavern überfließen, unser herrlicher Palast zur Natterngrube werden und ...«
»Psst«, zischte Nat. »Das reicht. Verwirr ihn nicht mit dummem Geschwätz.«
»Dieser Mann ist irre, nicht ich«, zischte der Page erbost.
»Und du hast den Verstand einer Erbse. Jedes Kind weiß, dass der Tudor-Palast nur Mörder und Höllengezücht hervorbringt.«
»Das ist Majestätsbeleidigung und Blasphemie!«
»Nein, das is die Wahrheit, und jetzt sei still und hör zu.«