Читать книгу Das Tarot der Engel - Marisa Brand - Страница 9
4.
ОглавлениеNat verharrte unschlüssig beim Gitter. Hatte der Prophet nicht auch noch mit ihm sprechen wollen? Begierig linste er nach dem Geldbeutel auf dem Käfigboden. Hoffentlich ging es um einen weiteren Kunden. Der Page hatte nichts eingebracht. Nat räusperte sich. »Richtig beeindruckend, Eure Vorhersagen, Master Enoch. Könnten eine Menge Leute interessieren. Wartet beim Hafen noch wer?«
»Nat, sei kein Schmeichler, du beleidigst deinen eigenen Verstand.«
Erwischt. Nat senkte den Blick.
Enoch seufzte. »Mit dir kann ich ehrlich sein. Dass Edward wieder krank ist, weiß ich von den spanischen Spitzeln, die du vergangene Woche gebracht hast. Sie sprachen recht hoffnungsfroh über seinen blutigen Husten, schließlich wollen sie Maria auf dem Thron sehen. Die Franzosen haben gestern behauptet, sie hätten von einer Schlange geträumt – spekulieren also über einen Giftanschlag auf den König durch die Spanier oder planen ihn selbst. Sie fürchten um ihr Bündnis mit England. Und dank des Pagen wissen wir nun, dass Lord Dudley sich längst Gedanken über die Zeit nach Edward macht. Was liegt näher, als den baldigen Tod des Königs vorherzusagen? Ich bin Beichtstuhl und Börse für den Klatsch des Hofes. Um zu wissen, was die Zukunft bringt, reime ich die Fragen zu Antworten zusammen. Dazu muss man nur das Alphabet menschlicher Gier beherrschen. Das habe ich in meinem vergangenen Leben ausführlich studiert.«
»Versteh schon, aber ... Das mit Eurem linken Auge ist wirklich toll. Könnt Ihr das noch mal machen?«
Der Prophet ließ den Augapfel nach hinten gleiten. Seine Pupille verschwand.
»Verdammt, das nenn ich mal einen Trick! Wo habt ihr den gelernt?«
»Im little ease hat man viel Zeit, um sich über die Grenzen seines Leibes und die Gesetze der Zeit zu erheben. Und das, lieber Nat, ist mehr als ein Trick. Wer den Blick von der Welt löst und ihn wahrhaftig auf den Urgrund der Seele lenkt, wird den Engeln begegnen.«
Oder dem Teufel, dachte Nat.
Enoch lächelte. »Auch Satan war ein Engel, Nat.«
Donnerschlag! Verblüfft sperrte der Junge den Mund auf. Mühsam kramte er nach Worten. »Das ist mir zu hoch.«
»Eines Tages wirst du es verstehen. Wie wir Menschen kennt Luzifer den Verlust von Unschuld und Glückseligkeit. Man kann von ihm lernen, wenn man Schmerz nicht scheut. Er ist ein unerbittlicher, aber sehr genauer Lehrer. Ohne ihn gäbe es keine Heilung, und meist ist das, wovon wir uns heilen wollen, genau das, was uns heilt.«
Nat runzelte misstrauisch die Stirn.
Enochs Lächeln vertiefte sich. »Du hältst mich noch immer für einen Scharlatan? Nun, dann lauf diesem Tölpel von Pagen hinterher. Er überschätzt seine Talente im selben Maße, wie du meine unterschätzt.«
Nat zuckte die Achseln. »Was hab ich mit diesem Lackei von Pagen zu schaffen?«
»Du tätest ein gutes Werk! Und du bist ein anständiger Kerl.«
»Gute Werke? Ich steh im Dienst von Painbody, dem König der Themsekais, der hält nichts von so was.«
Enochs Gesicht war mit einem Mal ganz Aufmerksamkeit. »Joshua Painbody ist dein Herr? Sieh an, sieh an! Mein kleiner Freund, darum haben die Engel mir vorhin eine Unterhaltung mit dir empfohlen.«
Merkwürdige Engel. Was lag ihnen an einem ehemaligen Folterknecht und Herrn der Diebe? »Ihr kennt Painbody?«
»Aus einem früheren Leben, gewiss.«
»Ihr meint vom Tower her?«
Der Prophet schloss die Augen und nickte bedächtig, sein Mund entspannte sich in einem seligen Lächeln. Nat schüttelte den Kopf. Eigenartig. Der König vom Themsekai löste solche Empfindungen nur selten aus. Schon gar nicht in ihm. »Painbody hat mir mein Bettelpatent besorgt. Er sieht’s nicht gern, wenn ich zu oft eigenen Geschäften nachgehe. Vor allem wenn sie, wie heute Nacht, keinen Penny einbringen! Wenn er schlecht gelaunt ist, gerbt er mich dafür mit der Hundegerte.«
Der Alte reichte die Lederbörse zum zweiten Mal durchs Gitter. »Nimm und kauf dich eine Weile aus Painbodys Herrschaft frei. Grüß ihn von mir und sag ihm, du wirst ihm bald mehr und weit Wertvolleres bringen.«
Nat haschte nach dem Beutel und wühlte nach einer Münze. Er fand die größte und biss hinein. Das Metall gab unter seinen Zähnen nach.
»Christus! Das ist durch und durch Silber!«, stieß er verblüfft hervor. »Darf ich die behalten?«
»Du kannst den ganzen Beutel haben.«
Nats Augen rundeten sich in ungläubigem Staunen.
Enoch lächelte und öffnete seine Handfläche. »Ich habe mich schon bedient. Man zahlt mich hiermit.«
Nat senkte seine Fackel und entdeckte einen flachen Stein, kaum größer als ein Penny.
»Mit bunten Kieseln?« Der Mann war doch irre!
»Sieh genau hin.«
Ohne Begeisterung betrachtete der Junge den rötlichen Stein. Weiße Adern durchzogen ihn wie Sehnen das Fleisch.
»Naja, ganz hübsch – für einen Stein«, meinte Nat ohne große Überzeugung.
»Mein Sohn, dies ist ein biblischer Sarder, ein Grundstein des neuen Jerusalem. An anderer Stelle freilich wird er Zierde von Satans Brustpanzer genannt. Wie auch immer, ich brauche ihn für das, was vor mir liegt. Es heißt, der Sarder verleiht seinem Besitzer Kraft und einen unbestechlichen Verstand.«
Den hast du echt nötig. Nat steckte die Börse rasch in sein Hemd. »Jerusalem? Ganz schön weit weg.«
»Oh nein, mein Jerusalem ist nah. Sehr nah: Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.«
»Klingt nach Weltuntergang.«
»Die Stunde der Propheten! Mein großer Auftritt.«
«Wenn Ihr meint«, sagte Nat ungeduldig. »Ich geh dann mal.«
Meister Enoch hielt ihn zurück. »Du kennst deinen Auftrag noch nicht.«
»Ich soll diese Bohnenstange von Pagen beschützen, oder? Mach ich. Obwohl es um den echt nicht schade ist.«
»Das tust du freiwillig. Ich habe doch gesagt, du bist ein anständiger Kerl.«
»Ich?«
»Selbstverständlich. Gott und seine Engel haben dich zu meinem Helfer erwählt.«
»Aha.« Misstrauisch verzog Nat den Mund. Geschäfte mit Irren waren lohnend, aber anstrengend. »Was muss ich also dafür tun?«
»Einen Stein finden.«
Noch einen? Jessas! Der Mann sollte seinen Stein haben. Einen bunten Flusskiesel zu besorgen war keine Zauberkunst.
»Keinen Kiesel!«
Der Junge zuckte zusammen.
»Einen Opal.«
»Nie gehört.«
»Du erkennst ihn, wenn du ihn siehst. Er vereint den Himmel, die Erde, das Feuer und das Wasser. Er spiegelt Gottes Schöpferkraft und Liebe. Die Engel haben mir offenbart, es sei der Stein, den ich brauche, um Freiheit von aller Qual zu erlangen und Erlösung.«
»Mag sein«, schimpfte Nat, »aber ich klau keine Juwelen, Ist zu heikel, und Josh wird sie nicht los.«
»Was denkst du von den Heerscharen des Herrn? Du sollst den Stein nicht stehlen, du wirst ihn finden.«
Nat zögerte kurz, seine Finger schlossen sich um die Silbermünze. »Und wo?«
Wieder hantierte der Prophet mit seinem Kartenspiel, fächerte es auf und steckte es durch die Stäbe. »Zieh!«
Nat zog achselzuckend und drehte eine Karte um, während eine weitere zu Boden trudelte. Nat betrachtete die Karte in seiner Hand. »Jessas, der Gottseibeiuns! Und zwei Nackte.«
»Ich habe dir schon mal gesagt, auch Satan ist ein Engel! Schon die Römer nannten ihn den Lichtbringer: Luzifer. Wir sind also auf der richtigen Spur.«
»Mit dem Gehörnten will ich nichts zu schaffen haben, Master Enoch. Mir langt Painbody.« Er warf die Karte in den Käfig zurück.
»Du musst nicht zum Teufel gehen, kleiner Nat. Heb die andere Karte auf!«
Nat bückte sich. »Hm, gefällt mir ’n bisschen besser.« Er beleuchtete mit seiner Fackel das Bild eines Liebespaares vor einer Flusslandschaft, darüber, in einem goldenen Himmel schwebte ein richtiger Engel. Golden und weiß mit Federschwingen statt mit versengten Drachenflügeln wie der Satan.
Enoch lachte. »Habe ich es mir doch gedacht«, sagte er. »Sieh genau hin, was verbindet beide Karten?«
Nat runzelte die Stirn. »Liederlicher Schweinkram?«
»Das nackte Paar. Es steht für die Liebe, mein Sohn. Sie kann Paradies und Hölle sein, göttliche Bestimmung oder teuflische Versuchung. Suche nach einem gesegneten Liebespaar, aber hüte dich vor Verwechslungen! Verfehlte Liebe entfesselt Hass und tödliche Zerstörung.«
»Ich kenn keine Liebespaare, außer Bess und ihre Freier.« Er linste nach der Teufelskarte, auf dem die Nackten an Satans Thron gefesselt dastanden. Mit gelangweilter Miene und leerem Blick.
Enoch nickte anerkennend. »Aha, du beginnst zu begreifen. Bei einer Hure und ihrem Buhlen wirst du nicht finden, was ich suche.«
»Wo dann?«
»Gott wird dir den Weg weisen ... Lass uns zu seinen Engeln beten. Ol sonf vorsag, goho iad balt ...«
Nat verdreht die Augen.
Enochs Lider flatterten und senkten sich. »Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabgekommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.«
»Heißt das, ich muss so was wie ’ne heilige Braut suchen?«
»Ja.«
»Ausgerechnet in London? Ich mein ...«
Ein quiekender Schrei gellte vom Marktplatz herüber. Schläge klatschten.
»Ah, die Engel haben sich wieder einmal offenbart«, bemerkte der Prophet zufrieden.
»Ich denk eher, das war der Page. Er muss Bess wieder in die Finger geraten sein«, warf Nat ein. »Und das ohne einen Penny in der Tasche! Volltrottel.«
»Gott spricht auf Erden besonders gern durch Narren.«
Daran hatte Nat keinen Zweifel mehr.
»Hab ich's nicht geahnt«, bemerkte der Prophet heiter. »Er soll dein Führer sein!«
»Derf« Nat fühlte sich in seiner Berufsehre gekränkt, aber die Silbermünze in seiner Hand fühlte sich verdammt tröstlich an.