Читать книгу Das Tarot der Engel - Marisa Brand - Страница 8
3. Zurück in Newgate
ОглавлениеDer Prophet hatte die Lider geschlossen. Tiefe Stille senkte sich über den Käfig. Die Schultern des Weisen fielen herab, er glitt ins Stroh und kippte zur Seite, wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich durchtrennt werden. Flammen schössen aus Nats Binsenfackel empor, leckten an den Käfigstäben. Ihr Knistern schwoll in den Ohren des Pagen zu einem Fauchen und Tosen.
»Was soll das? Was ist mit ihm?«, rief der Page gegen den Lärm in seinem Kopf an und sprang auf die Füße.
Der Junge legte den Zeigefinger an die Lippen. Aus seiner Fackel regneten bunte Funken. Ein Alchemistenstreich? Einer der Narren streckte die Zunge heraus und versuchte, die Funken zu fangen. Ein zweiter stimmte Psalmengesänge an, die anderen fielen ein.
»Für Gottesschimpf und Blendwerk zahl ich kein Geld!«, schrie der Page.
Die Gesänge verstummten. Nicht wegen seines Geschreis, sondern weil Enoch eine Hand hob. Er setzte sich in einer vollendet fließenden Bewegung auf, als zöge er sich am eigenen Schopf in die Höhe. Noch im selben Augenblick stand er kerzengerade da, ein Vorbild an vollkommener Körperbeherrschung nach Art der biblischen Wüstenväter, die Jahrzehnte, stehend auf Steinen, verharren konnten. Betend, schlafend, wachend.
Das musste ein Trick sein! Dieser Malefizbub spielte zu Anfang den Krüppel, um hernach mit dieser Wiederauferstehung zu verblüffen. Der Schaf markt in York war voller von Betrügern, die ähnliches Gaukelwerk vorführten. Hielt dieser geriebene Galgenstrick ihn für einen Bauerntölpel?
Master Enoch schlug die Augen auf. Der Page prallte vom Gitter zurück. Der Blick des Propheten traf ihn wie ein Blitzstrahl von solcher Kraft, dass er wieder auf die Knie fiel. Zu seinem Entsetzen musterten ihn diesmal zwei Pupillen. Zwei! Das linke Auge des Sehers war nicht mehr blind, sondern klar und silbern wie das rechte.
Enochs Lippen hoben sich zu einem verzückten Lächeln.
»Die Engel haben zu mir gesprochen. Höre meinen Rat. Geh, mein Sohn. Gehe in Frieden.«
»Wie?«
»Genieße dein Leben als Lämmerhirt. Dafür bist du geschaffen. Der Herr hat dich nicht umsonst auf deinen Platz gestellt. Kleiner Nat, mit dir habe ich zu reden!«
Der junge Page schüttelte empört den Kopf. Er kramte nach Worten und nach dem Beutel unter seinem Umhang. »Mit mir hast du zu reden! Ich bezahle schließlich dafür!«, stieß er hervor und riss hastig die Geldkatze vom Gürtel. »Sag mir, was du gesehen hast! Lord Dudley braucht Tatsachen.«
Er warf den Beutel durch die Gitterstäbe. Er musste die Ware haben, sein weiterer Werdegang hing ab von einer Weissagung dieses Enoch. Egal wie sie ausfiel, egal worum es sich handelte oder ob sie sich einem Budenzauber verdankte. Er musste etwas abliefern. Er wollte kein Schafhirte bleiben.
Der Prophet beachtete den Beutel nicht.
»Bist du dir sicher, dass du die richtige Wahl triffst?«, fragte er ruhig.
»Wahl? Was für eine Wahl? Ich denke, Ihr sagt das Schicksal voraus.«
»Schicksal ist das, was wir aus unserer Bestimmung machen, junger Freund. Wie beim Kartenspiel kann man mit einem schlechten Blatt gut spielen oder ein vortreffliches überreizen. Du bist der Sohn tüchtiger Schafzüchter, das Land deiner Väter kann dich nähren. Wirf nicht leichtfertig weg, was dir zugeteilt wurde. Was ich eben sah, bedeutet große Gefahr! Kehre heim, dann sehe ich dich an der Seite einer drallen Frau inmitten einer Schar rotbackiger Kinder.«
Nein!, schrie es in dem Pagen. »Es ... Es geht doch nicht um mich, es geht um ...« Er suchte nach einem zwingenden Argument, nach etwas Erhabenerem als dem strengen Geruch, der dem Wort Lämmerhirt anhing. »Es geht um England!« Genau.
Der Prophet seufzte. »Das sagen alle.«
»Wer ist alle?«, zischte der Page in Nats Richtung.
»Ich hab dir doch gesagt, du bist nicht der Einzige, der aus dem Palast schleicht«, raunte der Junge.
Der Mann im Käfig hob den Geldbeutel auf und reichte ihn zurück durchs Gitter. »Behalte das. Es ist das Vielfache deines üblichen Botenlohns. Nat kann dir einen Stall zeigen, wo du ein tüchtiges Reitpferd mieten kannst. Das Tor wird in wenigen Stunden geöffnet. Niemand wird Geschrei um dein Verschwinden machen. Die Lücken bei Hof schließen sich lautlos. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Der Unterton von Mitleid verärgerte den Pagen, darin war er schon ganz Mann. »Du sollst das Mädchen mit den beiden Köpfen erklären! Nicht mein Leben verpfuschen.«
Nat betrachtete die Geldbörse, die immer noch vor der Nase des Pagen baumelte. Er sah den eigenen Lohn schwinden und spuckte aus. »Du Sackesel würdest dein Glück nicht mal erkennen, wenn’s dich in den Hintern tritt! Nimm die Penunzen.«
Der Page versetzte ihm eine Kopfnuss. »Halt dich raus.«
Master Enoch ließ die Börse sinken. »Nun denn, ich habe dich gewarnt. Das Mädchen mit den zwei Köpfen bedeutet, dass Englands König ein toter Mann ist.«
Der Page taumelte nach hinten. »Wie?«
»Edward der Sechste stirbt. Wahrscheinlich noch in diesem Sommer. Und nach ihm muss eine Frau regieren. Allein und aus eigener Kraft. Nur so geht es voran, wie die Karte des Streitwagens gezeigt hat.«
»Eine Frau allein? Das ist lächerlich. Und überhaupt! Diese Prophezeiung ist Hochverrat. Niemand darf den Tod eines englischen Monarchen vorhersagen!«
Enoch nickte knapp. »Darum habe ich dir geraten, bei deinen Lämmern zu bleiben, statt Lord Dudley zu dienen.«
Der Page erbleichte. »Was hat das alles mit mir zu tun? Ich bin nur ein Bote. Dich wird man ...«
»Hängen? Dem Tod habe ich schon öfter ins Auge geschaut, mein Sohn. Eine jedes Mal erstaunliche Erfahrung, egal von welcher Warte aus. Höre genau zu: Lord Dudley muss eine Wahl treffen. Eins der Gesichter des zweiköpfigen Mädchens blickte nach Westen, das andere nach Osten, so wie die Zugtiere auf der Karte, die ich gezogen habe. Der Wagen ist England. Wenn er ihn richtig lenken will, sollte er klug wählen.«
Wieder fingerte der Prophet mit seinem Kartenspiel herum, zog ohne hinzusehen eine hervor, betrachtete sie und nickte. »Möchtest du die Karte sehen? Es ist ein Trumpf! Sie zeigt den Erzengel Michael, den mächtigsten Schutzengel, den Gegner Satans und Vollstrecker Gottes.«
»Ein Engel?«, fragte der Page abwehrend. Waren die nicht inzwischen verboten? In den meisten Kirchen hatten Bilderstürmer ihnen die Köpfe abgeschlagen. Man kannte sich einfach nicht mehr aus mit der Religion. So viel aber wusste er: Dudley achtete im Dienste seiner Majestät streng darauf, dass die Reformen eingehalten wurden, und er wollte ganz sicher nicht mit Götzendienst in Verbindung gebracht werden. Gleichwohl hatte man ihn hergeschickt. »Ich schreib mir lieber auf, was Ihr sagt.«
Der Prophet zuckte die Achseln. »Dann notiere: Aurea mediocritas!«
»He? Wie schreibt man diesen Auerochsen?« Der Page tastete nach Wachstäfelchen und Griffel, die er im Futter seines Wamses trug.
»Schreib einfach, Dudley soll den goldenen Mittelweg suchen. Oder die Mäßigkeit, wie die Karte heißt.«
Der Page verzog den Mund. »Sagt Ihr das allen, die zu Euch kommen?«
»Ungefragt und kostenlos! Das rechte Maß zu halten garantiert ein langes, friedvolles Leben.«
»Eine solche Binsenweisheit ist keinen Penny wert, sondern eine Tracht Prügel.« Maß halten! Damit konnte er einem Mann wie Dudley nicht kommen.
»Diese Binsenweisheit könnte vielen Menschen den Kopf retten«, antwortete der Prophet ungerührt. »Aber ich sehe schon, du möchtest ein Rätsel. Es ist wirklich leichter, von wolkiger Wahrsagerei als von der Wahrheit zu leben. Nun, wie wäre es damit: Adora quod incendisti. Incende quod adorasti. Verehre, was du verbrannt hast, und verbrenne, was du verehrt hast.«
»Verbrennen? Das klingt nach Ketzerei!«
»Es stammt aus dem Mund des heiligen Remigius, eines Bischofs von Tours.«
»Ein Heiliger?« Auch das noch! »Dann ist es Ketzerei. In England gibt es keine Heiligen mehr.«
»Zurzeit sind sie ein wenig aus der Mode. Wie wahr. Nun, betrachte es als Aufforderung, sich zur rechten Zeit auf die richtige Seite zu schlagen und sich mit dem zu verbünden, was sich nicht besiegen lässt. Damit ist Lord Dudley bislang gut vorangekommen, glaubst du nicht auch?«
»Ich kann mir dieses Kauderwelsch unmöglich merken.« Und erst recht nicht aufschreiben. Latein brauchte es nicht, um Schafslisten zu führen.
»Mögliche Verfolger könnten den Satz wohl kaum enträtseln, du Erbshirn! Darum geht es doch«, stöhnte Nat. Er entriss ihm Täfelchen und Griffel und reichte beides in den Käfig.
Master Enoch ritzte flink die lateinische Botschaft ins Wachs. Also ist er ein ehemaliger Mönch und kein Prophet, dachte der Page grimmig. Wie so viele seiner Landsleute wusste er nicht, wer recht hatte im Streit um Bibel oder Messbuch oder darüber, ob Wein und Brot beim Abendmahl zum Leib Christi wurden, aber belesene und schreibende Mönche, die waren jedem vernünftigen Engländer ein Gräuel. Mit so einem – diesem deutschen Lothar oder wie der hieß, dessen Name nun ganz Europa buchstabierte – hatte das Gezänk um die Religion ja überhaupt erst begonnen.
Früher, als der Glaube noch in den Stein der Kirchen gemeißelt war und nicht in dürre Buchstaben gepresst, war alles einfacher gewesen. Man hatte eine hübsche gemalte oder geschnitzte Figur gesehen und sich bekreuzigt. Aber nun disputierte die halbe Welt. Am Ende käme es noch so weit, dass die ganze Welt Bücher lesen müsste, um irgendwas zu glauben. Reine Zeitverschwendung.
Nat reichte ihm die Wachstafel. »Wenn einer das klauen will, kratz den Satz am besten weg! Friss das Ding zur Not. Kapiert?«
Hastig steckte der Page die Tafel in sein Wams, murmelte ein Danke und lief in den Torbogen. Ein Krächzen über seinem Kopf ließ ihn zusammenfahren: »Kehr um oder küss den Henker, Leckarsch! Leckarsch.«
Verflixter Papagei! Im Narrenkäfig johlte es. Der Page gab Fersengeld.