Читать книгу Angelus Clamor - Marisa Moreno - Страница 12
Kapitel 8
ОглавлениеIn der Hütte herrschte für einige Momente vollkommene Totenstille, ehe Rayna sich fing und das Wort ergriff. »Das war eine von Shepards Pistolen«, stammelte sie mühsam. »Sie hat uns erzählt, dass sie welche besitzt. Für den Fall eines Angriffs.«
»A-Aber niemand weiß, wo sie das Zeug versteckt!«, japste Spencer, die bei dem lauten Knall aufgesprungen war und mit völlig verheulten Augen entsetzt zu ihrer Freundin blickte.
Rayna war ganz bleich im Gesicht und mit bebender Hand wollte sie die Tür öffnen, aber Evan hielt sie zurück und hielt ihr Handgelenk im letzten Moment fest. Er spürte, dass sie zitterte. »Ich sehe nach, wenn du willst. Es wird schon niemandem was passiert sein«, sagte er und blickte ihr fest in die Augen, damit sie ihm vertraute. Auch ihn schüttelte es. So einen Knall hatte er noch nie gehört und wenn wirklich jemandem etwas passiert war, wollte er nicht, dass sie zuerst hinausging.
»Okay«, gab sie nach einem Moment des Innehaltens zurück und er löste den Griff um ihr Handgelenk. Die Angst, dass Aidan Will etwas getan haben könnte, sah man ihr deutlich an und diese Angst verspürte auch Evan, der nur sehr vorsichtig die Tür öffnete und seinen Kopf hinausstreckte. Als erstes sah er das Blut, dann sah er, von wem es kam und seine Atmung schien ihn im Stich zu lassen. Will lag auf dem Boden, aus seiner Schulter sickerte Blut, das asiatische Mädchen rannte erschrocken zu ihrem Zelt, während alle anderen Anwesenden, bei denen es sich um Violets Freund Julian, seinen Bruder Jonah und Deryck handelte, um Will herumwuselten und irgendwie versuchten, ihm zu helfen. Einzig und allein Aidan stand wie versteinert da. In seiner Hand eine Pistole.
Evan konnte das nicht glauben. Die Szene vor seinen Augen schien wie aus einem schlechten Horrorfilm entsprungen. Er konnte unmöglich wieder reingehen und Rayna sagen, was—
»Will!«, kreischte sie in diesem Moment und stürmte hinter ihm aus der Tür auf ihn zu; Spencer und Violet sofort hinterher.
»Oh mein Gott! Oh mein Gott! Was zum—«, stammelte Spencer und wollte auf Aidan losgehen, ehe Evan sie zurückzog. »Hör auf, hör auf. Er hat eine Waffe und ist verdammt wütend, wie es aussieht«, redete er auf sie ein und sie starrte ihn aus riesigen roten Augen hilflos an.
Die Asiatin kam gerade zurückgeeilt. »Will, alles wird gut! Ich hab einen Krankenwagen gerufen!«, rief sie.
Will stöhnte laut auf und Rayna legte seinen Kopf in ihren Schoß.
Und Aidan ließ mit zitternder Hand die Waffe fallen und rannte davon, an dem See vorbei. Spencer rief nach ihm, machte aber nicht den Fehler, ihm zu folgen.
Jetzt lief Evan, der sich aus seiner Starre löste, auch zu den anderen und kniete sich neben Julian, der seine Hände auf Wills Wunde presste. Will war bei Bewusstsein, aber sein Gesicht war käsig, über seine Haut legte sich ein feuchter Schweißfilm. Rayna weinte wie verrückt und strich ihm das blonde Haar aus der Stirn. Selbst jetzt könnte er als Prinz aus einem Märchenbuch durchgehen.
Evan schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. »Was genau ist passiert?«.
»Es war…ein Unfall«, versuchte Will geschwächt hervorzubringen, gefolgt von einem entsetzten Schmerzensschrei.
»E-Ein Unfall? Aber Aidan war das, er hatte die Pistole. Wie kann das ein Unfall gewesen sein!?«, fragte Rayna außer sich.
»Deryck, was hast du gesehen?«, wandte Evan sich an ihn.
»Es—«
Mary-Alice Shepard unterbrach ihn noch im selben Moment. »Was um alles in der Welt geht hier vor?«, rief sie und starrte auf den am Boden liegenden Will, dann in das Gesicht eines jeden Anwesenden.
»Aidan ist ausgetickt, Mrs Shepard! Ein Krankenwagen ist unterwegs«, erwiderte das asiatische Mädchen, an dessen Namen sich Evan endlich erinnerte: Lien.
»In Teufels Namen, seid ihr denn verrückt geworden!?« Sie schritt um das Szenario herum und erblickte schließlich die Waffe, die Aidan eben hatte fallenlassen.
»Schusswunden, meine Liebe, werden der Polizei gemeldet und wenn sie auf der Waffe Aidans Fingerabdrücke finden, werden sie bemerken, dass der Junge, der vor zwei Jahren an seiner Schule wie ein Besessener Amok gelaufen ist, gar nicht so tot ist, wie das Teufelswerk es alle Beteiligten glauben lässt! Dann fliegen wir auf, dann werden sie erfahren, was wir tun wollen und der Teufel wird es auch wissen.« Sie seufzte laut und bis auf Wills schmerzerfülltes Wimmern war es vollkommen still auf der Lichtung.
Er war Amok gelaufen … Das hatte Aidan also getan. Evan konnte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich das sein musste. Er kam kaum damit klar, dass er für den Tod seiner Freunde verantwortlich war und Gott weiß, wie vielen Menschen Aidan das Leben genommen und was die Besessenheit bei ihm ausgelöst hatte.
»Es tut mir leid! Es tut mir leid, Mrs Shepard! Aber was hätte ich denn tun sollen!? Will verblutet, wenn er keine Hilfe kriegt!«, erklärte Lien nun den Tränen nahe.
»Sei jetzt still. Ich verfüge über Heilkräuter. Ich werde ihn am Leben halten. Wir brauchen einen Plan, wie wir den Krankenwagen umgehen. Dringend. Sonst seid ihr alle geliefert und sie werden herausfinden, wer ihr seid und entweder erkennen, dass eure komplette Identität aus allen Datenbanken gelöscht ist oder erkennen, dass ihr gar nicht so tot seid, wie ihr es dank eurer Taten eigentlich sein solltet.«
Lien schluckte schwer. Mrs Shepard sah nur sie mit ihrem stählernen Blick an. Sie war verantwortlich dafür, dass ein Krankenwagen unterwegs war, also sollte sie anscheinend auch eine Lösung dafür finden, wie man das Problem umging. Doch gleichzeitig stand es um Will immer schlechter. Ein weiterer Blutschwall ergoss sich aus seiner Schulter auf das hellblaue Hemd, als Julian für einen Moment aufhörte, darauf zu pressen. Rayna riss das Hemd auf und zog es ihm über den Arm, wobei Will entsetzt aufschrie. Dann knüllte sie es zusammen und presste es so fest sie konnte auf seine Schulter, um irgendwie die Blutung zu stoppen.
»Mrs Shepard, bei allem Respekt, bitte helfen Sie ihm, sonst wird er sterben«, sagte sie mit bebender Stimme.
»Was, wenn ich mit ihnen rede? Es gibt nur eine Straße, die zu diesem Platz hier führt. Ich wette, die Sanitäter werden Schwierigkeiten haben, ihn zu finden. Ich werde sie aufhalten«, meldete sich eine Stimme zu Wort, von der Evan bisher nicht viel gehört hatte. Es war Jonah King, von dem er bislang nur wusste, dass er Julians Bruder war. Er sah noch sehr jung aus, jedenfalls jünger als er selbst. Vielleicht um die fünfzehn, dachte Evan.
»Du hast einen Plan, Jonah?«, erkundigte sich die Alte und der Junge nickte. Sein Gesicht war durch seine stark ausgeprägte Akne entstellt, aber seine Augen funkelten entschlossen. »Ich habe als Einziger von uns nicht die Besessenheit durchlebt, meine Eltern denken, ich bin ein pubertierender Ausreißer, aber sie denken nicht, dass ich tot bin oder sonst irgendwas. Für die Welt existiere ich nach wie vor. Also wenn sie mich sehen, dann … dann werden sie keine Fragen stellen.«
Er hatte die Besessenheit nicht durchlebt…Aber dennoch eine schreckliche Tat begangen?
»Moment, was hast du vor?«, fragte Julian plötzlich besorgt und packte seinen jüngeren Bruder mit blutbeschmierten Händen an der Schulter.
»Was … Jonah, nein«, meldete sich Deryck zu Wort und etwas, das Evan nicht definieren konnte, flackerte in seinen Augen auf.
»Ich tue es für das Camp. Ich komme ja zurück. Versteckt die Waffe gut, falls sie doch noch herkommen.«
Mrs Shepard runzelte interessiert die Stirn und Jonah riss sich von Julian los, nahm die Waffe und schoss sich ohne auch nur einen Moment mit der Wimper zu zucken oder zu zögern in die Schulter. Er heulte kurz auf, aber biss die Zähne zusammen.
In Evans Ohren dröhnte der Knall und ihm wurde für eine Sekunde schwindlig. Er konnte nicht fassen, was er gerade gesehen hatte.
»Jo! Nein!«, schrie Julian verblüfft und Deryck unterdrückte einen Aufschrei.
»Ich komme zurück, Leute, aber erst werde ich euch schützen.«
»Jonah, bitte, tu das nicht«, raunte Deryck ihm durch zusammengebissene Zähne zu, aber Jonah lächelte ihn bloß entschuldigend an und rannte über die Lichtung zur Straße und entfernte sich immer weiter vom Camp. Evan konnte einfach nicht fassen, was gerade passiert war. Der Junge war doch verrückt … So etwas zu tun … Sich selbst zu verletzen … Aber Evan konnte darüber jetzt nicht nachdenken, denn Julian wollte seinem Bruder sofort hinterher stürmen, während Violet ihn verzweifelt an der Hand festhielt. »Jules, bitte nicht!«
»Dein Bruder tut etwas sehr Tapferes für das Wohl des Camps und sollte er seinen Plan durchsetzen können, dann hat er uns gerettet. Und jetzt tragt William in meine Hütte, los, ehe er uns hier wegstirbt. Wir brauchen ihn«, befahl Shepard mit eisernem Blick und monotoner Stimme und ging mit langsamen Schritten zurück zu ihrer Hütte. Es dauerte einige Sekunden, bis alle Anwesenden ihre Stimmen wiedergefunden hatten.
»Okay, Leute«, sprach Deryck, der sich zusammenriss. »Helft mir, ihn hochzuheben. Evan, nimm seine Beine.« Will war mittlerweile bewusstlos und Rayna küsste ihn auf die Stirn und entfernte sich dann von ihm; ihre Hände waren von seinem Blut bedeckt.
Julian, der sich noch immer nicht beruhigt hatte, nahm derweil die Waffe an sich und verschwand damit von Violet gefolgt Richtung See, um sie dort zu versenken.
Deryck und Evan hoben Will hoch, wobei er wieder für ein paar Sekunden erwachte und einen erstickten Laut von sich gab. Rayna sah verzweifelt dabei zu, wie die beiden ihren Freund davontrugen und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Spencer umarmte sie tröstend, konnte aber nicht die richtigen Worte finden, um ihr gut zuzureden, weil sie selbst zu verstört von den Ereignissen war.
»Mrs Shepard!«, rief Evan der Alten hinterher, die bereits in die Hütte eingetreten war. Sie folgten ihr.
»Legt ihn hier hin«, befahl Shepard, die eine Decke auf dem Boden ausbreitete. Evan und Deryck taten, wie ihnen geheißen.
Will stöhnte auf und seine Lider flackerten wie eine unruhige Flamme.
»Einer von euch geht jetzt und holt mir Violet. Schnell.«
»Violet? Wieso—«, setzte Deryck an, aber Mrs Shepard warf ihm einen warnenden Blick zu, der ihm bedeutete zu schweigen und zu gehorchen. Er sprang also auf und rannte aus der Hütte.
»Gut, Evan, weißt du, ob es ein Durchschuss war?«
»Was?«, fragte Evan benommen. »Achso, e-ein Durchschuss? Ich weiß nicht, ich war nicht dabei, keine Ahnung, ich—«
Shepard begutachtete Wills Wunde. »Okay, die Kugel steckt noch drin, verdammter Mist. Wir müssen sie rausholen, dann können wir ihn verarzten. Sonst wird sich die Wunde infizieren.«
Evan eilte zu der Alten und hockte sich neben sie. Mrs Shepard stand auf und nahm aus einer Schublade einige silberne Werkzeuge: Skalpelle, Zangen und solches Zeug.
»Mrs Shepard? Wofür brauchen Sie mich?«, erkundigte sich die aufgewühlte Violet, die gerade gemeinsam mit Deryck in die Hütte stürmte.
»Du hilfst mir jetzt beim Mischen. Evan, beug ihn bitte vor, ich muss da jetzt mit der Zange rein. William, das wird wehtun.« Mrs Shepard zückte die Zange und Evan hob Wills muskulösen Oberkörper an, wobei der Ärmste vor Qualen aufschrie.
»Mischen? Was soll ich mischen?«, wollte Violet wissen.
»Ich habe dir vor einigen Wochen erklärt, wie man die Kräuter so mischt, dass sie eine heilende Wirkung haben. Deryck, geh und hilf ihr.«
Violet war für einige Sekunden unglaublich überfordert, aber dann fing sie sich auf der Stelle wieder, kehrte in sich und erklärte Deryck, welche Kräuter er ihr aus Shepards Regal anzugeben hatte.
Derweil hielt Evan nach wie vor Wills Oberkörper nach vorne gebeugt und Mrs Shepard, aus deren sorgfältig hochgesteckter Frisur sich nun einige ergraute Strähnen lösten, zückte die silbern funkelnde Zange und stieß sie mit einem Ruck in die geschwollene Eintrittsstelle an Wills Schulter.
Der darauffolgende Schrei bereitete eine ungeheuerliche Gänsehaut und Evan wollte sich am liebsten die Ohren zuhalten.
»Stopp! Stoooopp!«, heulte Will verzweifelt und schlug mit der Faust auf den Boden.
»Er darf sich nicht bewegen, sonst mache ich noch einen Fehler und er verblutet hier auf der Stelle. Halte ihn fest, Evan.«
Evan tat, was sie ihm sagte, doch Will war stark und er musste seine Faust mit aller Kraft zu Boden drücken.
»Wo ist Rayna? Raynaaa!«, schrie Will und Tränen strömten über sein makelloses Gesicht; das blonde Haar war feucht vom Schweiß in seinem Nacken und auf seiner Stirn.
»Sie ist nicht hier, Will, aber sie … sie macht sich große Sorgen um dich. I-Ihr geht es gut«, sagte Evan, um Will von seinen Schmerzen abzulenken. Shepard pulte nach wie vor mit der chirurgischen Zange in seiner Wunde herum.
»Ich will sie sehen, Evan, bring sie her!«
»Nein, Will, es ist besser, wenn sie nicht hier ist.«
»Ich werde sterben, oder? Und ich will ihr noch so viel sagen!«
»Will, hey, sag ihr das, wenn du wieder in Ordnung bist, klar?«
Er türmte sich voller Qualen auf und dann: »Ich hab sie.« Mrs Shepard zog die Zange aus der Wunde und mit ihr die Kugel.
»Deryck, zieh dein Shirt aus, komm her und press es auf die Wunde«, befahl sie ihm und er tat es, drückte das weiße Shirt, das sich sofort rot färbte, gegen Wills Schulter. Er schwankte zwischen Bewusstsein und erlösender Ohnmacht.
»Violet, bist du fertig?«, fragte Shepard und Violet eilte mit einer herangemischten grünen Masse herbei.
»Ich glaube schon, ich bin nicht sicher, ich—«
Shepard entriss ihr die Schüssel, Deryck entfernte sein Shirt und die Alte schmierte Wills Schulter mit der Masse ein. Es war unglaublich: Es hörte sofort auf zu bluten und Wills verkrampfter Körper entspannte sich langsam.
»Siehst du, Will, alles wird gut«, sagte Evan und ließ ihn los, damit er sich hinlegen konnte.
»Wird er wieder?«, wollte Violet wissen und Shepard nickte, während Evan sich außer Atem die Stirn hielt.
»William Aldrin hat ein starkes Herz.«
Währenddessen ging Jonah gerade die Straße hinunter, als er bereits die Sirenen des Krankenwagens hören konnte. Seine Tat war unglaublich heldenhaft gewesen, redete er sich stets ein. Ganz Unrecht damit hatte er natürlich nicht, aber der Schmerz, der in seiner Schulter tobte wie ein Sturm, ließ ihn auch ein wenig zweifeln. Er konnte sich gar nicht vorstellen, was Deryck wohl gerade dachte. Ob er Will half? Will war ein außerordentlich schöner Mann. Und er war älter als er. Garantiert hatte Ryck längst Gefallen an ihm gefunden. Aber er war schließlich mit Rayna zusammen. Wenn Jonah es könnte, würde er Deryck für immer an sich binden. Er war der erste und wahrscheinlich auch für immer der einzige Junge, der seine Gefühle erwidern konnte.
Vor Jonahs Augen waberte es bereits, als der Krankenwagen um die Ecke bog und Jonah ließ sich auf die Knie fallen. Das war endlich seine Chance, um auch etwas zu bedeuten. Er hatte die Besessenheit nicht durchlebt, das bedeutete, dass er seine Tat freiwillig begangen hatte. Julian war betroffen gewesen. Er wollte immer schon sein wie sein älterer Bruder und als der dann plötzlich ins Camp kam und ihn verlassen hatte, da war seine Welt vollkommen erschüttert worden. Jetzt würde er den Helden spielen und dann zurückkehren und von Jules und Ryck gefeiert werden.
Seine Schulter jagte einen stechenden Schmerz durch Jonahs Körper. Er hatte großes Glück, dass es nicht allzu stark blutete und keine Blutspur hinterließ. Seine Hand, die er darauf gepresst hatte, war allerdings blutbeschmiert.
Der Krankenwagen hielt an und die Sanitäter stürmten auf ihn zu. Jonah stellte sich bewusstlos, er wurde auf eine Trage gelegt und mitgenommen.
»Junge, hörst du mich?«, fragte einer der Männer, doch er beschloss, fürs Erste nicht zu antworten.
Die Nacht hatte sich bereits über das Angelus Clamor gelegt und alle waren in ihren Hütten oder Zelten und waren nach den Ereignissen des Tages etwas zur Ruhe gekommen.
Will ging es gut, er schlief schon seit einigen Stunden tief und fest. Rayna war lange bei ihm gewesen.
Lien, die sich bewusst war, was sie heute für einen Fehler gemacht hatte, indem sie den Krankenwagen gerufen hatte, lag wach in ihrem Zelt und grübelte darüber nach, wie sie Shepard genügend beeindrucken konnte, damit sie wieder ausreichend Ansehen bei der Anführerin besaß.
Deryck bekam ebenfalls kein Auge zu. Es war merkwürdig, dass Aidan nicht bei ihm in der Hütte war, aber Jonahs Abwesenheit spürte er am meisten.
Violet musste Spencer trösten, die kaum damit fertig wurde und sich – so wie sie eben war – einredete, dass sie die Verantwortung für die heutigen Ereignisse trug. Dass Aidan einfach abgehauen war, half ihr da auch nicht weiter, sondern ängstigte sie nur noch mehr.
Julian war ebenfalls schrecklich in Sorge um Jonah und auch Evan war hellwach. Er lag in dem Zelt, das er sich eigentlich mit Will teilte, der wegen seiner Verletzung jedoch bei Shepard in der Hütte lag. Evan sah sich gerade einige von Wills Zeichnungen an. Sie waren wirklich unglaublich gut. Auf den meisten war Rayna zu sehen: Rayna auf einer Blumenwiese, Rayna im Regen, Rayna mit Engelsschwingen … Wenn er sich diese Zeichnungen so ansah, fehlte ihm sein eigenes Hobby: Die Fotografie. Es war jedoch erstaunlich, wie gut er damit klarkam, hier zu sein, wenn man bedachte, dass—
»Evan?«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme und er fuhr erschrocken zusammen. Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag und er legte hastig die Zeichnungen beiseite, als hätte er etwas Verbotenes dabei getan, sie anzusehen. Doch das war nicht der Grund, aus dem sein Herz jetzt raste. Nein. Das konnte nicht sein. Shepard hatte den Dämon vertrieben. Ein langer Schatten türmte sich vor dem Zelt auf und dann kam jemand herein. Evan riss die Augen angstgeweitet auf, bereit, um sich mit Kaya auch dieses Mal auseinanderzusetzen. Aber die Frau, die eintrat, war nicht sie. Es war Rayna.
»Oh mein Gott«, keuchte er und atmete voller Erleichterung aus. Für einen Moment war er wieder gefangen gewesen in seinen Erinnerungen und dem eigentlichen Grund, der ihn hergeführt hatte. »Rayna, ich dachte, du—Ach, nicht so wichtig. Was … Was machst du denn hier?«
Sie setzte sich neben ihn, auf Wills Schlafsack und blickte Evan mit ihren großen dunklen Augen an, in denen er jetzt nur Erschöpfung erkannte.
»Ist alles in Ordnung?«, hakte er nach und setzte sich aufrecht.
Sie sah ihn an, nach dem Motto Als ob die Antwort nicht offensichtlich wäre. »Ich wollte nicht allein sein«, sagte sie schließlich im Flüsterton, als könne sie sonst einen Schlafenden wecken.
»Was ist denn mit Violet und Spencer?«
»Spence weint durchgehend und Violet ist so gut es geht für sie da. Ich …Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hab, herzukommen. Vielleicht wollte ich einfach in Wills Zelt sein, verstehst du?«
Er versuchte, sie so glaubhaft es ging, anzulächeln und nickte. »Ich bin erst zwei Tage hier und schon war so viel los. Echt unglaublich, dass wir heute noch laufen waren. Kommt mir vor, als wär das eine Ewigkeit her.«
»Ja, mir auch …« Rayna blickte ins Leere und Evan legte sich hin, zog sich die Decke bis ans Kinn und fragte sich, wieso er eigentlich keine Angst hatte. »Bist du gar nicht müde?«, wollte er wissen und Rayna schüttelte den Kopf, legte sich aber ebenfalls hin und deckte sich mit Wills Decke zu, deren Geruch sie in sich aufnahm.
»Ich muss die ganze Zeit an das mit Will denken. Wenn er wieder in der Verfassung ist, zu reden, dann will ich wissen, was Aidan getan hat. Und wenn er absichtlich auf ihn geschossen hat und ich ihn je wiedersehe…«
»Was war das da heute eigentlich … mit ihm und Spencer?«
Rayna seufzte und drehte sich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. »Die beiden sind schon eine Weile zusammen gewesen, bevor sie ins Camp kamen, aber sie streiten sich, seit ich sie kenne, ständig und Aidan ist … Er hat sich unmöglich ihr gegenüber verhalten.«
»Glaubst du, er kommt wieder?«
»Ja … Er hat ja nicht mal seine Sachen mitgenommen und wird diese Nacht wahrscheinlich ganz schön frieren. Also ich denke, wenn er nicht wiederkommt, um Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, dann wenigstens, um seine Sachen zu holen.«
»Ja, vielleicht …«
»Ist es okay, wenn ich heute Nacht hier im Zelt bleibe?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
»Ja, klar, wenn du dich dann besser fühlst.«
Sie lächelte dankbar und nahm erneut den Geruch von Wills Decke in sich auf.
Evans Blick fiel auf ihre Tätowierung am Handgelenk und da musste er erneut an die Situation im See, das Vertreiben der Besessenheit und an seine Ängste denken … Sie war eine seiner Ängste gewesen. Frauen zählten zu seinen Ängsten. Das war so unglaublich erniedrigend.
»Das alles hier muss so viel für dich auf einmal sein…Du bist bestimmt unglaublich froh, dass du die Besessenheit endlich los bist«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Evan nickte. »Ja, sehr. Es ist so verrückt, wie sich heute meine komplette Sicht auf die Dinge verändert hat. Ich denke wirklich, dass ich … dass ich glauben kann, dass es einen Teufel gibt. Einen Verantwortlichen für unsere Taten.«
»Ich lüge dich nicht an. Ich hab dir die Wahrheit gesagt. Der Teufel hat das Artefakt und dadurch hat er viel zu viel Macht.«
»Aber was, wenn nicht wir uns darum kümmern müssten, sondern dieser Engel, von dem du gesprochen hast? Wenn es den wirklich gibt, wieso tut er dann nichts?«
»Ja, ich habe oft über ihn nachgedacht. Aber vielleicht weiß er ja gar nicht, wer er ist.«
Evan musste an die Zeichnung von Rayna mit den Engelsschwingen denken. »Und woher weißt du dann, dass du es nicht bist?«
Rayna verengte ihre Augen zu Schlitzen und drehte sich auf den Rücken. »Ich bin kein Engel.«
Evan sah sie einen Moment länger an, als er es vielleicht sollte und wandte dann ruckartig den Blick ab.
Eine Weile lagen sie so da, starrten an die Decke des Zeltes und lauschten dem leisen Säuseln des Windes. Was alles geschehen war, seit Violet ihn geholt hatte, war einfach unfassbar …
»Gute Nacht, Evan«, sagte Rayna schließlich nach einer Weile und drehte sich auf die Seite, um ihn wieder ansehen zu können.
Evan mochte sie, das wusste er jetzt mit Sicherheit. Er würde ihr vertrauen, auch wenn das gegen jegliche Vernunft sprach. »Gute Nacht«, sagte er und schloss die Augen.