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Kapitel 3

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Evan kauerte zusammengerollt wie ein Embryo vor seinem Koffer. Er hielt die Waffe noch immer fest umklammert, starrte auf irgendeinen unbestimmten Punkt und wippte apathisch vor und zurück, als das Klingeln seines Handys ihn zusammenfahren ließ. Das Geräusch fuhr wie ein Schwerthieb durch die stille Wohnung, die sonst bloß von seinem Wimmern erfüllt war.

Das war bestimmt Violet, die sich Sorgen wegen seines merkwürdigen Anrufs machte. Was für eine dumme Idee das gewesen war, sie anzurufen. Das Handy klingelte immer noch.

»Evan, geh an dein scheiß Handy!«, ertönte Micks Stimme. Dieser faule Idiot.

Erschöpft, mit verquollenen Augen und steifen Gliedern, rappelte Evan sich schließlich auf und griff nach dem Smartphone, ohne nachzusehen, wer anrief.

»Hallo?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Randall! Wolltest anrufen, wenn du wieder da bist. Ich fang direkt an, wenn ich wieder in Sweet Brighton bin. War Teil der Vereinbarung. Schwing deinen Hintern oder du hast ‘nen Ausbildungsplatz gehabt!«

»Oh Scheiße«, stöhnte Evan. Das war Mr Danburry. Sein Chef!

»I-Ich weiß, Mr Danburry. Ich bin morgen sofort da, okay? I-Ich fühl mich heute nicht besonders und ich würde mir für heute gern frei nehmen. Magendarmgrippe.«

Stille. Mr Danburry brummte widerwillig. »Schön, Grünschnabel. Weil ich dich leiden kann. Morgen bist du da oder ich stell doch die Alte mit Mundgeruch ein. Scheiß auf deine Scheißerei.«

»Ich werde da sein. Versprochen.«

Mr Danburry legte auf.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Evan und trat wutschnaubend gegen das Tischbein. Bei allem, was los war, hatte er tatsächlich vergessen, seinen Chef anzurufen und das Einzige schweifen lassen, an dem ihm wirklich etwas lag. Allerdings zweifelte er jetzt gerade daran, ob er je wieder fotografieren würde. Eigentlich gehörte er ins Gefängnis.

Er hielt inne. Es erschütterte ihn, wie trocken er diesen Gedanken gefasst hatte. Aber es stimmte ja. Evan warf einen Blick auf die Pistole. Er gehörte ins Gefängnis.


Evan hatte den Koffer wieder eingeräumt – inklusive der Waffe. Wie auch immer es möglich war, dass er das Ding durch die Flughafenkontrollen bekommen hatte: Er wollte an all das keinen einzigen Gedanken mehr verschwenden. Es machte ihn vollkommen krank. Und wenn er es schaffen würde, es einfach zu ignorieren, würde er es vielleicht irgendwann vergessen können, um normal weiterzumachen. Niemand außer ihm schien zu wissen, was geschehen war. Niemand wusste von der Waffe. Es war unmöglich, aber es musste so sein, denn sonst säße er jetzt wirklich hinter Gittern.

Nicht daran zu denken, gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht – vor allem, wenn man ausgefragt wurde. Mick war das alles scheinbar scheißegal, aber gegen Abend klingelte es an der Tür und es war Violet, die sich nach seinem Anruf wohl schreckliche Sorgen gemacht hatte.

Evan räusperte sich unbehaglich. »Oh, hi! Was gibt’s?«, fragte er und tat, als wüsste er nicht, wieso sie hier aufkreuzte. Natürlich klang er völlig aufgesetzt. Am liebsten hätte er sie ja auch wieder weg geschickt, aber stattdessen ließ er sie herein.

Sie sah ihn aufgebracht an. »Das weißt du nicht!? Dein Anruf hat mich ganz verrückt gemacht. Ich mein – wir kennen uns nicht und so, aber du hast geklungen, als wenn du jeden Moment stirbst!«

Er sah sie mit gerunzelter Stirn an und dann musste sie lachen. »Okay, sorry. Ich reagier wahrscheinlich echt etwas über, was?«

Irgendwie tat sie ihm leid. Aber er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. »Ich hatte mich nur verschluckt und dann hat Mick mich gerufen. Tut mir leid, dass ich einfach so aufgelegt hab.«

»Ja, schon in Ordnung. Ich komm mir nur echt dämlich vor, weil ich für einen Typen, den ich nicht kenne, hierher gefahren bin, nur um mich zu erkundigen, wieso er sich verschluckt hat.« Sie lachte ihr nervöses, unsicheres Lachen.

Sie schwiegen einen Moment.

»Willst du Kaffee oder so? Tee?«

»Ähm, ja gern. Kaffee.«

Er hatte eigentlich inständig gehofft, dass sie nein sagen und wieder verschwinden würde. Er wollte nicht mit ihr sprechen, sondern allein sein. Das war auch das Gute an Mick: Eigentlich lag er nur den ganzen Tag rum und tat … naja – nichts. Und er sprach auch nicht wirklich viel, stellte keine Fragen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war er Evans bester Kumpel.

»Milch? Zucker?«

»Milch. Danke.« Violet setzte sich und Evan betätigte die Kaffeemaschine. »Du…bist also aus Chicago?«, fragte er der Höflichkeit halber und damit keine unangenehme Stille entstand.

Sie nickte. »Stimmt. Ich bin mit fünfzehn hergezogen.«

»Und du bist jetzt…?«

»Ich bin vor ‘nem Monat achtzehn geworden.«

»Das heißt, du bist mit der Schule fertig?«

Sie lachte.

»Was?«

»Hab die Schule abgebrochen.«

Evan stellte ihr den Kaffee und sich selbst Tee auf den Tisch und setzte sich.

»Wo ist dein Mitbewohner? Mick, richtig?«

Evan trank einen Schluck aus seiner Tasse und nickte. »Er ist’n echter Faulpelz. Liegt den ganzen Tag rum.«

»Und du schmeißt dann den Haushalt?«

»Tja, so sieht’s aus.«

»Hör mal, ich muss dich mal was fragen.«

Er runzelte die Stirn, war so weit weg von all den grässlichen Erinnerungen, dass er hoffte, sie würde den Moment nicht zerstören. Doch das tat sie.

»Hast du gestern zu viel getrunken, oder was war los? Ich hab dich auf’s Klo rennen sehen. Du sahst echt nicht gut aus.«

Evan holte tief Luft und atmete angestrengt aus. »Ich trinke keinen Alkohol. Das liegt momentan alles wohl am Jetlag.«

»Oh, okay. Und du trinkst nicht? Ich meine - nie?«

»Ja, ich … ich halte da einfach nichts von. Vielleicht klingt das spießig, aber … ich seh da für mich einfach keinen Sinn drin. Pass auf, was du in deinen Körper einlädst – das hat meine Mum immer zu mir gesagt. Ich glaub, das ist hängen geblieben.«

»Das klingt nicht spießig. Ich mag die Einstellung. Noch irgendwas, worauf du verzichtest, außer dem Alkohol?«

»Naja, ich bin kein großer Kaffeetrinker und … außerdem Vegetarier.«

»Oh man, das bewundere ich. Ich hab das auch mal versucht, aber nie durchziehen können. Wie lange bist du’s schon?«

»Seit ich neun oder zehn bin. Als ich erfahren habe, was das ist, das meine Eltern mir da hingestellt haben, hab ich angefangen, zu weinen und mich geweigert, je wieder Tier zu essen.«

»Ist ja echt süß. Hey, kann ich mal die Toilette benutzen?«

»Klar. Du weißt ja, wo sie ist.«

Violet stand auf und verschwand hinter der Tür, wo sie ihr Handy hervornahm und die gleiche Nummer wie am Abend zuvor wählte. »Hey, ich bin’s. Er ist einer von uns und ich kann nicht mehr lang mit seiner Rekrutierung warten. Im Ernst. Außerdem ist sein Potential…beinahe schon gruselig. Hören Sie, wenn ich ich ihn heute nicht hole, gebe ich ihm höchstens noch zwei Tage, bis es nicht mehr er ist, der aus ihm spricht…Okay…Ja…Ich hol mir die Ausrüstung nachher noch ab. Genau. Bis später.«


Evan tippte nervös gegen seine Tasse. Sein Blick ging dabei immer wieder zu seinem Koffer, der neben der Tür stand. Unglaublich, aber für die kurzen Momente, in denen er mit Violet gesprochen hatte, hatte er verdrängen können, was geschehen war.

Er nippte am Tee. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Irgendwas war schrecklich falsch mit ihm und er hatte Angst. Angst, die ihm die Kehle zuschnürte, Angst, die— Er war ganz in Gedanken versunken, als Violet mit dem Handy am Ohr zurückkam. »Okay, Mum. Bis dann«, sagte sie und legte auf.

»Oh. War das deine Mutter?«

Violet nickte. »Sie hat gerade angerufen und will, dass ich vorbeikomme.«

Evan spürte einen Anflug von Erleichterung. Wenn sie weg war, konnte er sich wieder seinem Wahnsinn widmen, ohne seine Verzweiflung verstecken zu müssen. Außerdem hatte er sich in den Kopf gesetzt, tatsächlich noch einmal Stück für Stück das letzte Jahr durchzugehen, ehe er eine Entscheidung über seinen Wahnsinn traf. Vielleicht würde er sich stellen. Ja, auch das war eine Möglichkeit. Denn vollkommen verdrängen konnte er die Erinnerung niemals.

»Ist alles okay?«, erkundigte sich Evan, aber nicht, weil es ihn wirklich interessierte, sondern weil er nicht unhöflich sein wollte.

»Ähm … Ja, eigentlich schon. Sie ist ein bisschen schusselig. Sperrt sich ständig aus.«

Eine Nachricht ging ein. Violet nahm ihr Handy hervor: Wir brauchen ihn. Es ist alles vorbereitet. Du kriegst die volle Ausrüstung. Wir erwarten dich in einer halben Stunde. Sie schrieb zurück: Ich werde da sein.

»Das war sie«, sagte sie und lächelte Evan an. »Tut mir echt leid, dass ich schon weg muss. Wir können das ja mal … wiederholen?«

»Sicher«, antwortete Evan. »Wir sehen uns.«


Ein wenig später saß er mit dem Notizbuch, das er vor längerer Zeit von seiner Mum bekommen hatte, am Küchentisch. Als sie es ihm geschenkt hatte, hatte er noch nicht gewusst, dass er das Ding mal brauchen würde, um ein komplettes Jahr seines Lebens darin aufzulisten, um herauszufinden, wann er zum Mörder geworden war. Auf dem Cover war die Freiheitsstatue abgebildet. Wie ironisch.

Er schlug es auf. Wo sollte er beginnen? Bei seiner Anreise war noch alles in Ordnung gewesen. Als er in seine kleine Wohnung eingezogen war, war es ihm definitiv auch noch gut gegangen.

Wann hatte er Kaya und die anderen kennengelernt?

Und so verbrachte Evan die ganze restliche Zeit des Tages, kam aber zu keinem wirklichen Ergebnis. Das, woran er sich jetzt erinnerte, war hundertprozentig passiert. Aber wieso erinnerte er sich manchmal an dieselben Dinge, aber auf unterschiedliche Weise?

Morgen würde er definitiv zur Arbeit gehen und sich mit seinen Eltern treffen. Egal, wie schlecht es ihm ging.

Zum Glück traten die Kopfschmerzen an diesem Tag kein weiteres Mal auf und so legte er sich in sein Bett, schaltete das Licht ab und trieb augenblicklich im Schlaf davon.


Mick schnarchte. Und das nicht gerade leise. Als Evan dumpf ein hämmerndes Geräusch wahrnahm, während er schlief, drehte er sich einfach herum und zog sich das Kissen über den Kopf. Aber das Hämmern wurde immer lauter. Er stöhnte genervt auf. Hatte er den Schlaf doch so dringend nötig, nach allem, was er durchgemacht hatte.

»Verdammt, Mick!«, raunte er und sprang entnervt auf, doch Micks Bett war leer. Evan stutzte. Das war mehr als ungewöhnlich.

»Mick!?«, rief Evan, als plötzlich das Fenster aufklappte. Der Wind zischte laut ins Zimmer, fuhr eiskalt über Evans nackte Arme, dass er eine Gänsehaut bekam. Erschrocken schloss er es sofort wieder, als das hämmernde Geräusch noch lauter als zuvor zurückkehrte.

»Mick!«, rief er erneut und öffnete vorsichtig die Tür des Zimmers, in dem sich die kühle Luft festgesetzt hatte. Sie knarrte laut und Evan hatte ein ungutes Gefühl. Denn wo war Mick? Er verließ sein Bett so gut wie nie und schon gar nicht nachts. Also, wo war sein Freund?

»Mick!?«, versuchte Evan es erneut, aber er wusste ohnehin, dass er keine Antwort kriegen würde. »Mick, scheiße, wo bist du?«, wisperte er und näherte sich der Tür, von der das hämmernde Geräusch auszugehen schien. Die WG war dunkel und still, ein kühler Luftzug wehte. Evan rieb sich über die Arme.

Das Ganze war faul. Da stimmte was nicht. So wie momentan gar nichts in seinem Leben stimmte. Die Wohnung gähnte ihm leer entgegen und schien sich über ihm aufzutürmen, als hätte sie ein eigenes Bewusstsein. Evan wusste es jetzt ganz genau: Da schlug jemand gegen die Tür, der unbedingt herein wollte. Zögernd schlich er auf sie zu. Der Luftzug wurde heftiger.

»Wer ist da!? Mick, bist du das?« Er wartete einen Moment ab.

»Evan, hilf mir!«, ertönte die durch und durch verängstigte Stimme seines Mitbewohners. So hatte er ihn noch nie gehört. »Mach die Tür auf, er ist hier! Ich bin verletzt, ich brauche Hilfe!«

Ohne zu zögern riss Evan seinen Koffer auf, schnappte sich die Pistole, entriegelte sie und öffnete die Tür. Er sog überrumpelt die Luft ein und wich zwei Schritte zurück. Es war nicht Mick, der da vor ihm stand. Es war ja nicht mal ein Mensch. Eine schwarze riesige Dogge mit gefletschten Zähnen und wilden Augen starrte ihn an; der Speichel triefte ihr bereits aus dem Mund. Er kannte dieses Tier. Woher? Aus seinen Träumen? Seinen Ängsten? Hatte er nicht so einen während der Wanderung gesehen? Damals, als er die Leiche gefunden hatte?

»Hilfe, Evan, hilf mir! Er hat mich! Er hat mich! Er benutzt mich!«, ertönte wieder Micks Stimme.

Der riesige Hund knurrte gefährlich und machte einen so rasanten Sprung vorwärts, dass Evan einen Schuss abfeuerte, doch – sie war nicht geladen. Die Waffe war nicht geladen.

»Verdammt!«, rief er und schmiss die Pistole beiseite, ehe er die Beine in die Hand nahm und rückwärts lief, bis er sich umdrehte und auf das Schlafzimmer zustürmte. Doch die Dogge war schnell. Sehr schnell.

Evan heulte grässlich auf, als das Fleisch an seiner Wade von den spitzen Zähnen des Hundes aufgerissen wurde und er zu Boden stürzte.

»Hilfe! H-Hilfe!«, kreischte Evan, als das Tier mit seinen schweren Pranken auf ihn sprang und ihn mit zornigen Augen anstierte. Er verschränkte die Arme vor seinem Gesicht, als der Hund zum nächsten Biss ansetzte und …urplötzlich zurückgepfiffen wurde.

Evan war sofort auf den Beinen und knickte leicht weg, als er sich auf das verletzte Bein stützen wollte. Es war sie, die ihn zurückgepfiffen hatte! Sie! Die Tote!

»Nein«, stieß er aus. »Sie sind tot! Sie sind tot! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!«

»Evan Patrick Randall«, ertönte dann eine weitere Stimme und als Evan herumwirbelte, stand dort sein Vater – sein Gesicht war bleich und um seinen Hals lag ein Strick. »Du bist so wertlos. Zu nichts im Stande. Sieh, was ich tun muss, weil du so eine Enttäuschung bist. Hör auf zu heulen, sonst wirst du eine Schande sein! Eine Schande für deine Art!«

Bei Evan flossen vereinzelte Tränen der Angst. Der Schmerz in seinem Bein war plötzlich vergessen. Und dann blutete er aus der Nase. Und wie er blutete. Und er spürte, wie sein Gesicht zu verfaulen begann, als wäre etwas unter seiner eigenen Haut, das sich an die Oberfläche kämpfen wollte.

»Hör jetzt auf zu heulen, Junge! Du hast eine Aufgabe!«, schrie sein Vater, der jetzt mit dem Strick um den Hals von der Decke baumelte.

»Dad, verzeih mir, es tut mir leid, ich wollte das alles nicht!«

»Jetzt sei ein Mann!«

Evan wandte sich ruckartig von seinem Vater ab. Doch da war die Tote, die ihn mit ihrem leeren Gebiss anstarrte. »Evan, hör mir zu. Das hier ist nicht real. Das ist in deinem Kopf. Er lässt es dich sehen, weil er von deiner Angst profitiert. Das hier bist nicht du!«, beschwor sie ihn.

»Ich weiß, dass das nicht real ist! Sie sind tot!«

»Du musst jetzt ganz stark sein. Du musst gegen den Dämon ankämpfen, dann muss ich dir nicht wehtun.«

»Mir wehtun!? Sie haben mein Leben zerstört, was erwarten Sie von mir!?«

Dann machte er einen Satz und trat der Frau die Beine weg, schmiss sich auf ihren knochigen Körper, beugte sich über sie und packte ihren verfaulten Hals.

»Lassen Sie mich endlich in Ruhe!«, brüllte er und drückte zu, überrascht von seiner eigenen rohen Gewalt, als er plötzlich zusammenfuhr und ein dumpfer Schlag seinen Hinterkopf traf.


Evan hatte für mehrere Augenblicke bloß Sterne gesehen, bis er wieder im Stande war, die Augen zu öffnen und erschrocken um sich trat.

Der Hund. Die Frau. Sein Vater.

Er schnappte nach Luft und war sofort auf den Beinen. Sie waren weg. Sie waren endlich weg. Er lag dort, wo er ohnmächtig geworden war, mitten in dem Raum, der zugleich Küche als auch Esszimmer war. Dumpf verspürte er den Schmerz an seinem Hinterkopf, aber dieser war jetzt vollkommen nebensächlich, denn die Wohnungstür stand sperrangelweit auf und neben ihm, da kniete Violet.

»Oh mein Gott!«, stieß er aus und sie stand auf und hob unschuldig die Hände. In einer hielt sie … eine Pistole. Eine gottverdammte Pistole.

»Du warst das! Du hast mich niedergeschlagen!«, keuchte er mit wild pochendem Herzen und fasste sich an den Hinterkopf. Wieso hatte sie das getan? Seit wann war sie hier? Und was von alldem, was er eben gesehen hatte, war real gewesen?

»Du hättest mich fast umgebracht!«, erwiderte sie mit einer viel selbstsichereren und festeren Stimme als noch vor ein paar Stunden. Sie war wie ausgewechselt. Ein anderer Mensch. Sein Blick wanderte an ihr einmal herauf und wieder herab. Violet war in eine schwarze Lederjacke gehüllt, auf der an der linken Schulter wieder dieses Symbol zu sehen war: Das A umgeben von dem C, oben ein Kreuz, unten ein umgedrehtes. Das gleiche, das er als Tätowierung an ihrem Handgelenk gesehen hatte.

Er starrte in ihr Gesicht. Ihr kupferblondes Haar hatte sie zu einem strengen Zopf gebunden, was sie viel harscher und bestimmter aussehen ließ. Er ertappte sich dabei, wie ihm bei ihrem Anblick ein Schauder den Rücken hinunterlief.

»Wie kommst du überhaupt hier rein!? Und was soll das alles?« Evan wich ein paar Schritte zurück, taumelte gegen die Küchenablage und schnappte sich ein Messer. Er wusste selbst nicht genau, wieso. Gegen eine Pistole würde er damit schließlich recht wenig ausrichten können.

»Ich bin nicht der Feind, Evan. Ich will dir ja helfen!« Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu, doch er wich weiter vor ihr zurück. Alles war doch so verrückt geworden, seit er sie kannte. Sie musste etwas damit zu tun haben.

»Wie verdammt kommst du in diese Wohnung?«

Sie griff in ihre Jackentasche und zog eine verbogene Haarklammer hervor. »Damit.«

Er runzelte die Stirn. »Du bist hier eingebrochen!?«

»Ich musste es tun! Mir war klar, dass es dir schlechter und schlechter gehen würde. Ich will dir helfen! Das kann ich, vertrau mir, das kann ich.«

Er sah sie einen Moment lang bloß entgeistert an. Es fühlte sich an, als würde er sein letztes Fünkchen Verstand verlieren.

»Verschwinde hier!«, rief Evan schließlich. »Raus!« Er drohte ihr mit dem Messer, doch sie stöhnte bloß unbeeindruckt auf. »Evan, pack dein Zeug und dann komm mit mir. Sonst muss ich dich zwingen.«

»Ich komme nicht mit dir. Das geht nicht. Und jetzt verschwinde! Verdammt, ich rufe die Polizei!«

Violet behielt vollkommene Ruhe, während er nichts lieber getan hätte, als in einer Tour loszuschreien.

»Wenn es dir um Mick geht: Ihm geht es gut. Evan, ich regele das mit deinem Job, ich regele das mit deinen Eltern, ich regele alles für dich. Du musst dich um nichts kümmern, du musst nur mit mir kommen und mir vertrauen, sonst wirst du jeden Tag diese Kopfschmerzen haben, die Erinnerungen werden dich jeden Tag plagen, du wirst jede Nacht so gequält werden! Und es wird dich in den Wahnsinn treiben, bis sich deine Stimme verändert, dein Aussehen sich verändert und du Menschen wehtun wirst! Vielleicht sogar dir selbst! Evan, bitte.«

Evan sah sie an und seine Unterlippe begann zu beben. Entsetzt stöhnte er auf und ließ schließlich klirrend das Messer fallen. »Woher weißt du, was mir passiert ist?« Ihm schwirrte der Kopf und in seinen Augen brannten Tränen der vollkommenen Verzweiflung. Er vertraute ihr nicht. Und doch schien sie genau Bescheid zu wissen, was mit ihm im Gange war.

»Ich habe eine Bank ausgeraubt.«

»Was?«

»Ja. Eine Bank ausgeraubt. Ich bin da eingebrochen - frag nicht, wie, ich könnte es dir nicht sagen - und habe eine alte Dame geschlagen, damit sie mir aus dem Weg geht. Ich habe Menschen bedroht, Angst geschürt. Das Geld war dem Dämon egal, der mich unter Kontrolle hatte.« Sie hielt kurz inne und kämpfte damit, weiterzusprechen, aber ihre Stimme klang gefasst. »Und als ich wieder zu Hause war, hatte ich alles vergessen. Dann kamen irgendwann die Kopfschmerzen, so wie bei dir. Und das liegt nicht an uns, Evan. Jemand hat uns das angetan! Wir sind nicht so! Und jetzt komm mit mir, damit ich dir helfen kann.«

Evan atmete aus, zitterte am ganzen Körper. Er zitterte, weil er sich fürchtete und er zitterte, weil er ihr so sehr Glauben schenken wollte. Er wollte ihr glauben, dass sie wusste, wie er all das loswerden und wieder zu sich selbst finden konnte. Und wenn nicht, dann hatte er ohnehin nichts mehr zu verlieren. Also ignorierte er die Träne, die seine linke Wange hinablief. »Wo bringst du mich hin?«

Violet lächelte. »Ins Angelus Clamor.«


Angelus Clamor

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