Читать книгу Angelus Clamor - Marisa Moreno - Страница 15
Kapitel 11
Оглавление»Ist alles okay, Deryck?«
Nachdem die von Mrs Shepard einberufene Camp-Sitzung vorbei gewesen war, hatte sich jeder zurückgezogen. Was Aidan von sich offenbart hatte, hatte jeden mitgenommen. Spencer wahrscheinlich am meisten, aber soweit Evan das mitbekam, hatten sich die beiden mittlerweile ausgesprochen. Evan selbst hatte jetzt nicht das Bedürfnis danach, sich zurückzuziehen. Shepard hatte ihnen heute einen freien Tag gegeben und erst morgen würde das Training beginnen, weshalb er absolut nichts zu tun hatte. Und er wollte nicht nur dasitzen und sich in seinen eigenen verdrehten Gedanken verfangen, die er ohnehin nicht mehr entwirren konnte. Nicht nach alldem.
Er hätte nie für möglich gehalten, dass er Mitleid mit einem Amokläufer verspüren können würde. Er hätte niemals gedacht, dass er einmal solche Qualen würde ertragen müssen, wie er sie durch die Besessenheit erlebt hatte. Evan wollte jetzt nicht allein sein, also beschloss er, sich zu Deryck zu setzen, der grübelnd und mit ernstem Blick an der Feuerstelle saß und mehr als niedergeschlagen wirkte.
Als Evan sich neben ihm niederließ, fuhr er erschrocken zusammen.
»Oh, hi. Hast mich erschreckt.«
»Sorry.« Evan hielt kurz inne. Er konnte noch nicht so ganz einschätzen, wie er mit den Menschen hier umzugehen hatte. »Ist … alles okay?«
Deryck nickte knapp.
»Das mit Jonah tut mir so leid … Was er getan hat, war …«
Bei Jonahs Namen blickte Deryck auf und sah Evan an. Er erschauderte. Deryck in die stahlblauen Augen zu sehen, die aus seinem bleichen Gesicht so hervorstachen, überrumpelte ihn.
»Er kommt wieder.«
Evan nickte und musste den Blick abwenden.
»Weißt du«, nahm Deryck das Gespräch wieder auf. »Was ist, wenn der Teufel gar nicht der Böse ist?«
Evan runzelte überrascht von dieser Frage die Stirn. »Denk daran, was er uns angetan hat, was es mit Aidan angestellt hat … Wenn er nicht der Böse ist, wer dann?«
Deryck legte seine Stirn in Falten und starrte mit leerem Blick geradeaus auf das erloschene Feuer. »Der Engel.«
»Ist er nicht der Bote Gottes? Der, der uns allen irgendwann…naja…den Arsch retten soll?« Evan war irgendwie verblüfft darüber, dass er dieses Gespräch führen konnte, ohne sich wahnsinnig zu fühlen, dass er langsam verstand, wieso die Leute in diesem Camp die Dinge sagten und taten, für die sie einstanden.
»Tss«, machte Deryck spöttisch und rupfte ein paar Grashalme aus der Erde. »Er hat sich bisher nicht zu erkennen gegeben. Wahrscheinlich weiß derjenige nicht mal, wer er ist. Und der … der Pakt, den Gott und der Teufel geschlossen haben … er besagt, dass—«
»Rayna hat mir davon was erzählt. Der Teufel darf zwar in einer Gestalt, die ihm lieb ist, auf Erden wandeln, besitzt aber, solange er dem Artefakt der Ausgeglichenheit, an den seine Kräfte gebunden sind, nicht zu nahe kommt, nicht seine volle Macht. Und Gott darf im Gegenzug nicht selbst auf Erden sein, einen Teil seiner Macht jedoch an einen Auserwählten abgeben, der aber einen freien Willen besitzt und nicht unmittelbar von ihm gesteuert werden kann.«
Deryck sah ihn an, als würde er ihn jetzt zum ersten Mal wirklich wahrnehmen. »Ja, richtig. Aber meinst du nicht, wenn man einen Teil von Gottes Macht in sich trägt, dass man davon weiß? Ich meine … er kann doch nicht einfach irgendwo existieren und keine verdammte Ahnung haben, wozu er bestimmt ist. Er muss dem Teufel das Artefakt wegnehmen. Das ist doch eigentlich nicht unsere Aufgabe! Wir sind doch die Opfer.«
»Wie zeigen sich denn die Kräfte dieses Engels?«
Deryck blickte ihn an, als sei er aus Glas. Dass er eine Glatze trug und schreckliche schwarze Augenringe besaß, machte das Ganze nicht besser.
»Du kennst doch die sieben Todsünden; Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust. All das vereint der Teufel in sich. Weißt du, was die sieben Kardinaltugenden sind?«
Evan schüttelte den Kopf und Deryck fuhr fort.
»Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit, Mäßigung, Glaube, Liebe und Hoffnung. Und es heißt, dass Gottes Bote diese sieben Tugenden in sich vereint, so wie der Teufel es mit den Sünden tut.«
Evan gab ein langes Seufzen von sich. »Wo ist nur diese Person, die so gut ist, dass sie all diese Dinge besitzt …«
»Soll ich dir was verraten? Der Engel lässt uns im Stich und das macht ihn für mich böse, viel böser, als der Teufel, der doch dazu erkoren ist, dieses dunkle Wesen zu besitzen. Und was ist mit uns? Ich will den verdammten Engel finden, damit er wieder das Gleichgewicht herstellt.«
»Und wo willst du anfangen, zu suchen? Die Welt ist nicht gerade klein und es könnte jeder sein, oder nicht?«
»Ja, das stimmt.« Deryck flüsterte jetzt aus irgendeinem Grund und Evan fuhr eine Gänsehaut auf die Arme. »Ich denke, er ist nicht weit weg. Er muss hier sein. Wieso sonst haben wir uns gefunden? Wieso sollte das so sein, dass gerade wir uns zusammenfinden, wir, die alle die gleiche Sprache sprechen? Das muss einen Grund haben. Das Schicksal hat merkwürdige Wege. Aber was würde es Gott nützen, wenn er irgendeinen auswählt? Der Engel muss einfach hier sein. Er ist hier und Gott erwartet von uns, dass wir ihm helfen, dass wir ihn erkennen.«
»Wer denkst du, ist es?«
Deryck wandte den Blick ab. »Ich weiß es noch nicht. Aber ich habe einen starken Verdacht.«
»Wirklich?«
»Denk doch mal nach: Rayna hat nie etwas … etwas falsches getan.«
»Sie hat doch auch eine schreckliche Tat begangen …«
»Schon, aber der Teufel hat durch das Artefakt eine so große Macht, dass er mit Sicherheit auch den Engel kontrollieren konnte, der im Grunde doch auch nichts anderes ist als ein normaler Mensch. Also es besteht die Möglichkeit, dass sie es ist. Niemand sonst fällt mir ein.«
»Ja, du hast vielleicht recht …«
»Aber vielleicht spinne ich auch …«
Evan lachte halbherzig.
Einige Momente schwiegen sie und Evan ließ es auf sich wirken, was Deryck ihm erzählt hatte. Sein Kopf schwirrte ihm. Als hätte er nicht schon genug Information zu verarbeiten. Ein Mensch, der gerecht war, tapfer, weise, gemäßigt, ein Mensch, der an etwas glaubte, voller Liebe war und voller Hoffnung. Aus irgendeinem Grund war es für Evan noch unvorstellbarer, dass es so jemanden gab, als dass jemand wie der Teufel existierte.
»Deryck, ich gehe in mein Zelt. Kommst du klar?«, fragte er nach einer Weile.
Er nickte und sah Evan noch lange nach, als er längst in seinem Zelt verschwunden war.
Nachdem seine Eltern gegangen waren, war Jonah noch einmal eingeschlafen. Eigentlich war er dazu viel zu aufgewühlt gewesen, doch er musste seine Kräfte sparen, um bei Nacht das Krankenhaus zu verlassen und zum Camp zurückzukehren. Es war mittlerweile schon ziemlich spät, auf seiner Station schien nicht mehr viel los zu sein. Jonah war aus einem wirren Traum erwacht – ein Traum, der sich um den Neid und den Zorn drehte, den er oftmals verspürte. Er war kein guter Mensch.
Jonah wollte doch eigentlich wieder einschlafen. Es musste richtig spät werden, damit er gehen konnte. Niemand würde es bemerken, wenn er sich aus dem Krankenzimmer stahl. Das Schlimmste war nur, dass er den beschwerlich weiten Weg von hier zurück zum Angelus Clamor laufen musste. Aber auch das hielt einen wahren Helden nunmal nicht auf.
Jonah schloss wieder seine Augen und versuchte, die Bilder der grässlichen Kreaturen, die sich in seinem Albtraum als die Todsünden Neid und Zorn gezeigt hatten, zu verdrängen. Ein schauerlicher Gedanke hatte sich seit dem Moment, in dem er seiner Mutter in die Augen gesehen und das mächtige Gefühl des Zorns verspürt hatte, in ihm eingenistet: Es war möglich, dass er eine der sieben Todsünden verkörperte. Er war nie besessen gewesen. Er hatte schon früher oftmals Neid und Zorn gehegt. Es war tatsächlich möglich. Und das Schlimmste: Es störte ihn nicht. Es war ein merkwürdig wohltuendes Gefühl. Er dachte nach.
Die zehn Gebote:
1. Du sollst an einen Gott glauben. Doch Jonah war davon überzeugt, dass auch in ihm Göttliches stecken musste.
2. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren. Doch Jonah hasste und verspottete ihn für die Dinge, die in der Welt geschahen und für die er zu schwach war, um sie zu verhindern.
3. Du sollst den Tag des Herrn heiligen. Doch für ihn waren Kirchen nichts als Backsteine und Gottesdienste bloß alte Männer, die von etwas sprachen, von dem sie keine Ahnung hatten.
4. Du sollst Vater und Mutter ehren, damit du lange lebest und es dir wohl ergehe. Aber sie hatten sein Leben zerstört, weil sie Julian so liebten und ihn nicht. Seine Eltern waren nichts als Spott für diese Welt.
5. Du sollst nicht töten. Aber es hatte sich gut angefühlt, Mr McBanes unnachgiebiges Fleisch zu spüren.
6. Du sollst nicht Unkeuschheit treiben. Doch Jonah hatte Sara betrogen und sich nicht einmal schlecht gefühlt.
7. Du sollst nicht stehlen. Aber die teure Uhr seines Bruders hatte er dennoch an sich genommen, weil sie doch viel besser zu ihm passte.
8. Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Doch er hatte Mrs Shepard verkauft, er wäre besessen gewesen.
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. Und er liebte einen Mann.
10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut. Und doch brauchte er alles, was Julian besaß und noch viel mehr.
Jonah schlug die Augen auf. Vielleicht hatte er sich getäuscht und Julian war gar nicht der Bruder, der zu Höherem bestimmt war. Vielleicht war es Jonah. Nur auf eine andere Weise, als er es sich gedacht hätte. Andererseits: Konnten diejenigen, die der Teufel zu einer Todsünde gemacht hatte, überhaupt wissen, was sie waren? Er hatte keine Ahnung und versuchte angestrengt, wieder einzuschlafen. Es war die reinste Folter, sich nicht auf die Seite oder den Bauch drehen zu können. Ständig pochte seine Schulter, die in der Schlinge lag. Der Arzt hatte zwar gesagt, dass er großes Glück gehabt hatte, aber Schmerzen hatte er trotzdem.
Jonah starrte an die Decke und dachte an das Gespräch mit den Polizisten, die sich über seine Aussage, er habe das Gesicht des Angreifers nicht gesehen, gewundert hatten, weil der Arzt ihnen erzählt hatte, dass der Schuss den Verletzungen zufolge aus nächster Nähe abgefeuert worden war.
Wie sollte er nur schlafen, wenn in seinem Kopf Krieg herrschte? Konnte der Teufel wohl ruhig schlafen? Bei all seinen Gedanken … Unter Jonahs Bett schlummerte eine Macht, eine Kraft, wie ein Tier, wie der König der Tiere. Aber er war gefangen in einem Käfig, so wie er selbst. Doch er wollte frei sein. Wenn man in seine Augen sah, konnte man ihn sehen. Den Löwen, der in ihm schlummerte und der nur darauf wartete, auszubrechen und zu brüllen...
Jonah schreckte hoch. Er war nicht eingeschlafen, sondern nur kurz einem Gedankengang verfallen…Der Apokalypse vielleicht. Er machte sich langsam selbst Angst. Aber war das nicht ein gutes Zeichen? Wenn er Angst hatte, konnte er noch nicht komplett durchgedreht sein.
Mit einem Satz schwang Jonah seine Beine über die Bettkante und stand auf, wobei er sich von den Geräten trennte, die sofort zu piepsen begannen.
Als er die Tür langsam öffnete, verspürte er ein drängendes Gefühl und eine Gänsehaut fuhr ihm auf die Arme. Was für ein Gefühl? Vielleicht Angst davor, dass er das hier allein durchstehen musste. Er musste allein zum Camp zurückfinden. Jonah war auf sich gestellt. Kein Julian, kein Deryck, der ihm helfen würde und auch keine Mrs Shepard, die ihm Anweisungen gab, wie er etwas zu tun hatte. Nur er selbst. Und er hatte längst realisiert, dass alles, was er war, er selbst war.
Er stieß die Tür auf. Es war still auf dem Gang. Dann trat er den Heimweg an. Oder den Abstieg zur Hölle?