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Kapitel 2

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»Komm schon, du Spinner!« Micks Stimme drang gemeinsam mit dem Tageslicht dumpf zu Evan durch. Er hörte ihn, als befände er sich unter einer Wasseroberfläche; in seinen Ohren rauschte es.

»Halloooo!?«, flötete eine weitere Stimme – Preston.

Evan wollte die Augen öffnen, aber konnte nicht. Er fühlte sich so schlapp, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich und nahm die Stimmen seiner Freunde wahr, als stünden sie nicht unmittelbar neben ihm, sondern würden ihn aus weiter Entfernung rufen. Seine Glieder waren schwer, sein Kopf wie mit Watte vollgestopft.

»Schön, mir reicht’s. Wir ergreifen andere Maßnahmen.«

Etwa eine Minute später wurde Evan von einem Schock erfasst, wie er ihn selten erlebt hatte. Er schnappte nach Luft und schreckte sofort hoch. »Was soll das!?«, rief Evan, der pitschnass in seinem Bett saß. »Habt ihr sie noch alle!?«

Preston, der den Eimer in der Hand hielt, in dem das eiskalte Wasser gewesen war, das jetzt Evans Bett, Haare und Kleidung durchnässte, schmunzelte.

»Alter, wir haben dich anders nicht wach gekriegt. Als hättest du im Koma gelegen.« Preston verging das Schmunzeln und er sah ihn jetzt ernsthaft besorgt an.

Und dann kam die Erinnerung zurück. An seine Ankunft, die Party, Violet und diese Frau. Die Frau, deren Leiche er vor elf Jahren gefunden hatte. Und dennoch hatte sie direkt vor ihm gestanden. Plötzlich dröhnte sein Schädel. Er erinnerte sich nicht daran, was passiert war, nachdem er die Hand in der Toilette gesehen hatte, geschweige denn wie er wieder ins Schlafzimmer gekommen war.

»Wie…Wieviel Uhr ist es?«, stammelte Evan und strich sich das nasse Haar aus der Stirn.

Mick und Preston sahen ihn an, als sei er ein Todkranker auf dem Sterbebett. Oder ein Außerirdischer.

»Fast zwei. Deine Mutter hat so um die hundert Mal hier angerufen«, antwortete Preston.

Evan nickte benommen. »Was ist gestern noch passiert, Leute?«

Preston und Mick warfen sich einen Blick zu, den Evan nicht zu deuten vermochte. Keiner von ihnen sagte etwas.

»Was denn? Was ist passiert?«, drängte Evan und schwang die Beine über die Bettkante, wobei ihn ein leichtes Schwindelgefühl überkam.

»Ich weiß ja nicht, ob du gestern getrunken hast, aber du bist echt … irgendwie abgedreht«, erklärte Preston zögerlich.

»Du hast sie auch gesehen, Pres, oder?«, stammelte Evan verwirrt. In seinem Kopf herrschte reines Chaos.

»W-Wen gesehen? Meinst du Violet? Ja, sie hat mitgekriegt, wie du auf’s Klo gerannt bist und mich geholt. Dann ist sie weg und hat George heimgebracht, diesen Vollidioten.«

Evan schluckte. Es war wieder das gleiche wie damals. Niemand außer ihm hatte sie gesehen. »Ja, ich weiß auch nicht. Vielleicht hab ich einfach ‘nen Jetlag. Aber mir geht’s jetzt besser«, log er, obwohl er in Wahrheit gerade darüber nachdachte, ob es möglich war, dass er dabei war, den Verstand zu verlieren.

»Wenn du das sagst. Du solltest dich jetzt jedenfalls mal bei deiner Mum melden und ich werd‘ jetzt mal gehen.« Preston stand auf.

»Hast du hier geschlafen?«

»Irgendwer musste ja aufräumen, nachdem die Leute gegangen sind und den Fettsack hier kriegen keine zehn Pferde hoch.«

Mick warf Preston einen vernichtenden Blick zu.

»Also bis dann, Leute.«

»Danke, Pres. Ciao.« Bei Evan drehte sich noch immer alles.

»Und dir geht’s echt gut, Mann?«, fragte Mick, als die Tür hinter Preston ins Schloss fiel und griff in die Chipstüte, die neben ihm auf dem Bett lag.

»Ja, alles in Ordnung.« Evan stand mit bleischweren Gliedern auf und öffnete aus Gewohnheit seinen Schrank, um sich etwas zum Anziehen rauszusuchen, weil er die durchnässten Sachen vom Vortag trug, aber er hatte so gut wie all seine schicken Klamotten noch im Koffer – und wenn er heute seine Eltern sah, sollte er nicht gerade in verwaschener Jeans und abgetragenem Shirt da aufkreuzen. Er verließ also das Zimmer, ohne darauf zu achten, wie misstrauisch Mick ihn beäugte, und sah sich nach seinem Koffer um. Die ganze WG war erstaunlich sauber. Hier und da lag noch etwas rum, aber Preston hatte ganze Arbeit geleistet und Evan war ihm dafür unglaublich dankbar.

Er fand seinen Koffer schließlich dort, wo er ihn abgelegt hatte, aber der Schock traf ihn sofort: Er war offen! Evan kniete sich davor und musste mit Schrecken feststellen, dass einige seiner SD-Karten feucht waren, genauso wie ein paar der Klamotten, die oben lagen. »Scheiße«, fluchte er. »Oh nein, verdammt!«

Evan hatte in New York so viele wunderbare Fotos geschossen. Perfekte Beleuchtung, perfekte Perspektive - einfach perfekt. Und er hatte sie auch seinem Chef zeigen wollen. Der hätte sie echt toll gefunden und vielleicht sogar verwendet. Aber egal, Evan musste sich jetzt beeilen. Also zog er sein schwarzes Seidenhemd hervor, das zum Glück nichts von der nach Alkohol riechenden Flüssigkeit abgekriegt hatte, und schnappte sich seine dunkle Jeans. Beides hatte er zu seinem Neunzehnten von seinen Eltern geschenkt bekommen.

Er hielt inne und atmete kurz durch. Was war ihm da gestern passiert? Es gab keine auch nur ansatzweise logische Erklärung dafür. Niemand außer ihm hatte die Frau gesehen. Wieso nur? Und wieso war sie nicht tot, so wie er es in Erinnerung hatte? Das alles war außerhalb seiner Vorstellungskraft. Doch er konnte und wollte sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen, sondern musste sich fertigmachen, dann seine Mutter anrufen und sie nach einem Jahr wiedersehen.

Er nahm aus dem Koffer noch die sündhaft teure Armbanduhr von Piguet, die er seiner Mutter aus New York mitgebracht hatte und legte sie auf dem Tisch ab, ehe er ins Bad ging: Den Raum, in dem er gestern zusammengebrochen war.

Er schälte sich aus seiner Kleidung und drehte das eiskalte Wasser in der Dusche auf. Evan stieg hinein und ließ das Wasser auf seine helle Haut herab rieseln. Eine Gänsehaut schüttelte ihn, aber er zwang sich, unter dem kalten Strahl stehenzubleiben. Es fühlte sich gut an, den letzten Tag abzuwaschen und er musste den Kopf freikriegen und zwar dringend. Seine Eltern – allen voran seine Mutter – würden ihm auf der Stelle ansehen, wenn etwas mit ihm los war. Aber wie sollte Evan bloß verdrängen, was passiert war? Er wusste nicht, was mit ihm nicht stimmte oder wieso er plötzlich verrückt zu werden schien. Früher war so etwas nie geschehen. Nur dieses eine Mal vor elf Jahren und danach nie wieder. Bis gestern. Er versuchte krampfhaft, seine Gedanken jetzt auf etwas anderes zu lenken. Violet zum Beispiel. Er hatte ihre Handynummer und würde sie nachher anrufen. Hoffentlich hatte George ihr keine Probleme gemacht. Außerdem wollte e—

Und dann stürzten das erste Mal die Kopfschmerzen auf ihn herab. Ein Schmerz, als würde man ihm den Schädel teilen. Er stieß einen erstickten Schrei aus; seine Beine gaben sofort nach. Er hockte in der Dusche, mit verkrampftem Körper, schmerzverzerrtem Gesicht und einem Kopf, der wehtat als würde er jede Sekunde explodieren. Es war, als würde in seinem Schädel Krieg herrschen, als wäre darin etwas, das raus wollte. Er nahm nichts um sich herum mehr wahr. Da war nur noch der Schmerz. Er hörte nicht mal, wie er schrie.

Und dann ebbten sie ab. Vom einen auf den anderen Moment war der Schmerz weg. Keuchend öffnete er die Augen, die er vor Leid zusammengekniffen hatte und erblickte Blut in der Dusche, sah, wie es in den Abfluss rann. Sofort sprang er auf und drehte sich herum, wirbelte umher, aber das Blut kam von ihm, es kam aus seiner Nase. Und es wurde mehr und mehr und er konnte es nicht stoppen! Er hatte schon so oft aus der Nase geblutet, aber der Schwall, der sich jetzt in die Dusche ergoss, war abnormal. Er taumelte aus dem Becken hinaus, riss dabei beinahe den Duschvorhang ab und stützte sich mit den Händen auf das Waschbecken, während er im Spiegel beobachtete, wie sein Gesicht sich veränderte, verzerrte, wie seine Haut verfaulte und seine Iris sich auf einmal gänzlich schwarz verfärbte.

»Oh mein Gott«, keuchte er. »Mick!«, schrie er jetzt. »Mick, hilf mir!«

Keine Reaktion. Natürlich nicht.

Es wurde immer schlimmer. Da war immer mehr Blut. Und da waren wieder die Kopfschmerzen.

»Mick, bitte!«, heulte er und dann öffnete sich endlich die Tür und hereingestürmt kam … seine Mutter. Und der Schmerz war verschwunden, genauso wie all das Blut und sein Gesicht sah aus wie immer. Seine Augen waren wieder grün.

»Mum!«, rief Evan erschrocken und sprang zurück in die Dusche.

»Evan, was … was ist los? Wieso hast du so geschrien?«, fragte sie völlig außer Atem. Er kniff verzweifelt die Augen zusammen und lehnte sich gegen die Wand. »E-Es ist nichts. Mum, ich … ich bin gleich fertig. Warte doch bitte in der Küche. Da steht was für dich. Ist … ist Dad auch hier?«

»Nein, ist er nicht, mein Junge. Geht es dir wirklich gut?«

Evan unterdrückte ein Wimmern. »Ja, Mum. Wir reden gleich. Geh jetzt bitte.«

Sie zögerte noch einen Moment, schloss dann aber die Badezimmertür, woraufhin Evan dankbar ausatmete.

Wahrscheinlich hatte sie sich einfach selbst aufgeschlossen. Er hatte ihr einen Schlüssel nachmachen lassen, damit sie reinkonnte, falls Evan die Klingel mal nicht hörte. Und Mick ging prinzipiell sowieso nicht zur Tür.

Evan drehte das Wasser ab und atmete heftig, fasste sich an die Nase, testete, ob er sich all das Blut wirklich nur eingebildet hatte. Und das hatte er. Da war nichts. Gar nichts.


»Ich hab dich so vermisst«, sagte Margret Randall, während sie umarmend in der Küche standen und strich ihrem Sohn über den Rücken.

»Ich dich auch, Mum.«

Sie gab ihn nur widerwillig frei. »Wie war’s in Amerika? Los, erzähl schon! Du hast so selten angerufen.«

»Tut mir leid, war viel los. Möchtest du Tee?«

»Nein, Schatz.«

Sie setzten sich an den Tisch. Evans Magen knurrte laut und er versuchte, es mit einem Husten zu verbergen. Er hatte nach wie vor nichts zu sich genommen.

»Wieso hast du nicht sofort angerufen, als du angekommen bist? Ich habe mir Sorgen gemacht, dass was passiert ist!« Ihre gerunzelte Stirn ließ sie um Jahre älter wirken. Evan hasste sich bei ihrem Anblick dafür, dass er sich so selten bei ihr gemeldet hatte.

»Das hat sich am Flughafen alles ziemlich in die Länge gezogen und der Zug hatte auch Verspätung. Tut mir leid. Ich hätte mich noch gemeldet.«

Sie lächelte ihn aus tiefstem Herzen an. Wenn sie nur wüsste, was mit ihm los war.

»Hast du schon gesehen? Die ist für dich.« Evan nahm die Piguet-Uhr und stellte sie seiner Mutter hin.

»Die ist wirklich unglaublich schön. Aber Ev, das wäre nicht nötig gewesen! Die hat doch bestimmt ein Vermögen gekostet.«

Er wollte gerade ansetzen, etwas zu erwidern, aber dann stutzte er. Er hatte die Uhr gekauft, daran erinnerte er sich klar und deutlich. Aber der Einwand seiner Mutter war durchaus berechtigt: Mit welchem Geld? Woher hatte er all das Geld gehabt? Er verdiente doch bei Weitem nicht so viel, dass er es sich würde leisten können, ein so teures Geschenk für seine Mum zu besorgen.

Evan räusperte sich. Er hatte absolut keine Ahnung und erinnerte sich nicht, wie das möglich war oder wann er den Entschluss gefasst hatte, diese Uhr zu kaufen. Aber er hatte sie bar bezahlt.

Und mit dem nächsten Schub der Kopfschmerzen kamen sie wieder - und zwar alle auf einmal: Die Erinnerungen.


Es war schon spät in New York. Evan saß am Lagerfeuer, zusammen mit Kaya, Ivy, Jimmy und Dave – Freunden, die er dort gefunden hatte. Er war jetzt bereits sieben Monate hier. Sie hatten sich in dieser Zeit schon oft am Ontario-See getroffen.

Die Stimmung war magisch: Es befand sich keine Menschenseele in ihrer Nähe und die dunkle Wolkendecke machte Platz für warmes Rot am Horizont.

»Und dann hat er sich in die Hose gemacht! Nein, lacht nicht, ich mein’s ernst! Er hat sich in die Hose gemacht!«, beendete Ivy die Erzählung eines Erlebnisses aus der zehnten Klasse und prustete los. Alle anderen stimmten mit ein. Alle, außer Evan.

»Evan, lach doch! Hör mal zu! Er hat sich in die Hose gemacht! In der zehnten Klasse!«, rief Ivy, boxte ihn freundschaftlich und krümmte sich vor Lachen.

»Fass mich nicht an.« Evan sprach nicht, aber die Worte kamen aus seinem Mund. Es war seine Stimme und doch war sie es nicht.

»Was, du Miesepeter?«, fragte Ivy und wuschelte ihm durchs Haar, aber Evans Blick ging weiterhin ins Leere.

»Ich hab gesagt, fass mich nicht an!«, brüllte er in die leise Nacht hinein und packte Ivy mit einer ruckartigen Bewegung am Hals.

Erstickt schrie sie auf, aber konnte kaum einen Laut von sich geben.

Die anderen waren sofort auf den Beinen, doch Evan drückte noch fester zu. Er spürte ihren dürren Hals zwischen seinen Fingern, konnte fühlen, dass schon bald der Knochen brechen würde, so übermenschlich fest war sein Griff.

Am Horizont begann das Rot, bedrohlich zu wirken.

»Was ist denn in dich gefahren!?«, rief Jimmy erschüttert. Auch Dave war der Schreck ins Gesicht gemeißelt. Sie griffen nach seinen Armen und rissen daran, wollten ihn von Ivy wegzerren, aber Evan war viel zu stark.

»Ich töte sie! Ich töte sie!« Ivys Augen traten weit hervor, es knackste unter seinen Fingern, doch sie trat noch immer um sich. Ihre irrwitzig gurgelnden Laute erklangen wie Musik in seinen Ohren.

»Mein Gott, er ist ja wie besessen!«, rief Dave.

»Evan, lass sie los, verdammt! Das ist Ivy!«, japste nun Kaya, die sich mühselig aus ihrer Schockstarre gelöst hatte, aber er hörte natürlich nicht auf sie. Zu gut fühlte sich der Rausch an. Also sah er Ivy noch einmal in die Augen, ehe er ihren Kopf in das Lagerfeuer presste, wo sie sofort Feuer fing und wie am Spieß schrie. Sie strampelte und schrie und wandte sich.

Kaya, Dave und Jimmy stürzten sich auf ihn, doch dann hörte Ivy plötzlich auf zu strampeln und der Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft.

»Du hast sie umgebracht!«, brüllte Jimmy hilflos und schlug nach Evan, doch dieser packte ihn und brach ihm das Genick wie einen Zweig. Woher er diese Kraft hatte, war nicht zu erklären.

Dave griff sofort nach Kayas Hand und wollte die Flucht ergreifen, aber Evan zückte eine Pistole aus seinem Hosenbund, feuerte zweimal ab und Kaya und Dave waren tot. Er wusste selbst nicht, woher er die Waffe hatte.

Dann lächelte er zufrieden und entwendete ihnen all ihr Geld. Auch die Pin-Codes ihrer Karten kannte er selbstverständlich.

Er war befriedigt. Sehr befriedigt. Menschenleben zu nehmen gefiel ihm. Er nahm sich, was er brauchte, zerrte ihre Leichen ins Wasser und beobachtete noch eine Weile mit einem Lächeln auf dem Gesicht, wie sie davontrieben.


»Das habe ich nicht getan!«, schrie Evan, als er aus der Trance erwachte. Er strampelte um sich; Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sein Herz raste heftig, seine Sicht war wie auf unscharf gestellt.

Benommen fand er sich in den Armen seiner Mutter wieder. Sie hatte geweint, ihre Wangen waren feucht.

»Mum, alles okay?«, fragte er entsetzt und sprang auf, schluckte mehrmals, um die Enge in seiner Kehle zu vertreiben. Jene Erinnerung war nicht weniger intensiv gewesen als die Erinnerung an die tote Frau. Es hatte sich echt angefühlt. So echt. Er hatte Menschen ermordet. Seine … seine Freunde! Er erinnerte sich noch lebhaft an Kaya, Jimmy, Dave und Ivy, an ihre Treffen am See, an das Lagerfeuer. Aber dieses Ereignis musste er verdrängt haben. Er wusste nur noch, dass sie sich an jenem Tag zum letzten Mal getroffen hatten, weil sie … Ja, warum eigentlich? Wieso hatte er das nie hinterfragt? Er hatte sie ermordet.

»Du hast mir Angst gemacht, Evan. Du bist ohnmächtig geworden!«

Evan zögerte. Sie waren in seinem Zimmer. Mick lag in seinem Bett und beobachtete das Ganze aus der Ferne.

»Ja, das liegt am Jetlag. Ich bin einfach noch zu erschöpft.«

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Ev, bitte rede mit mir. Mit dir stimmt doch was nicht. Eben deine Schreie, dann dein Ohnmachtsanfall. Evan, was ist in New York passiert? Bist du krank?« Sorgenvoll blickte sie ihn an und die Furchen auf ihrer Stirn tauchten wieder auf. Es brach Evan das Herz.

»Mum, es geht mir gut, klar? Ich bin nicht mal einen Tag hier – natürlich macht mir das zu schaffen.«

Sie seufzte. Dann blickte sie zu Mick. Sie konnte ihn nicht ausstehen, das hatte sie noch nie gekonnt. »Michael. Versprich mir ja, dass du auf ihn aufpasst.«

Mick zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Sicher, Mrs Randall.«

»Herrgott, ich bin neunzehn, ich brauch doch keinen Babysitter!«, regte Evan sich auf und fasste sich an die schweißbedeckte Stirn. Sein Herz pochte immer noch wie verrückt.

»Ich will einfach, dass er ein Auge auf dich wirft.«

Evan wollte etwas erwidern, aber er war einfach nicht dazu in der Lage und nickte nur.

»Dann ruh dich heute aus. Wir reden einfach morgen und dann essen wir zusammen mit deinem Vater zu Mittag. Wie hört sich das an?«

Evan zwang sich zu einem Lächeln und nickte. »In Ordnung.«

»Gut. Dann um drei bei uns, ja?«

Er nickte.

»Hab dich lieb.« Margret Randall strich über seine Wange, stand auf und verließ die WG.

Evan ließ sich entkräftet ins Bett fallen. Sein Magen knurrte – so laut, dass man es unmöglich überhören konnte.

»Chips?«, fragte Mick, der sich gerade eine Zigarette anmachte.

Evan musste grotesker Weise lachen. »Liebend gern.«


Evan schob sich die letzte Gabel Nudeln in den Mund. Er hatte sich welche gekocht und ohne Soße oder Beilagen hastig in sich reingestopft. Nur mit Chips im Magen konnte er nicht klar denken – er hatte dringend ein paar mehr Kohlenhydrate nötig gehabt.

Er stöhnte auf und dachte erneut an seinen Anfall von eben. Die Erinnerung war auf ihn eingeprasselt wie ein Hagelsturm und hatte ihn völlig zerstört zurückgelassen. Es war doch möglich, dass er es getan, aber verdrängt hatte, oder? So etwas gab es, das wusste er doch.

Evan blickte auf seine Hände. Sie hatten jemanden erwürgt, ein Genick gebrochen und zwei Pistolenschüsse abgefeuert. Und sie dann alle bestohlen.

Er stand mit rauschenden Ohren und dröhnendem Kopf auf, um seinen Teller abzuspülen. Er würde das letzte Jahr noch einmal durchgehen. Jede Minute, jede Sekunde. Um zu erfahren, wann er sich selbst verloren hatte und um zu wissen, wie er hatte verdrängen können, dass er ein Mörder war. Es machte ihn völlig krank. Er hatte Menschenleben beendet, er hatte Eltern ihre Söhne und Töchter genommen. Er hatte … Oh Gott, er musste sich sofort ablenken.

Evan würde sein Vorhaben durchziehen, aber erstmal musste er wieder herunterkommen, an etwas anderes denken, also nahm er sein Smartphone hervor und beschloss, Violet anzurufen. Das war etwas Normales, etwas, das man als normaler Mensch tat – neue Freundschaften pflegen.

Bei jedem Tuten in der Leitung blitzte wieder eine Szene seiner Erinnerungen in ihm auf. Er konnte das nicht glauben. Das konnte nicht wahr sein. Sein Verstand musste ihm einen Streich spielen und doch wusste er insgeheim, dass dem nicht so war.

»Violet Meyers«, meldete sich plötzlich ihre flötende Stimme.

Evan räusperte sich. »Hey, ich bin’s Evan. Ist mit George gestern alles gut gegangen?«

Sie lachte - freudig, von ihm zu hören. »Ja, er hat zwar die Rücksitze vollgekotzt, aber er ist heil nach Hause gekommen.«

»Oh man.«

»Was machst du heute? Hast du was vor?«

Er zögerte. Er war ein Killer. Er konnte sich nicht mit ihr treffen. Er würde sie damit nur in Gefahr bringen.

»Ehrlich gesagt ja. Ich muss … Ich muss … I-Ich—« Und dann explodierte sein Schädel. Die Kopfschmerzen waren viel stärker, viel hämmernder als beim letzten Mal. Er hatte nicht geglaubt, dass das überhaupt möglich war.

Evan würgte Ivy. Er spürte, wie ihr Körper schlaff wurde und das Leben sie verließ.

Er brach Jimmy das Genick.

Er zückte die Waffe. Evan erschoss Kaya und Dave.

Er nahm ihr Geld.

Er schritt davon.

Ein gebrochener Schrei entfuhr seiner Kehle.

»Evan, ist alles okay!?«, rief Violet erschrocken.

»Ich muss jetzt … Schluss machen.« Er legte das Handy auf dem Tisch ab und verkrampfte sich.

Er ging die Straße entlang.

Er stahl einem Mann die Knarre.

Er prügelte sich. Blut spritzte.

Er gewann.

Evan stöhnte entsetzt auf. Die Bilder vor seinem inneren Auge waberten umher und pulsierten und alles drehte sich. Es war zu viel auf einmal.

Er steckte die Pistole in ein verstecktes Fach in seinem Koffer. Dort ließ er sie.

Geplagt und gepeinigt von den schrecklichen Erinnerungen an Ereignisse, die er aus seinem Gedächtnis verbannt hatte, richtete er sich auf und kroch auf allen Vieren und mit Kopfschmerzen aus der Hölle zu seinem Koffer. Er riss ihn auf, schmiss all sein Zeug auf den Boden.

Er drückte ab.

Seine Freunde waren tot.

Dann fand er das Fach und zog den Reisverschluss auf. Er griff herein und hielt sie in der Hand. Die Waffe existierte wirklich. Die Erinnerungen waren alle real.


Angelus Clamor

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