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Kapitel 4

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Evan hatte nur das Nötigste eingepackt. Zahnbürste, ein paar Klamotten und solchen Kram. Er hatte keine Ahnung, auf was er sich eingelassen hatte, als er mit Violet ins Auto gestiegen war und hatte nicht mal Mick gesagt, wo er hinging. Aber er musste mit ihr gehen und ihr blind vertrauen. Sie schien tatsächlich zu wissen, was er durchgemacht hatte und ihr zu folgen kam ihm gerade vor, wie die einzige Chance, zu erfahren, was mit ihm geschehen war. Die tote Frau, die Kopfschmerzen, sein verändertes Gesicht und die grässlichen Erinnerungen. Er war kein Mörder und doch war er es. Und sie sagte ihm, dass ihr so etwas ähnliches widerfahren war, sagte ihm, er sei nicht für das verantwortlich, an das er sich erinnerte. Violet musste ihm einfach helfen können. Ja, sie würde ihm helfen und dann würde er in sein altes Leben zurückkehren und alles wäre in bester Ordnung.

Sie saßen in ihrem blauen Ford und fuhren durch Brighton. Evan klammerte sich verkrampft am Autotürgriff fest. Er wusste nicht, wieso. Vielleicht, um nicht mit dem Schwindelgefühl davongetragen zu werden, vielleicht, weil ihm das die Illusion gab, im Notfall vor der Frau mit Pistole, die neben ihm saß und die er seit einem Tag kannte, fliehen zu können.

»Ich hab Menschen ermordet«, platzte es plötzlich aus ihm heraus. Er hatte es noch nie zuvor ausgesprochen und seine eigene Stimme jagte ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken.

Violet seufzte und wandte kurz den Blick von der Straße ab, um ihn anzusehen. »Aber das warst nicht du. Das war alles nicht deine Schuld. Evan, das wozu man dich gezwungen hat, ist so viel schlimmer als das, was mir widerfahren ist. Es tut mir so, so leid.«

Er fuhr sich nervös durch die Haare und schluckte, um seine trockene Kehle zu beruhigen, was ihm nicht gelang. »Ich hatte ein tolles Jahr in New York, aber als ich zurückgekehrt bin, war nichts mehr wie vorher. Violet, was ist mir passiert?« Seine Stimme brach beim letzten Wort und er musste die Tränen mit aller Kraft zurückhalten.

»Weißt du, ich bin aus Chicago hierher gezogen, damit ich hier Hilfe bekomme. Julian hat verstanden, was mit mir geschehen ist. Er hat gesehen, wie es um mich stand. Hast du eine Ahnung, was für ein Glück ich hatte, dass er da war und das gleiche durchgemacht hatte? So ein Glück hast auch du. Es gibt wahrscheinlich noch etliche andere Menschen auf dieser Welt, denen es genauso geht wie uns, nur, dass sie nicht gerettet werden, weil sie niemand findet.«

»Was redest du da? Ich bin ein Mörder, das hast du schon verstanden, oder!? Wie zum Teufel soll ich noch gerettet werden?«

Violet atmete angestrengt aus. »Vorsichtig mit deiner Wortwahl, Evan.« Sie schmunzelte. »Im Camp gibt es Mittel und Wege, dich von alldem zu befreien.«

»Camp? Angelus Clamor? Engel … Schrei?«

Sie nickte.

»Müsste das nicht eigentlich irgendwie anders heißen? Im Sinne von ein Engel schreit … oder so?«

»Nein, so ist das nicht gemeint. Angelus, weil es nur einen Engel gibt und Clamor, weil er nicht der Einzige ist, der schreit…oder weint. Wie man’s nimmt. Es ist wie ein einziger Schrei, ein einziges Klagen. Vereint.«

Evan nickte und eine unbehagliche Stille erfüllte die Luft, die schwer auf seinen Schultern lastete. So wie Violet vom Angelus Clamor sprach, kam ihm dieses Camp vor wie eine Sekte oder irgendein kranker Kult und für einen Moment zweifelte er stark, ob das wirklich so eine gute Idee war, mit ihr zu fahren.

»Also, was passiert jetzt? Bringst du mich in dieses Camp?«

Sie nickte. »Unsere…Leiterin wird dich willkommen heißen und du wirst die anderen kennenlernen und dann—«

»Moment – andere?«

»Wir sind insgesamt zehn, glaube ich. Eigentlich viel zu wenige. Aber wir können eben nicht alle finden.«

»Und was denkt ihr, ist uns passiert? Also denen, die das auch haben?«

Sie zögerte und sah ihm dann fest in die Augen. »Glaubst du an den Teufel?«


Sie fuhren so lange, dass Evan irgendwann den Überblick darüber verloren hatte, wo sie lang fuhren. Violet sagte ihm, dass es nicht mehr weit war. Aber das hatte sie vor circa zwei Stunden bereits gesagt.

Evan döste mit dem Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, als sein Handy klingelte – Preston rief ihn an. Es war jetzt halb sechs Uhr morgens. Wieso rief er ihn jetzt an? Irgendetwas musste passiert sein.

Er nahm ab. »Pres, alles in Ordnung?«

»Ich werde ihn töten! Er wird sterben!«, ertönte am anderen Ende der Leitung eine ihm unbekannte Männerstimme.

»Wer ist da!? Wer spricht da!?«, wollte Evan wissen, doch es kam keine Antwort mehr. Und als er erschrocken zu Violet blickte, saß sie nicht mehr am Steuer. Sie war weg und das Auto geriet ins Schlittern. Er griff sofort nach dem Lenkrad und riss es herum.

»Evan, stopp!«, ertönte plötzlich Violets Stimme und dann sah er sie wieder dort sitzen. Sofort ließ er das Steuer los und Violet konnte sie gerade noch so vor einem Unfall bewahren.

Heftig atmend presste Evan sich in den Sitz. »T-Tut mir so leid«, stammelte er und versuchte, seine schwere Atmung in den Griff zu kriegen. »Die Träume vermischen sich mit der Realität.«

Stirnrunzelnd blickte sie ihn an. »Bei dir scheinen die Visionen um einiges heftiger zu sein, als damals bei mir.«

»Du bist auch nicht für die Ermordung deiner Freunde verantwortlich, Violet.«


Die Nacht war schwarz und düster, sie hatten die verlassenste Gegend erreicht, die Evan in Brighton je gesehen hatte. Violet parkte den Wagen am Rande eines riesengroßen Campingplatzes, neben einigen weiteren Autos. Der Platz, der sich vor ihnen erstreckte, schien bis auf einige Holzhütten und ein paar Zelte sehr verlassen. Evan glaubte, etwas weiter hinten einen kleinen See ausmachen zu können und sah ein Lagerfeuer brennen. Das musste das Angelus Clamor sein.

»Bereit?«, fragte Violet.

Evan nickte. »Ich will diese Visionen loswerden.«

Sie stiegen aus, Evan holte seinen Rucksack und nahm sofort einige Stimmen wahr, die vom Campingplatz ausgingen. Er folgte Violet näher an die kleine Siedlung heran, aber als sie fast da waren, hielt sie inne.

»Warte hier. Ich hole Mrs Shepard. Sie will bestimmt erstmal mit dir sprechen.«

Er nickte und Violet eilte davon. Nervös tippte Evan mit dem Fuß auf dem Boden auf und ab. Er konnte das alles noch nicht so ganz wahrhaben und hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Wie würde Violet das mit seinem Chef regeln? Das war unmöglich. Er würde definitiv seinen Job verlieren. Er würde kein Fotograf mehr sein, obwohl ihm so viel daran lag.

Evan beobachtete, wie Violet in eine der Holzhütten lief und nach ein paar Minuten gemeinsam mit einer älteren Dame wieder heraustrat und auf ihn zukam. Als sie direkt vor ihm standen, bemerkte er die Anmut dieser Frau. Sie war sehr groß gewachsen, hatte silbern leuchtendes Haar, tiefgrüne Augen und ein äußerst faltiges wenn auch elegantes Gesicht. Sie war gehüllt in ein rosafarbiges bodenlanges Kleid, das sie wie eine Hohepriesterin wirken ließ. Sie lächelte ihn offen an, mit einem gewissen Funkeln in den Augen.

»Evan, das ist Mrs Mary-Alice Shepard, Mrs Shepard, das ist Evan Randall«, stellte Violet sie einander vor.

Die alte Dame streckte ihm ihre dürre Hand entgegen und er schüttelte sie zögernd.

»Ich bin sehr froh, dass du hier bist, Evan Randall«, sagte Mrs Shepard. In ihren Augen flackerte etwas auf. »Violet ist der Meinung, dass du zu uns gehörst. Aber um das vollständig festzustellen und auch um unser Vorhaben nicht zu gefährden, musst du mir dringend einige Fragen beantworten.« Die Alte sprach langsam und mit Bedacht.

»In Ordnung.« Evan runzelte die Stirn. Welches Vorhaben? Was waren das hier für Leute?

»Aber du bist müde und ausgelaugt. Wir geben dir einen Platz zum Schlafen. Und später unterhalten wir uns, ja?«

Evan nickte. »Sehr freundlich.« Ihm schwirrte der Kopf.

»Violet, niemand soll ein Wort über unsere Aufgabe verlieren. Sag ihnen das. Ich rede noch mit unserem Neuankömmling«, sprach Mrs Shepard, Violet nickte folgsam und eilte wieder zum Camp.

»Ich will hoffen, dass Violet sich nicht in dir täuscht, Evan Randall. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dem nicht so ist.«

Er lächelte nervös. Was für eine Aufgabe war gemeint?

»Also nun, ich habe einige Angelegenheiten zu erledigen. Violet kann dich den anderen vorstellen. Sie wird gewiss am Lagerfeuer auf dich warten.« Mrs Shepard lächelte, nickte ihm zu und ging an ihm vorbei - zu einem der parkenden Autos.

Evan blies angestrengt die Luft aus und knackste nervös mit seinen Fingerknöcheln. Diese Situation war ihm nicht geheuer. Er war mit einer Frau hergefahren, die er kaum kannte und würde bei Leuten schlafen, die er überhaupt nicht kannte. Aber jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als zum Camp zu gehen.

Der Geruch des Feuers lag in der Luft und die Flammen knisterten. Niemand war draußen, außer Violet und einem Mann; beide standen am Lagerfeuer.

»Hey! Evan, das ist Julian.«

Die Männer schüttelten sich die Hände. »Hi.«

Das war also derjenige, der Violet vor ihren Erinnerungen gerettet zu haben schien.

»Ich führ dich mal rum und stell dich allen vor«, meinte Violet. »Jules, wir sehen uns nachher.« Sie warf ihm ein verliebtes Lächeln zu und steuerte nun mit Evan eine der Hütten an.

»Was ist das hier für ein Ort?«, hakte Evan nach.

»Ein Zuhause.«

»Tja, ich hab aber schon eins.«

»Hör zu, ich darf dir nichts erzählen. Morgen erfährst du mehr.« Violet klopfte einmal an die Tür der Hütte und öffnete sie dann. »Aidan? Ryck?«, rief sie.

»Da ist also der Neue«, gab eine männliche Stimme zurück.

Sie traten ins Innere. Dort befanden sich Betten, Kommoden und lauter Krimskrams. Es war sogar sehr gemütlich eingerichtet und ein paar Kerzen spendeten warmes Licht. Evan war irgendwie überrascht. Das hier war mehr als nur ein Camp. Violet hatte vielleicht recht: Es wirkte tatsächlich, als könnte dieser Ort für manche ein echtes Zuhause sein.

»Leute, das ist Evan Randall«, verkündete Violet.

»Aidan Travis«, sagte der Größere der beiden Typen, die Evan etwas älter schätzte als sich selbst, streckte sich und schüttelte ihm die Hand.

»Deryck Silas«, stellte der andere sich vor - Ein Glatzkopf mit schauerlichen Augen und einem genauso schauerlichen Grinsen.

»Er wird auch herziehen.«

»Und später wird er von Shepard begutachtet?«, fragte Aidan und ließ sich lässig auf eines der Betten fallen.

»Sie wird ihn nehmen, keine Frage.«

»Was hast du denn verbrochen?«, wollte Deryck wissen.

Evan zögerte.

»Schon gut, sag’s einfach. Wir haben hier alle keine weiße Weste mehr. Deswegen sind wir ja hier.«

»Ich würde … lieber nicht darüber sprechen.«

Aidan zuckte mit den Schultern. »Wirst du früher oder später sowieso müssen.«

»Wir sehen uns dann beim Frühstück«, meinte Violet.

»Bis dann.«

Sie verließen die Hütte und betraten schließlich eines der großen Zelte. Dort fanden sie einen weiteren Mann vor, der im Schneidersitz auf seinem Schlafsack saß und gerade etwas auf einen Skizzenblock zeichnete. Evan fiel augenblicklich seine unübersehbare Anmut auf. Wie er da fast schon königlich saß; seine goldenen Haare fielen nach vorn und er hatte schrecklich lange Wimpern. Er sah aus wie einer dieser klassischen Schönlinge.

»Sind hier immer alle um sechs Uhr morgens schon hellwach?«, fragte Evan.

»Naja - um sieben gibt’s Frühstück«, erwiderte der Blonde lächelnd und sah von seinem Block auf. »Ich bin Will. Du bist wohl Evan?«

In der nächsten Hütte trafen sie auf zwei junge Frauen. Die eine war ganz versunken in einen dicken Roman und die andere bürstete ihr Haar.

Beide hielten inne, als Violet und Evan eintraten. »Violeeeet!«, flötete die, die sich das blonde Haar gebürstet hatte und lächelte breit. »Wie ich sehe, hast du die Zielperson dabei.«

Violet lachte. »Das ist Evan Randall.«

»Sehr erfreut.« Die Blondine tänzelte auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Spencer Matthews.«

Die andere rappelte sich ebenfalls auf und legte den Roman beiseite. Was das Aussehen betraf, war sie mit ihrem dunklen Haar das genaue Gegenteil von Spencer und von ihr schien eine gewisse Ruhe auszugehen. Evan fiel auf, dass sie sehr hübsch war, von einer Art leidenden Schönheit, weil er in ihren Augen etwas Trauriges ausmachen konnte. Die Macht der unterschiedlichen Charaktere, die er hier kennenlernte, überwältigte ihn.

»Rayna Drake.«

Sie schüttelten sich ebenfalls kurz die Hände.

»Tut mir leid, dass du hier sein musst.« Sie senkte den Blick und er runzelte die Stirn.

»Wieso?«, fragte er.

»Hierher kommen nur Leute, denen etwas sehr schlimmes widerfahren ist. Das tut mir leid für dich.«

Evan lächelte dankbar und war sehr froh, dass sie ihn nicht nach dem fragte, was er getan hatte.

Im darauffolgenden und letzten Zelt, das sie besuchten, fanden sie eine weitere junge Frau und einen Jungen vor, die sich gerade angeregt austauschten. Aber sie sahen nicht aus, als würden sie streiten, sondern eher so, als wenn sich zwei Freunde über den schweren Schulstoff unterhielten. Die beiden wurden ihm als Lien Chang und Jonah King vorgestellt, welcher nebenbei bemerkt Julians jüngerer Bruder war.

»Ich geh jetzt rüber zu Spence und Ray«, sagte Violet. »Bei Will ist noch was frei. Wir anderen essen gleich, aber du kannst dich erstmal ausschlafen. Hast ganz schön was hinter dir.«

Er nickte dankbar und ging ohne Umwege zu dem Zelt, in dem er eben den anmutigen Will kennengelernt hatte.

»Hey«, meinte Evan, »es heißt, hier ist noch was frei?«

Will nickte. »Ich lass dich mal allein, es gibt gleich Essen für uns.«

Evan war sehr froh, als Will das Zelt verließ und fiel sofort in den zweiten Schlafsack. Verrückt, das alles. Die Menschen, die hier lebten wirkten alle so nett auf ihn. Und jeder war auf seine eigene Art speziell. Doch bevor er seinen Gedanken zu ende fassen konnte, streckte der Schlaf bereits seine Arme nach ihm aus und ließ es nicht zu, dass er weiter nachdachte oder zweifelte.

Evan schlief ein und er schlief ruhig. Bis die Kopfschmerzen kamen. Mit einem erstickten Schrei schreckte Evan hoch und trat um sich. Der Schmerz war bereits wie ein alter Freund. Er kannte ihn gut. Gut genug, um zu wissen, was als nächstes geschehen würde. Ob sein Gesicht sich veränderte, konnte er nicht wissen, doch als er ganz langsam die Augen öffnete und sah, wer über ihm kniete, wollte er einen noch lauteren Schrei von sich geben, aber Kaya hielt ihm den Mund zu.

»Na na, nicht schreien!«, sagte sie und zog einen Schmollmund. Sie sah der Toten, die er damals gefunden hatte, jetzt unglaublich ähnlich. Ihr fehlten einige Haarbüschel, sie war nackt und ihre Haut war scheußlich verfault und aufgescheuert. Er wollte ihren spröden Körper von sich stoßen, aber seine Arme wurden von Dave und Jimmy festgehalten, die allesamt genauso aussahen wie die tote Kaya. Sie löste langsam die Hand von Evans Mund. »Fühlst du das?«, fragte sie und als sie sprach, lief ihr Blut aus den Mundwinkeln. »Sag mir, ob du es spürst!«, rief sie, nahm seine linke Hand und legte sie sich übers Herz. Ihre Haut fühlte sich rau und schrecklich kalt an. Sofort entzog er sich ihrem Griff und kniff die Augen zusammen, um sie nicht sehen zu müssen.

»Kein Herzschlag! Du hast mich umgebracht, Evan!«, jammerte sie und beugte sich ganz nah zu ihm herunter, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten und er durch seine Kleidung ihren toten Körper spüren konnte. Verzweifelt presste er seine Augenlider aufeinander. Er konnte sie nicht ansehen, er wollte nicht wahrhaben, was er aus ihr gemacht hatte. »Verschwinde!«, japste er und wandte sich umher, aber Jimmy und Dave hielten ihn nach wie vor fest. »Es tut mir leid!«

»Mach deine Augen auf, mein Hübscher. In New York hast du auch nicht davor zurückgeschreckt, mich zu küssen!« Sie beugte sich so nah an ihn heran, dass ihre blutigen Lippen über seine streiften.

»Runter von mir!«, keuchte er und drehte seinen Kopf, aber er konnte nicht verhindern, dass sie ihn küsste, ihr fauliges Blut in seinen Mund vordrang, sie mit ihrer verschimmelten Zunge über seine Zähne fuhr. Er wollte schreien, aber ihre Lippen erstickten diesen Laut.

Jetzt riss er wieder die Augen auf. »Du bist nicht real, Kaya! Du bist nicht real!«, rief er.

»Oh, das stimmt, Evan, aber getötet hast du mich trotzdem!«

Jemand musste ihn schleunigst aus dieser Illusion befreien, sonst würde er sich in ihr verlieren. Er konnte förmlich spüren, wie sein Verstand ihn verließ, so wie eine Flüssigkeit langsam einen Abfluss hinunter rann.

»Weg da, Kaya, du hattest deinen Spaß mit ihm! Ich will auch!«, ertönte Ivys Stimme jedoch in diesem Augenblick und Kaya ließ von Evan ab. Aber kaum war sie weg, schmiegte sich Ivy ganz nah an ihn.

»Du wolltest nie was von mir, he? Hattest nur Augen für Kaya. Aber jetzt hab ich meinen Spaß mit dir!«

»Bitte, bitte, runter von mir!«, schrie er verzweifelt, als ihre raue, blutige Hand Stellen erkundete, an die sie nicht sollte. »Runter von mir!«, brüllte er mit aller Kraft. Jemand musste ihn doch hören, jemand musste ihm helfen! Aber Dave und Jimmy lachten belustigt, während sie ihn festhielten und Ivy sich an ihm verging und Evan brüllte und brüllte, aber es konnte ihn niemand hören. Wenn sein Vater ihn jetzt sehen könnte – er würde ihn verspotten.

Evans Gesicht war von heißen Tränen überströmt und er schrie und schrie wie am Spieß, aber sein Leid hatte kein Ende. Kaya und Ivy wechselten sich ab und quälten ihn, starrten ihm in die weit aufgerissenen Augen und veranschaulichten ihm auf jegliche nur vorstellbare Art, wie verloren er war und dass er sie alle umgebracht und dafür diese Strafe verdient hatte.

Eine Stunde verging und er hatte aufgehört zu weinen und zu schreien. Er starrte nur leer auf einen Punkt und versuchte, nicht hinzuhören, als Kaya ihm sagte, was für ein Monster er war, dass ihn niemals jemand befreien konnte und sie ihre Rache kriegen würden.

Und dann endlich. Nach einer Zeit der grässlichsten Qualen, die er je verspürt hatte, öffnete sich das Zelt, Evan fiel in eine langersehnte erlösende Ohnmacht, Kaya und die anderen verschwanden und Will trat ein.


Evan sprach nicht darüber, was ihm passiert war, als er gegen elf Uhr morgens an der Feuerstelle saß und kaum die Kraft aufbringen konnte, die lauwarme Suppe zu sich zu nehmen.

Will hatte gedacht, er würde schlafen, als er in Ohnmacht gefallen war, ihn aufgeweckt und ihm die Suppe gegeben. Evan starrte auf die Brühe. Wieso hatte ihn niemand schreien gehört? Es war unmöglich, dass das alles nur ein Traum gewesen war.

Evan hob den Kopf an und blickte zu Will, der sich neben ihm niederließ. Er hatte keine Ahnung, was Evan gerade durchgemacht hatte. Evan fühlte sich schmutzig und missbraucht, aber der Gedanke, dass er all das vielleicht wirklich verdient hatte, ließ ihn nicht los.

»Ich soll dich, wenn du fertig bist, zu Mrs Shepards Hütte bringen«, sagte Will schließlich und Evan räusperte sich, weil er nicht wusste, ob seine Stimme stark genug war, um jetzt überhaupt einen Ton herauszubringen.

»Ja, sie meinte, dass sie mir noch ein paar Fragen stellen will.« Okay, seine Stimme klang gefestigt.

»Keine Angst, die sind harmlos. Sie will nur wissen, ob du nicht vielleicht doch lügst und ob du wirklich einer von uns bist.«

»Ein schreiender Engel?«

Will blickte auf. »Sowas in der Art. Du kannst Latein?«

Evan nickte, sein Blick ging ins Leere. Dann stutzte er. Wann hatte er Latein gelernt? Er fühlte sich wie taub, als würden all seine Erinnerungen verschwimmen oder durch andere ersetzt werden. Aber er wollte sich jetzt unbedingt ablenken. »Woher kommst du?«, fragte er also und kniff für eine Sekunde fest die Augen zusammen, in der Hoffnung, das würde die Erinnerungen verdrängen.

»Liverpool, ursprünglich. Bin wegen des Camps hier.«

»Was hast … was hast du getan, dass du hergebracht wurdest?«

»Ich habe meinen Bruder ertränkt.« Will sah ihm fest in die Augen. »Ich hab ihn ertränkt, einfach so. Er war gerade mal zwölf. Ich bin gemeinsam mit Rayna hergekommen, damals. Es schien wie ein kranker Zufall, dass wir uns ausgerechnet dann kennenlernten, als uns beiden so etwas Grausames passierte.«

Evan war erschüttert. Er konnte nicht weiter essen. »Wieso weiß die Polizei nichts von unseren Taten? Wieso sind wir hier und nicht in einer Gefängniszelle, wenn wir alle Verbrecher sind?«

»Immer wenn so etwas geschieht, sind die betroffenen Personen, die Opfer und oft auch die Täter, wie ausgelöscht. Niemand scheint sich mehr an sie zu erinnern. Aus allen Polizeiakten gelöscht, aus dem Leben gelöscht. Als hätte es sie nie gegeben«, erklärte Will.

»Das ist furchtbar.«

»Meine Eltern konnten sich nicht erklären, weshalb ich so abweisend geworden war. Ich komme aus einer wirklich wohlhabenden Familie und ich hätte alles haben können, was ich wollte, aber damals wollte ich nur bei Rayna sein, weil sie dasselbe durchmachte wie ich.«

Evan senkte den Blick. »Will, kann es sein, dass ich dich von irgendwoher kenne?«

Er lächelte. »Wahrscheinlich. Ich bin ein Aldrin. Meine Familie hat die Presse angezogen wie ein totes Tier die Aasgeier.«

»William Aldrin? Ihr wart Wohltäter, soweit ich das in Erinnerung hab«, sagte Evan.

»Ist mir egal, was wir waren. Meine Eltern scheren sich nicht darum, dass ich weggezogen bin. Es ist ihnen egal. Sie interessiert nur das Geld.«

»Tut mir leid für dich. Vor allem das mit deinem Bruder.«

»Ja, mir auch … Bist du fertig?«, fragte Will und deutete auf Evans Suppenschüssel.

Er nickte.

»Lass stehen, ich räum das weg. Siehst du die Hütte da? Die größte von allen. Das ist die von Mrs Shepard. Klopf aber an. Sie nimmt das mit der Höflichkeit ziemlich streng.«

Evan lächelte. »Gut. Bis später.« Er rappelte sich auf und ging auf die Hütte zu - Immer noch erschüttert von dem, was ihm geschehen war und dem, was Will getan hatte. Er mochte ihn. Aber … wieso mochte er ihn? Er hatte immerhin seinen Bruder ertränkt! Sie beide waren Mörder, Violet war eine Verbrecherin. Wie in aller Welt war es möglich, dass niemand von ihren abscheulichen Taten wusste? Er musste auf all seine Fragen Antworten erhalten und diese Visionen von Kaya und den anderen loswerden. Dringend.

Er klopfte an der Hütte an. Mrs Shepard öffnete augenblicklich.

»Ah, hallo Evan. Komm rein.«

Er trat in die Hütte. Sie sah ebenso schön eingerichtet aus wie die der anderen. Gemütlich und vertraut. Wie ein kleines Zuhause. Außerdem roch es irgendwie nach … Er konnte den Geruch nicht ganz definieren. Es roch ein wenig wie in einer Kirche. Ihre Hütte hatte etwas an sich, das ihn sich sofort etwas entspannter fühlen ließ.

»Setz dich«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl, der an einem hölzernen Tisch stand. Evan setzte sich ihr gegenüber. »Also, Sie haben Fragen an mich?«

Mrs Shepard nickte.

»Hören Sie, vorher würde ich gerne noch wissen, was mit meiner Arbeit ist und mit meinen Eltern. Violet meinte, sie würde sich darum kümmern.«

»Das tut sie auch. Sie reicht deine Kündigung ein und schreibt deinen Eltern, dass du weg bist, um dir eine Auszeit von allem zu nehmen.«

Evan sprang auf und schmiss dabei beinahe den Stuhl um. »Das … D-Das kann sie aber nicht machen! Auf keinen Fall!«

Mrs Shepard lachte und faltete ihre Hände. »Aber das hat sie schon. Du hast großes Glück, dass du nicht aus der Erinnerung deiner Eltern gelöscht bist. Du kannst sie wiedersehen - sehr bald, nachdem deine Erstausbildung abgeschlossen ist. Aber deinen Job wirst du bis dahin auf keinen Fall ausüben können.«

»Sie haben Entscheidungen über mein Leben getroffen, das ist Ihnen klar, oder!? Einfach so!«

»Nein, mein Junge, leider wurde dir die Entscheidung nicht von mir genommen. Als du das Verbrechen begangen hast, das dich herführte, wurde über dein Leben entschieden.«

Evan hielt inne. Sollte er nicht herkommen, damit sie herausfinden konnte, ob er einer von ihnen war? Und jetzt hatte sie bereits über sein Leben entschieden, als sei sie sich schon hundertprozentig sicher, dass er Teil dieser…dieser Gruppe von Verbrechern war.

»Abgesehen davon, woher kommt das ganze Geld, wenn hier niemand arbeiten darf? Das ist Schwachsinn!«

»Ich habe ein sehr weitreichendes Vermögen, vor allem seit mein Mann gestorben ist und mir sein gesamtes Erbe vermacht hat. Auch William verfügt über einiges an Geld. Außerdem steht es hier allen anderen frei, zu arbeiten. Sie sind schon ausgebildet.«

»Aber ausgebildet für was denn!? Ich weiß nicht, was mit mir los ist und wieso mir all diese schrecklichen Dinge widerfahren! Ich will das loswerden und dann wieder weg hier. Verstehen Sie mich!?«

»Aber ja, das tue ich. Natürlich. Doch das kann ich nicht zulassen. Wir brauchen dich.«

»Wofür?«

Sie seufzte und sah ihn mit einem unergründlichen Ausdruck in den trüben Augen an. »Setz dich wieder. Ich stelle dir nun einige Fragen und danach erkläre ich dir alles: Was das hier ist, was wir vorhaben, wie es weitergehen wird und welche Rolle du in dem Ganzen spielst. Okay?« Die Alte blickte ihn eindringlich an.

»Schön.« Evan setzte sich wieder.

»Bist du gläubig, Evan Randall?«

Er runzelte die Stirn. »Was tut das denn zur Sache?«

»Versuch bitte, nicht zu hinterfragen, weshalb ich dir die kommenden Fragen stelle. Es wäre schön, wenn du einfach antwortest, damit wir fortfahren können.«

»I-Ich habe keine Konfession.«

»Das habe ich nicht gefragt. Lass es mich anders formulieren … An was glaubst du?«

»Ich glaube … Ich glaube, dass jede Religion falsch liegt. Und dass die Wahrheit viel zu groß ist, um sie irgendwie aufzuschreiben.«

»Weshalb denkst du das?«

»Weil mir Dinge passiert sind, die sich nicht mit den Erklärungen der Religion erläutern lassen. Und weil vieles so schwachsinnig ist.«

»Denkst du, es gibt einen Gott?«

»Ich glaube an die Wissenschaft. Aber…Aber es muss einfach einen Gott geben. Er ist vielleicht nicht für unsere Entstehung verantwortlich, aber für unser Bewusstsein, unser Handeln.«

»Schön, aber würde Gott auch Krieg zulassen? Hass, Ausgrenzung, Mord?«

Evan hielt inne. »Nein. Nein, das würde er nicht.«

»Und wer ist dann für diesen Teil unseres Bewusstseins verantwortlich? Von wem kommt das?« Sie sprach so langsam und ruhig, dass es Evan eine Heidenangst bereitete.

»I-Ich weiß es nicht! Was sind das für Fragen, ich—«

»Evan, es ist der Teufel.«

»Ja sicher, der Teufel! Wer auch sonst?«

»Ich würde von dir jetzt gerne wissen, an was du dich erinnerst, was du getan hast.«

»Ich will es nicht aussprechen, okay!?«

»Aber das ist der allererste Schritt, den Dämon loszuwerden.«

»Ich habe … Verdammt nochmal, ich habe gemordet! Ich habe meine Freunde umgebracht. Und als ich nach Hause kam, hatte ich keine Ahnung mehr davon!«

»Und wann sind dir das erste Mal Dinge erschienen, die nicht real sein konnten? Wann kamen die Kopfschmerzen? Wann hat sich deine Erscheinung verändert?«

»Als ich wieder in Brighton war. Kurz nach meiner Ankunft hab ich angefangen, Dinge zu sehen, die niemand sonst sehen konnte.« Von dem Vorfall vor elf Jahren wollte er ihr nichts erzählen. Die Alte musste ja nicht alles wissen.

»Ja, ich verstehe. Und hast du das Gefühl, dass das alles intensiver wird? Oder ebbt es ab?«

»Es wird von Mal zu Mal schlimmer, quälender.«

»Glaubst du, du bist ein guter Mensch, Evan?«

»I-Ich habe—«

»Ich wiederhole: Glaubst du, du bist ein guter Mensch?«

»Ja. Ja, das glaube ich.«

»Das wäre dann alles. Du kannst gehen.«

»Nein, nein, nein. Sie haben mir Antworten versprochen!«

»Da hast du recht. Die bekommst du. Aber bevor wir anfangen, muss ich ein paar Vorbereitungen treffen. Ich helfe dir, den Dämon zu vertreiben, aber bis dahin melde dich bitte bei Rayna. Sie gibt dir deine Trainingskleidung und geht mit dir laufen. Dabei bekommst du deinen Geist frei. Und sie wird dir einige erste Fragen beantworten.«

Evan verdrehte die Augen, wollte protestieren, aber am eisernen Blick der Alten sah er seine Chancenlosigkeit. Er taumelte benommen aus der Hütte und schlug die Tür mit voller Wucht hinter sich zu.

»Wow, sachte, Neuling!«, rief Aidan ihm zu, aber er ignorierte seine Bemerkung.

Er sollte zu Rayna. Antworten. Sie würde ihm Antworten geben.

Rayna wohnte in einer Hütte mit Violet und dieser anderen. Er hatte ihren Namen vergessen. Aber an Rayna erinnerte er sich. Sie hatte gelesen. Einen dicken Wälzer, so wie er es früher gerne getan hatte. Erschöpften Ganges schlurfte er rüber zu der Hütte und klopfte vorsichtig an.

Rayna öffnete die Tür mit einem offenen und warmherzigen Lächeln. Wie konnten sie alle hier nur so ruhig bleiben, bei den Dingen, die vor sich gingen?

»Hey!«, sagte sie. »Komm rein!«

Zögernd trat Evan in die Hütte. Violet und die andere - Spencer war ihr Name gewesen - schienen nicht da zu sein.

»Hat Mrs Shepard dir erklärt, was wir jetzt machen?«, fragte sie und band sich dabei ihr braunes Haar zu einem Zopf.

»Wieso tanzt ihr alle nach ihrer Pfeife? Ich … verstehe es einfach nicht. Wie kann eine alte Frau so viel Einfluss auf euch haben?«, sprudelte es aus Evan heraus, während er seinen Blick nervös durch die Hütte schweifen ließ.

Rayna seufzte. »Ich habe es auch nicht verstanden. Ich bin nächsten Monat ein Jahr hier und weißt du, ich habe gelernt, zu verstehen, wieso wir das tun, was wir nun mal tun.«

Evan ließ sich auf eines der Betten sinken. »Und was tut ihr?«

»Wenn ich dir das sage, wirst du uns für verrückt halten.«

»Das tue ich doch jetzt schon«, gab er zurück und sie lächelte.

»Hör zu, ich werde dir gleich alles sagen, was ich weiß, okay?« Sie schnappte sich eine Trainingsjacke bei der auf der Schulter wieder dieses Symbol aufgedruckt war. »Hier«, sagte sie und warf ihm ein paar zusammengefaltete Kleidungsstücke zu und stellte ihm Schuhe bereit.

»Woher kennt ihr meine Größen?«, fragte er misstrauisch. Das alles wurde zunehmend merkwürdiger.

»Violet hat ein bisschen geforscht.« Rayna lächelte. »Okay, zieh dich um, ich warte vor der Hütte auf dich.«

Als sie die Tür hinter sich schloss, war Evans erster Impuls, sich wie ein Embryo zusammenzurollen und nie wieder aufzustehen. Aber er brauchte diese Antworten, also musste er den Lauf mit Rayna hinter sich bringen und dann würde er endlich mehr erfahren. Also legte er seine Kleidung schleunigst ab, schlüpfte in das Trainingszeug und in seine Turnschuhe und verließ die Hütte, wo Rayna gerade mit Will sprach. Als sie ihn rauskommen sah, küsste sie Will und bedeutete Evan, ihr zu folgen.

Rayna joggte los, Evan lief dicht neben ihr her.

»Wo geht’s jetzt hin?«, fragte er.

»Zur Küste. Die ist wunderschön. Das Beste an Brighton, wie ich finde.«

»Wie weit ist das denn von hier? Ich hab ja nicht mal ‘ne Ahnung, wo wir überhaupt sind.«

»In der Nähe von Burgess Hill.«

»Also außerhalb Brightons?«

»Ja. Aber nicht weit. Mit dem Auto dreißig Minuten.«

»Als Violet mich hergefahren hat, hat das um einiges länger gedauert.«

»Deine Zeiteinschätzung kann verschwimmen. Dafür sorgt der, der dich heimsucht.«

»Warte mal.« Evan blieb stehen. »Von Burgess Hill bis Brighton sind es garantiert um die drei Stunden zu Fuß!«

»Training ist hart. Du musst vorbereitet sein. Und soll ich dir was sagen? Ich wette, wir schaffen es in zwei.« Dann lächelte sie und joggte weiter.


Evan holte tief Luft und hatte Rayna schon bald wieder eingeholt. Die erste Stunde, in der sie sich einen Weg durch die Straßen bahnten, ging schnell vorüber. Doch in der nächsten halben Stunde hatte Evan bereits ganz schön zu kämpfen. Von oben bis unten mit Schweiß bedeckt, stützte er sich auf seine Knie, als er eine Bank sah und blieb schließlich stehen. »Warte!«, japste er. »Hey, ich brauch ‘ne Pause.« Mit rauschenden Ohren und brennender Lunge ließ er sich auf die Bank sinken und verschnaufte. Seine Sicht war getrübt und ihm schmerzte so ziemlich jeder Muskel. Aber Mrs Shepard hatte Recht behalten: Das Laufen half ihm auch, den Kopf freizukriegen. Der Schmerz lenkte ihn ab, ließ ihn etwas klarer denken.

Rayna musste lachen und setzte sich schließlich zu ihm. Sie sah nicht mal halb so fertig aus wie er.

»Wie kannst du das nur … Ich meine … Wie schaffst du das?«, keuchte er. »Ich muss etwas trinken.«

»Eigentlich ist der Sinn ja, zu lernen, ohne auszukommen.«

Evan starrte sie an, als wäre sie verrückt. »Ich sterbe, wenn ich nicht gleich was zu Trinken kriege!«

»Du kannst das auch ohne. Du würdest dich wundern, was ein menschlicher Körper unter extremen Zuständen alles schafft.«

»Was soll das hier, he? Dieses beschissene Überlebenstraining. Ich brauch das nicht!« Und schon holten ihn die tatsächlichen Umstände wieder ein. Wofür tat er das hier überhaupt?

»Glaub mir, du brauchst es«, erwiderte Rayna ernst und sah ihm fest in die Augen.

»Bitte sag mir, was hier los ist. Bitte.«

»Das sollte eher deine Belohnung sein«, meinte sie und seufzte. »Noch eine Stunde, dann erzähle ich dir mehr, okay?«

»Rayna, ich will nicht mehr weiter laufen. Ich will wissen, was das hier soll.«

»Anstrengung löst deinen Geist. Evan, komm schon. Vertrau mir.« Sie streckte ihm ihre Hand hin.

Evan sah sie einen Moment lang an und schüttelte schließlich den Kopf, sprang auf und joggte geradewegs an ihr vorbei.


Die nächste Stunde war die reinste Qual für Evan, während Rayna gerade erst ins Schwitzen kam. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi, seine Lunge schien zu platzen und seine Kehle war ausgetrocknet. Wenn er daran dachte, dass er erst die Hälfte geschafft hatte und den ganzen Weg auch noch zurück musste, wollte er losschreien.

»Okay!«, rief Rayna irgendwann, als sie in einem Stadtzentrum angekommen waren. »Machen wir eine Pause.«

Dankbar hielt Evan inne und ließ sich an eine Hauswand gelehnt auf den Boden sinken. Die Menschen, die sich ringsum befanden, blendete er vollkommen aus, so wie auch die Umstände, in denen er sich eigentlich befand. »Meine Lunge«, keuchte er und hielt sich die Hand auf die sich rasant hebende Brust.

»Du hast Glück, dass ich dich leiden kann. Ich hol uns was. Warte hier.« Rayna ließ ihn kurz allein und Evan presste die Augen fest zusammen, bis er Sterne sah. Verrückt. Das war alles so verrückt und trotzdem musste er gerade lächeln.

Nach ein paar Minuten kehrte Rayna mit zwei kalten Wasserflaschen zurück. »Trink aber nicht zu schnell, sonst übergibst du dich.«

Genüsslich ließ Evan die kühle Flüssigkeit seine ausgetrocknete Kehle hinab rennen. »Das ist unglaublich«, stöhnte er erleichtert und hielt sich die feuchte Wasserflasche an die Stirn.

»Du hast dich wirklich gut angestellt. Besser als ich beim allerersten Mal.«

Evan sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sag das lieber nicht. Ich glaub, nach noch einer Stunde klapp ich ernsthaft zusammen. Müssen wir echt bis zur Küste?«

Rayna dachte einen Moment nach und sah ihn dann an. Ihre Haare begannen, sich im Nacken zu locken, dort, wo sie schwitzte. »Okay, dann verbringen wir die nächste Zeit erstmal mit was anderem, als zu laufen.«

Er legte erleichtert den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Und das wäre?«

»Mit ein bisschen Geschichte.«



Angelus Clamor

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