Читать книгу Angelus Clamor - Marisa Moreno - Страница 13
Kapitel 9
ОглавлениеEvan wurde am nächsten Tag noch vor Rayna wach, die das Gesicht nach wie vor tief in Wills Schlafsack vergraben hatte. Er fühlte sich schrecklich, unausgeschlafen, aber auch nicht in der Lage, noch einmal einzuschlafen. Allerdings war das die erste Nacht ohne irgendwelche Erscheinungen und Angstzustände gewesen und deshalb versuchte er, sich nicht über seine Müdigkeit zu beschweren.
Eigentlich hatte Aidan vorgehabt, ihn an diesem Morgen zu wecken, damit Evan mit seinem Training beginnen konnte, aber da er nicht da war … Evan rappelte sich auf, strich sich das Haar glatt und streckte die steifen Glieder, ehe er aus dem Zelt ging, um zu sehen, ob schon jemand außer ihm aufgestanden war. Tatsächlich: Um das Lagerfeuer herum saßen Lien, Julian und Deryck, die gerade das Frühstück zubereiteten. Bei dem Gedanken an gestern wollte er am liebsten … Na, was denn? Weglaufen wollte er ja auch nicht.
»Morgen«, begrüßte Deryck ihn und Evan nickte ihm zu.
Julian war gerade dabei, Teig auf ein paar Stöcke zu schieben, während Deryck und Lien etwas Milchreis kochten. Stockbrot. Das hatten Evan und sein Vater sich auch zubereitet, wenn sie auf Wanderungen gewesen waren …
»Daddy, ich hab noch Hunger, haben wir noch was?«, hatte Evan als Achtjähriger gefragt, wenn sie abends am Lagerfeuer gesessen hatten.
»Glaubst du, so kannst du überleben? Wenn du dich ständig beschwerst? Komm klar mit dem, was du hast, Junge.«
»Aber Dad, ich will niemals in der Wildnis leben!«
»Ich versuche, dich auf dein Leben vorzubereiten. Man weiß nie, was einem mal passiert.«
Daraufhin hatte er geschwiegen und war mit knurrendem Magen irgendwann eingeschlafen. Eine leise Sehnsucht ergriff ihn plötzlich und er wünschte sich für einen Augenblick diesen Moment mit seinem Vater zurück, auch wenn er so wie seine gesamte Beziehung zu ihm gewesen war: Kalt und distanziert. Lieblos. Aber sein Vater hatte recht gehabt, Evan war bloß zu jung gewesen, um es zu verstehen. Man wusste wirklich nie, was einem mal passierte. Und jetzt saß er hier an einem Lagerfeuer mit Menschen, die er kaum kannte, glaubte an den Teufel und musste sich mit Stockbrot und Milchreis zum Frühstück begnügen.
»Alles okay?«, fragte Julian plötzlich an ihn gerichtet und riss Evan aus seinen Gedanken. Julian sah seinem Bruder wirklich ziemlich ähnlich, auch wenn er ein paar Jahre älter war als Jonah, was Evan vor allem jetzt auffiel, als er sich direkt vor ihm befand. Die Brüder hatten die gleiche dunkelbraune Haarfarbe, eine ähnlich markante Nase und eine beinahe identische Augenfarbe. Julian hatte bloß nicht diese schreckliche Akne, die Jonahs jugendliches Gesicht so entstellte. Deryck und Julian waren wohl die beiden, die sich jetzt am meisten um Jonah sorgten …
Evan schüttelte den Kopf. »Hm?«
»Du siehst ziemlich fertig aus. Geht es dir gut? Kommst du klar?«
»Ja, ich denke schon. Ich hab nur nicht so gut geschlafen.«
Julian musterte ihn skeptisch, legte den Stock, den er gerade aufgehoben hatte, beiseite und ließ sich direkt neben Evan nieder.
»Wir hatten noch nicht so wirklich die Gelegenheit, zu reden«, bemerkte er.
»Ich bin ja auch noch nicht so lange hier, oder?«, entgegnete Evan und versuchte sich an einem Schmunzeln, aber Julian ging nicht weiter darauf ein.
»Hör mal, Evan…Das alles kannst du noch nicht wissen, aber Will ist für mich wie ein Bruder und ich weiß, wie wichtig Rayna ihm ist.« Julian sah ihn eindringlich an, doch Evan runzelte nur die Stirn. »Was willst du mir damit sagen?«, fragte er vorsichtig.
»Ray hat die Nacht bei dir im Zelt verbracht.«
»Oh!« Evan hob erschrocken die Hände – er verstand. »Das … das war nicht…Ich will keine Probleme machen, ganz sicher nicht, aber sie kam zu mir und wollte wohl einfach in Wills Zelt sein. Ich hab nicht…«
Julian sah ihn prüfend an. »Also keine Hintergedanken?«
»Keine Hintergedanken.«
Julian lächelte ihn an und schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken. »Gut, dass das geklärt ist.«
Evan dachte noch über dieses Gespräch nach, als sich nach und nach schon die anderen dazugesellten. Es war bemerkenswert, dass Julian den Eindruck bekommen hatte, Evan könnte jemand sein, der es darauf abgesehen hätte, Frauen zu verführen oder jemandem seine Freundin auszuspannen. Irgendwie erschreckte es ihn, dass er diese Menschen so schlecht kannte und sie ihn so falsch einschätzen konnten.
Violet und Julian begrüßten sich mit einem langen Kuss, bei dem Evan sofort peinlich berührt den Blick abwenden musste, Spencer ließ sich mit ihren geschwollenen verheulten Augen nieder und zuletzt kam schließlich noch Rayna dazu. Evan mied den Blickkontakt zu ihr. Sie saß vor ihm, auf der anderen Seite des Feuers, dessen Geruch in der Luft lag.
»Ich war gerade nochmal bei Will«, erzählte sie Spencer. »Er schläft, aber Shepard sagt, diese Heilmischung wirkt.«
Evan zwang sich, wegzuhören. Irgendwie war es ihm peinlich, dass er neben ihr geschlafen hatte. Er kannte sie nicht, fühlte sich ihr nach gestern aber näher als jedem anderen hier. Beschämt hielt Evan sein Stockbrot ins Feuer und zog sich in sich zurück. Er hatte doch zu keinem Zeitpunkt Hintergedanken gehegt.
Evan bemühte sich jetzt, über etwas anderes nachzudenken. Er wusste genau, was Mick sagen würde, wenn er über seine Gedanken Bescheid wüsste: »Neunzehn und ungevögelt ist armselig genug, neunzehn, in Amerika gewesen und immer noch ungevögelt, ist noch armseliger und in einem Verschwörungs-Camp mit vier heißen Chicks, die an den Teufel glauben, zu sein und sich noch keine von ihnen vorgenommen zu haben, ist noch, noch viel armseliger. Ich will gar nicht davon anfangen, dass du mit einer von ihnen allein im Zelt geschlafen hast!«
Evans Gedankengänge entwickelten sich zu einer fiktiven Konversation mit seinem Mitbewohner.
»Sie hat einen Freund, Mick! Und ich kenne die vier erst seit ein paar Tagen!«
Mick hätte geseufzt und sich eine Zigarette angesteckt. »Freund hin oder her. Beziehungen sind doch eh für den Dreck. Es gibt eben nur drei Dinge im Leben, die wirklich von Bedeutung sind: Ein gutes Geschäft auf’m Pott, Sex mit ‘ner heißen Schnitte und Geld. Und du, mein Freund, hast nichts davon in deinem Leben, so wie der Klo jedes Mal riecht, wenn du drauf warst.«
»Du Schwein!«, hätte Evan zurückgegeben und gelacht. »Ich bin ja nicht wie du, du Widerling!«
Mick hätte einen langen Zug von der Zigarette genommen und ihn belustigt angesehen. »Weißt du was, Ev? Ist ja auch in Ordnung. Ich weiß zwar nicht, wie du so leben kannst, aber ich akzeptier’s ja.«
»Als ob du diese drei Bedeutungen in deinem Leben hast! Ich mein, ich will gar nicht wissen, ob du gut scheißen kannst, aber ‘ne Freundin hast du nicht und Geld … naja, du hast nicht mal einen Job!«
»Träume, Evan, Träume muss man haben.«
Er grinste.
»Evan, dein Brot!«, riss ihn Violets Stimme jäh aus den Gedanken, die ihn schmerzlich daran erinnerten, dass sein Leben komplett verrückt spielte. Sein Brot war völlig schwarz geworden.
»Oh, verdammter Mist!«, stieß er aus und zog den Stock zurück.
»Hier, nimm meins. Ich hatte schon.« Violet reichte ihm ihr Stockbrot und er nahm es mit einem Lächeln entgegen. »Danke.«
»Mit den Gedanken ganz woanders?«, fragte jetzt eine andere Stimme: Rayna. Evan wich ihrem Blick aus und meinte, Julians Augen auf sich spüren zu können. »Ich? Ach so, ja, weiß auch nicht«, murmelte er und konzentrierte sich vollkommen auf sein Essen. Dann trank er einen Schluck aus seiner Wasserflasche, um nicht reden zu müssen. Aber sie machte es ihm nicht so einfach. »Dein Training sollte eigentlich heute beginnen, oder?«
Er nickte.
»Naja, das kommt noch. Wir werden noch öfter laufen gehen, das sag ich dir«, meinte sie und lachte. Er erwiderte nichts und starrte ins Feuer.
Von dem Milchreis hatte er nichts zu sich genommen, obwohl er noch immer hungrig war, doch nachdem er das Stockbrot verschlungen hatte, stand er auf und entfernte sich von der Gruppe. Er hielt es gerade einfach nicht aus, so dazusitzen. Er steuerte auf den See zu, wo er sich schließlich das Gesicht wusch. Das fiktive Gespräch mit Mick kam ihm so real vor, als wäre es wirklich so passiert. Er vermisste ihn gerade. Egal, was für einen scheußlichen Rat er ihm gegeben hatte, wenn ihn Probleme plagten, es half ihm doch immer weiter. Aber nicht hier bei. Nicht in dieser Situation, die so verrückt war, dass sie selbst noch nicht in seinen Kopf ging.
Evan wollte gerade zurück zum Zelt gehen, als er stutzte: Aidan ging geradewegs an ihm vorbei, Richtung Lagerfeuer und Evan schnappte überrascht nach Luft. »Aidan!«, stieß er reflexartig aus und beschleunigte seinen Schritt, um jetzt neben ihm zu laufen. Aidan sah fertig aus und stank. Er war blass, das kurze Haar war fettig und Evans Blick fiel sofort auf seine geröteten Fingerknöchel.
»Na, tut dein Kiefer noch weh?«
Evan musste sich automatisch an die Stelle mit dem Bluterguss fassen. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Sollte er ihn danach fragen, was er mit Will gemacht hatte? Ihm Vorwürfe machen und riskieren, dass er ihm nochmal eine verpasste? Evan lief ein Schauder den Rücken hinunter und er ertappte sich dabei, dass er Angst hatte. Angst, was passieren könnte, Angst davor, zu was Aidan vielleicht fähig war. Aber nun waren sie beinahe am Lagerfeuer angekommen und alle blickten erschrocken auf. Spencer konnte sich nicht mehr zurückhalten und rannte auf Aidan zu. In ihrem Gesicht lag so viel Wut, so viel Abscheu. Alle schienen die Luft anzuhalten und Evan war bereit, Aidan von ihr weg zu zerren, ehe er ihr wehtun können würde, obgleich er niemals auch nur ansatzweise stark genug wäre, um gegen diesen Typen anzukommen, der drei Köpfe größer und zwei Mal so breit war wie er selbst.
»Du verdammtes Schwein!« Sie holte aus und schlug ihm auf die Wange. »Du hast Will fast umgebracht! Und dann verschwindest du einfach so, ohne Verantwortung für deine Scheiße zu übernehmen und hast jetzt noch die Nerven, hier einfach wieder aufzutauchen!?«
Aidan sah sie mit völlig leerem Blick an und hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als sie ihn geschlagen hatte.
»Und jetzt? Holst du dir die nächste Knarre und schießt jetzt vielleicht auf mich!?« Spencers Unterlippe bebte.
»Wo ist Mrs Shepard? Ich muss mit ihr darüber sprechen, was passiert ist.« Er ging nicht mal ansatzweise auf sie ein.
»Ach ja!? Musst du das!? Sie wird dich aus dem Camp werfen! Wie sollst du uns bitte noch helfen!? Du hast doch keine Ahnung, was der Teufel überhaupt will, Aidan, vielleicht bist du sogar eine seiner Todsünden!«, redete Spencer sich in Rage, dass ihr Kopf dunkelrot anlief, während sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
»Spencer … Er ist keine Todsünde«, sagte Violet beschwichtigend, weil sie wusste, wie schwer dieser Vorwurf wog, stand auf und zog sie von Aidan weg, ehe sie zu weinen begann. Abermals.
»Shepard ist in ihrer Hütte. Ich komme mit dir«, sagte Evan schließlich, um die Situation etwas zu entschärfen und weil er ihn jetzt einfach nur von Spencer weg kriegen wollte.
»Ich will nicht, dass du mitkommst. Ryck?« Aidan blickte Evan abwertend an. So, als hätte er mit dem Ganzen doch überhaupt nichts zu tun, weil er erst so kurze Zeit bei ihnen war. Doch das interessierte Evan jetzt recht wenig, denn glücklicherweise stand Deryck auf und gemeinsam mit Aidan ging er zu Mrs Shepards Hütte. Evan konnte spüren, wie die Spannung sich mit jedem Schritt, den er sich von der Runde entfernte, lockerte.
»Na ganz super«, stöhnte Julian, während Violet mit Spencer in deren Hütte verschwand, um die Blondine wieder runterzubringen. »Das schwarze Schaf ist zurückgekehrt.«
Keiner aß mehr.
»In Ordnung, wenn wir das Training heute noch einmal ausfallen lassen?«, fragte Rayna und alle waren einverstanden.
»Denkt ihr, Mrs Shepard schmeißt ihn jetzt wirklich raus?«, wollte Evan wissen und ließ sich neben Julian nieder.
»Das kommt ganz drauf an, was für eine Erklärung Aidan für sie hat. Wenn er sie davon überzeugen kann, dass es nicht seine Absicht war, dann wird sie ihn wohl bleiben lassen. Immerhin brauchen wir jeden, den wir kriegen können«, sagte Lien.
»Aber war es denn ein Unfall? Das hat Will mir nämlich auch gesagt«, sagte Rayna, die angespannt ihre Finger knetete.
»Alles ging ziemlich schnell«, sagte Julian und seufzte. »Ja, es kann sein, dass es ein Unfall war … Aber ich wünschte mir insgeheim, dass es keiner gewesen ist. Wer hier außer Spence und Ryck kann den Kerl noch leiden? Ich will, dass er fliegt. Wegen ihm ist Jonah gegangen und er behandelt Spencer wie ein Stück Dreck.«
»Er ist gut im Nahkampf, sehr gut sogar. Und jetzt stell dir mal vor, er wäre weg und wir hätten den Auftrag und würden uns gerade im Kampf mit irgendeiner Todsünde, oder schlimmer: mit dem Teufel selbst, befinden. Niemand kann so gut kämpfen wie er«, warf Rayna ein, was Evan wunderte, da sie Aidan gewissermaßen verteidigte, obwohl er gestern ihren Freund niedergeschossen hatte.
»Leute, sie kommen zurück. Mit Will!«, bemerkte Lien auf einmal und Rayna sprang sofort auf. »Er ist wach!«
Mrs Shepard, Aidan, Deryck und Will, der immer noch unglaublich angeschlagen aussah und dessen mit Heilkräutern eingeriebene Schulter in einer selbstgemachten Schiene lag, begaben sich zu ihnen.
»Mitglieder des Angelus Clamor«, begann Mary-Alice Shepard schließlich als würde sie eine Versammlung eröffnen. »Ich berufe hiermit eine Camp-Sitzung ein, mit dem Betreff des Konflikts zwischen Aidan Travis und William Aldrin.«
Die Runde schwieg und alle hielten die Luft an, als Aidan das Wort ergriff: »Es tut mir leid, was gestern passiert ist. Nicht alles, aber vor allem das mit Will. Ich hab die Waffe schon länger. Ich hab mich einfach nicht sicher gefühlt und deshalb habe ich das Teil eben immer bei mir getragen.«
»Und was hat dich dazu gebracht, das Ding gegen Will zu richten!?«, fragte eine aufgebrachte Rayna.
»Das hab ich nicht. Ich wollte sie nicht gegen Will verwenden. Das ist mein Ernst.«
Violet und Spencer waren zurückgekehrt und standen etwas weiter von der Runde entfernt. Spencer lachte spöttisch auf.
»Wofür wolltest du die Waffe denn verwenden? Abgesehen davon, dass du mir eine meiner Waffen gestohlen hast, hast du ein anderes Campmitglied verletzt. Das ist eine der größten Sünden, die Gott sich vorstellen kann«, hakte Mrs Shepard nach und Aidan blickte betreten zu Boden. Er schämte sich, schämte sich wie verrückt, den anderen zu sagen, was Sache war. Man konnte beobachten, wie er sich dagegen sträubte. Alles war still, bis auf das Feuer, das noch knisterte. Aidan holte Luft. »Ich wollte sie … für mich verwenden.«