Читать книгу Angelus Clamor - Marisa Moreno - Страница 9

Kapitel 5

Оглавление

»Okay, also: Angelus Clamor steht für—«

»Den einen Engel und mehrere, die schreien. Ja, das hab ich schon rausgekriegt.«

»Okay«, sagte Rayna. »Dann fange ich erstmal ganz von vorne an. Als Mrs Shepard ihren Ehemann ermordet hat, war ihr nicht klar, was sie da getan hatte. Sie ist…naja…verrückt geworden. Hat angefangen, Gespenster zu sehen, wurde heimgesucht, hat gewisse Dinge getan…Und als das alles nach einiger Zeit so viel wurde, dass sie …« Rayna hielt inne.

»Dass sie was?«, fragte Evan und grub seine Finger so fest in die Wasserflasche, dass sie laut knisterte und sich nach innen beulte.

»…dass sie sich umbringen wollte, da hat sie in den Himmel geschaut und an Gott gedacht und daran, dass das alles so nicht richtig war, dass Gott so etwas niemals zulassen oder dulden würde. Sie wollte eigentlich Nonne werden, weißt du? Und deshalb traf sie den Entschluss, dass sie diese Tat nicht grundlos begangen hatte. Sie konnte sich nicht mit der Erklärung zufrieden geben, dass sie plötzlich krank oder verrückt sein sollte. Es musste einen Grund geben, einen Verantwortlichen. Den Teufel.«

Evan biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszuprusten. Immer wieder dieses Wort. Teufel. Er fand die Menschen in diesem Camp wirklich nett und besonders, doch wenn Rayna wieder so etwas von sich gab, erinnerte er sich daran, wie vollkommen grotesk das alles war. Dennoch war er interessiert, wie sich all diese Leute zusammengefunden hatten und plötzlich wie eine neuartige Sekte etwas alle gemeinsam zu glauben schienen. »Okay, die Alte ist also wahnsinnig. Und weiter?«

Rayna warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Sie hat Nachforschungen betrieben und ein Konzept entwickelt. Sie hat Dinge herausgefunden und dann dieses Camp gegründet und sich auf die Suche nach Leuten gemacht, die ihr Schicksal teilten. Und Evan, glaub mir, den Teufel gibt es. Aber nicht so, wie du ihn dir vielleicht vorstellst.«

»Rayna, du glaubst das nicht im Ernst, oder?«

»Du wolltest Antworten und das sind sie. Ich sollte dir das hier wahrscheinlich noch gar nicht erzählen, aber…Es gibt die sogenannten drei Weisheiten der Religion. Und um eine davon wissen wir dank Mrs Shepard. Hätte sie nicht diese besondere Fähigkeit gehabt, über den Tellerrand hinauszublicken, wären wir mit Sicherheit bald alle tot. Und mit tot meine ich auch tot.« In Raynas dunklen Augen sah Evan, wie ernst sie das meinte, wovon sie sprach. Sie kämpfte einen Moment lang mit sich und zögerte erst, ehe sie weiter erzählte. »Der Teufel ist im Besitz des Artefakts der Ausgeglichenheit. Es heißt, dass Gott und der Teufel einen Deal gemacht haben - bevor die Menschheit alles einnahm, bevor wir, diese … Kreaturen mit Werten, Kulturen und einem Bewusstsein, überhaupt existierten. Der Teufel musste seine Kräfte an dieses Artefakt binden, sodass er seine volle Macht nur ausüben kann, wenn er dem Artefakt ganz nahe ist. Und Gott darf niemals auf Erden weilen. Er hat lediglich eine Person zur Verfügung, die er zu seinem persönlichen Boten machen kann, der aber einen freien Willen besitzt. Einen Engel.«

»Und eurer Meinung nach … begehen wir diese Verbrechen, weil der Teufel das Artefakt hat?« Evan bekam eine Gänsehaut. Rayna klang wirklich, als wäre sie Mitglied einer Sekte. Was, wenn diese Shepard ganz einfach verrückt war und anderen Verrückten jetzt all diese … Fantasien einredete?

»Das hat er. Auf diese Weise konnte er uns das antun. Er hat die Todsünden zu mehr gemacht als nur Sünden. Sie alle leben in Menschen, sind seine ganz besonderen Handlanger. Und er will für Mord sorgen, Auslöschung, Qual, Schmerz. Deshalb benutzt er uns. Deshalb und aus Gründen, die wir uns noch nicht erklären können. Unsere Aufgabe als die Einzigen, die dieses Wissen besitzen, ist es, alle Todsünden zu finden und durch sie an ihren Machthaber heranzukommen.«

»Was ist mit dem Engel? Wieso findet ihr nicht ganz einfach den? Der kann das doch regeln.«

»Wir wissen, dass der Teufel alle Todsünden in sich vereint, wir wissen wahrscheinlich auch, wie wir ihn finden können. Aber Evan, wie stellst du dir den Engel vor? Wie sollen wir ihn finden? Entweder er findet uns, oder wir müssen es allein vollbringen«, schloss Rayna.

»Alles klar«, meinte Evan sarkastisch und stand auf. »Teufel, Engel, Todsünden, ein Artefakt … Rayna, diese Frau redet euch doch bloß irgendwelchen Schwachsinn ein. Das alles hier, das ist gefährlich!«

»Evan, du musst mir glauben. Wie erklärst du dir deine Tat sonst? Was auch immer du getan hast, es muss schrecklich gewesen sein und du hast das nie und nimmer aus freiem Willen gemacht!«

»Ich habe keine Ahnung, wie ich mir das erklären soll, aber das klingt alles…Woher soll Shepard diese Dinge denn überhaupt wissen? Du weißt, dass das verrückt ist, oder?«

»Ich weiß, wie das klingt. Ich war auch an deinem Punkt. Aber lass dich drauf ein. Bitte.«

»Wie denn, Rayna, wie soll man so etwas glauben!? Hast du Beweise?«

»Mrs Shepard wird, sobald du mit deiner Erstausbildung fertig bist, aus uns ein Team bilden, das die Spuren verfolgt, die in den Jahren, in denen es das Angelus Clamor schon gibt, gesammelt wurden. Und ich wette, du als Neuling wirst dabei sein. Und dann kannst du es selbst erleben.«

In Evans Gedanken blitzte plötzlich Kaya auf und die Szene, wie er sie ermordet hatte. Rayna hatte recht. Er konnte sich das nicht erklären. Aber er konnte genauso wenig glauben, was sie ihm gerade erzählt hatte. Doch was würde passieren, wenn er einfach ging und das hier hinter sich ließ? Er würde an den Erinnerungen an seine Tat zerbrechen. Diese Menschen hier schienen zu verstehen, was er durchmachte, boten ihm Hilfe.

»Weißt du was?«

Rayna verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Was?«

»Ich werde mich darauf einlassen. Aber nur, wenn wir uns jetzt auf der Stelle was zu essen holen.«

Rayna sah ihn immer noch gekränkt an, doch Evan lächelte und da musste sie auch grinsen.


Die zwei Pizzastücke, die Evan verschlungen hatte, waren das vermutlich Köstlichste, das er je zu sich genommen hatte. Weit weg von Gedanken an Dämonen oder den anderen verrückten Kram, den er hier erzählt bekommen hatte, schien sein Magen ihm buchstäblich für das Essen zu danken.

»Okay«, sagte Evan schließlich und schluckte den letzten Bissen hinunter. »Das war unglaublich.«

Rayna, die nur ein Stück gegessen hatte, beobachtete ihn und musste lachen. »Ja, stimmt. Danielle macht die besten Pizzen.«

»Dann warst du schön öfter hier?«

»Ja, eine Zeit lang fast jedes Wochenende mit Will.«

»Er hat mir erzählt, dass er aus Liverpool ist. Woher kommst du? Deinem Akzent nach zu urteilen, bist du doch Amerikanerin. Wie kommt es dann, dass du hier bist?«

»Ja, ich bin aus Monterey. Ich hab Will kennengelernt, als ich einen Jahrmarkt in Liverpool besucht habe, mit einem Teil meiner Familie, der schon länger in England lebt, weißt du? Zu der Zeit ging es mir bereits…sehr schlecht. Und ihm auch.«

»Und wie hat Shepard dann Wind davon bekommen?«

Rayna tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab und machte sich dann daran, ihren Zopf neu zu binden, als wäre es für sie das einfachste der Welt, darüber zu sprechen. »Wir haben uns bei ihr gemeldet. Will hat im Internet eine Anzeige gesehen: Ich kann euch helfen, wenn ihr Todesängste habt oder sowas ähnlich bescheuertes. Aber wir sind drauf eingegangen, weil wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten und wir haben Hilfe gesucht, wo wir sie nur kriegen konnten.«

»Was … was hast du schlimmes gemacht?«, fragte Evan zögernd. Er wollte es unbedingt wissen. Jemand wie sie konnte niemals etwas so schreckliches wie er tun. Das war unmöglich.

Rayna senkte den Blick. Will wusste es sicherlich. »Seit ich mich daran erinnere, kann ich mir im Spiegel nicht mehr selbst in die Augen sehen.«

»Was war es?«

»Ist es okay, wenn ich es dir nicht erzähle? Ich … Ich verspreche auch, dich nicht nach deiner Tat zu fragen.«

Irgendwie kränkte Evan das, aber er konnte sie ja verstehen. Allerdings hätte er sich ihr geöffnet. Sie gab ihm das Gefühl, dass er das bei ihr tun könnte. »Natürlich.« Vielleicht war es aber auch besser so.

»Danke. Ähm … Wollen wir uns dann jetzt wieder auf den Rückweg machen?«

»Wenn das bedeutet, dass wir wieder laufen, dann lieber nicht.«

»Hey, ich hab dich schon geschont. Komm!«, rief sie, nahm ihn bei der Hand und zog ihn von seinem Stuhl.


Glücklicherweise hielt Evan durch, ohne mehr als vier Pausen einzulegen, was ihn sogar selbst sehr wunderte. Als sie wieder im Camp angekommen waren, ließ Evan sich völlig verschwitzt und erleichtert auf die Wiese fallen. Rayna atmete jetzt ebenfalls heftig und stemmte ihre Hände in die Hüfte.

»Hey! Ihr wart ja schnell!«, begrüßte Will die beiden und schlang seine Arme um Rayna.

»Nicht Will, ich bin ganz verschwitzt!«, sagte sie lachend, aber er küsste sie trotzdem. Etwas peinlich berührt rappelte Evan sich auf und wandte sich von den beiden ab. Sein Schädel brummte noch vor Anstrengung, aber er fühlte sich gut. Irgendwie befreit und nicht, als stünde er inmitten eines Tunnels, an dessen Ende er seinen Verstand verlieren würde.

»Evan!«, rief Violet plötzlich, die gerade aus ihrer Hütte kam und eilte zu ihm, gab ihm seine Kleidung, die er in ihrer Hütte gelassen hatte.

»Hey«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wie kommst du klar?«

Er schluckte. »Jetzt gerade geht es mir besser.«

»Mrs Shepard hilft dir gleich. Du sollst zu ihr kommen, wenn du dich gewaschen und umgezogen hast.«

»Wo kann ich mich hier überhaupt waschen?«

»Etwas weiter da unten ist ein kleiner See. Und … dein Handy hat nicht aufgehört zu klingeln und deine Mutter versucht, dich zu erreichen. Auch Pres und ein gewisser Mr Danburry haben angerufen.«

Evan seufzte. Und mit einem Mal waren da wieder all die Probleme, all der Schrecken und all das Groteske. Aber nein. Noch nicht. Er wollte nur noch eine kurze Weile in der Vorstellung leben, alles wäre in bester Ordnung, in der Vorstellung, es wäre normal, hier bei diesen fremden Menschen zu sein. »Ich regele das nachher.«

»Okay«, meinte sie und Evan ging los Richtung See. Dort zog er Schuhe und Trainingskleidung aus und ließ seine Füße ins Wasser baumeln. Er sah sich verstohlen um, ob ihn wer beobachtete, zog seine Boxershorts aus und glitt nun vollständig ins erleichternd kühle Wasser. Er wusch sorgfältig und in aller Ruhe, um jeden Moment, in dem er nicht an seine Morde denken musste, herauszuzögern, sein Haar. Das Wasser war so kühl, dass es seinen Körper zu betäuben schien und den konfusen Schmerz und die Gedanken an das Wirrwarr in seinem Leben und an Gott, Engel, den Teufel und Todsünden vollkommen vertrieb. Er holte Luft und tauchte unter Wasser. Hier unten war alles so still und ruhig. Das Wasser war klar und sauber, nur ein paar Meter unter ihm war bereits der Boden des kleinen Sees.

Evan erschrak, als er plötzlich ein weiteres Paar Beine ausmachen konnte, tauchte augenblicklich auf und schnappte nach Luft. Ein paar wenige Meter weiter wusch Rayna sich gerade das Haar.

Sie trug einen Sport-BH, was Evan ziemlich erleichternd fand, aber dennoch wollte er nicht länger mit ihr im Wasser bleiben. Er wollte gerade aus dem Wasser steigen und schnell seine Hose anziehen, als sie sich zu ihm drehte.

»Und, hast du nachgedacht?«, fragte sie und er räusperte sich, versuchte, ihr in die Augen zu schauen und seinen Blick nicht an andere Stellen huschen zu lassen.

»Ü-Über was?«, fragte er und widmete sich mit voller Konzentration der Aufgabe, wiederholt sein Gesicht zu waschen.

»Über das, was ich dir heute erzählt habe. Denkst du, du kannst mir glauben?«, fragte Rayna und strich ihr Haar nach hinten.

»Ich weiß nicht, ich …«

»Glaub mir, ich verstehe dich nur zu gut, aber … Hier, schau mal.«

Sie kam auf ihn zu und blieb nur einen halben Meter von ihm entfernt stehen. Evan schluckte schwer und sah ihr fragend in die Augen. Er konnte spüren, wie er vor Verlegenheit rot wurde. Ihr hingegen schien das überhaupt nichts zu machen.

»Das ist echt«, erklärte sie und streckte ihm ihr feuchtes Handgelenk entgegen, an dem die gleiche Tätowierung prangte, das er schon bei Violet gesehen hatte.

»Das steht für Angelus Clamor, richtig?«, fragte er und strich über das Symbol, zog seine Hand aber sofort wieder zurück.

Sie nickte. »Glaubst du, ich hätte das, wenn mir die Aufgabe des Camps nicht ernst wäre?«

Er schüttelte den Kopf.

»Vielleicht kannst du klarer drüber nachdenken, wenn du…diese Besessenheit endlich los bist«, meinte sie und entfernte sich wieder von ihm.

»Besessenheit?«

»Der Teufel hat dich zu seinem Werkzeug gemacht und durch deine Hand gemordet. Und wenn er dich unter seiner Kontrolle hat, zieht das nicht einfach an dir vorbei.«

»Der Teufel …«, murmelte Evan mehr zu sich selbst und das Gesicht des kleinen Jungen, der sich vor elf Jahren über die tote Frau gebeugt hatte, blitzte in seinen Gedanken auf. Jemand so grausames … Er musste jetzt dringend seine verpassten Anrufe beantworten und dann mit Shepard sprechen.

»I-Ich würd gern …«, stammelte Evan und deutete aufs Camp.

»Oh, sicher«, sagte sie lächelnd und drehte ihm den Rücken zu.

Schnell stieg er aus dem Wasser, zog sich an und hastete zu seinem und Wills Zelt, schnappte sich sein Handy und erschrak: Zwölf verpasste Anrufe von seiner Mum, einer von Preston und zwei von Mr Danburry. Er hatte einiges klarzustellen.

Aber eins stand für ihn mittlerweile fest; er hatte einen Entschluss gefasst, in dem Moment, in dem er an den Jungen gedacht hatte, der so sanft über den wunden Schädel der Toten gestrichen hatte: Evan würde hier bleiben.


»Hi, Mum … Ich bin’s«, stammelte Evan zögernd und biss sich mit zusammengekniffenen Augen auf die Unterlippe. Er hatte sich im Gras niedergelassen und starrte hinüber zu den Hütten und Zelten. Verrückt. Das war alles verrückt. Aber das war er auch und deshalb hatte er das dumpfe Gefühl, dass er hierher gehörte.

»Evan! Verdammt nochmal, wo in Gottes Namen bist du!?«, rief seine Mutter mit vor Sorge zitternder Stimme. Es tat weh, sie so zu hören und doch beabsichtigte er keineswegs, zurückzukehren und ihr das Leid zu nehmen.

»Es tut mir leid. Ich…Ich bin mit Freunden unterwegs. Ich brauche einfach eine Pause von…allem.«

»Dein Auto steht noch hier, Mick hat auch keine Ahnung, wo du bist, du hast … Gott, Evan, du hast deinen heiß geliebten Job gekündigt und … und eine merkwürdige Nachricht hinterlassen, die so gar nicht zu dir passt! Wieso tust du mir das an?«, fragte sie und klang schwach und traurig und unglaublich enttäuscht.

»Mum, ich wollte nicht—«

»Margret, gib mir das Telefon!«, ertönte im Hintergrund jetzt die tiefe grummelnde Stimme seines Vaters.

Evan erstarrte und rupfte frustriert einige Grashalme aus der Wiese. Er wollte ganz sicher nicht mit seinem Vater reden, doch in der Leitung knisterte es und dann hatte Lance Randall das Telefon. »Du wagst es, dich wie ein Feigling aufzuführen und deiner Mutter solche Sorgen zu bereiten!?«, rief, ja schrie er fast.

Und im Hintergrund die zarte Stimme seiner Mum: »Lance, sei nicht so streng mit ihm, bitte, Lance.«

»Ach was, der Junge tickt nicht mehr richtig!«

Evan schnaubte. Er hasste es, wenn sein Vater so sprach. Er hatte es schon immer gehasst. »Jetzt hör mir mal zu! Ich bin kein kleines Kind mehr, klar? Ich bin erwachsen und deshalb bin ich dir weder Rechenschaft schuldig, noch lasse ich mich von dir behandeln als wäre ich dein Leibeigener! Mir geht’s gut, ich komme euch bald besuchen und Mum braucht sich keine Sorgen zu machen. Ist das klar?«

Das erste Mal in seinem Leben hatte Evan seinem Vater ernsthaft die Stirn geboten und in seinem tiefsten Innern machte ihn das stolz. Das darauffolgende Schweigen schien jedoch schier endlos.

»Wenn du schon weglaufen musst, dann tu wenigstens, was du tun musst. Keine halben Sachen, hörst du mich?«, rief Evans Vater. In seiner Stimme glaubte er, auch ein wenig Sorge herauszuhören. Aber vielleicht irrte Evan sich auch.

»Lance, bitte! Gib ihn mir wieder!« Schließlich war seine Mutter wieder am Hörer.

»Mum, mach dir keine Gedanken. Ich komme ja wieder.«

Sie schniefte und musste erstmal tief Luft holen, ehe sie sprechen konnte. »Wir wollten dir das eigentlich heute beim Essen in Ruhe sagen, aber du lässt mir ja keine Wahl.« Sie schwieg so lange, dass Evan schon daran zweifelte, dass sie überhaupt weitersprechen würde. »Dein Vater und ich lassen uns scheiden. Wir haben entschieden, dass es so am Besten ist.«

Evan traf die Nachricht zwar unvorbereitet, aber überrascht war er nicht. Er erinnerte sich noch daran, als sich Prestons Eltern in der achten Klasse scheiden gelassen hatten. Der Ärmste war am Boden zerstört gewesen. Doch Evan wusste, dass seine Eltern längst nicht mehr das füreinander empfanden, das man als Eheleute empfinden sollte. »Mum, du lässt dich schon zu lange von ihm herumkommandieren. Ich verstehe es.«

»Schatz, ich liebe dich. Und dein Dad liebt dich auch. Er will nur, dass du ein gutes Leben hast. Er meint es gut.«

»Mum, ich muss jetzt auflegen. Bis bald.« Ohne ihre Abschiedsworte abzuwarten, legte er auf. Einen Moment lang starrte er nur nach vorn auf seine nun von Grasflecken bedeckte Jeans. Seine Eltern trennten sich also. Nach all den Jahren Ehe. Vielleicht hätte er einige Dinge lieber nicht gesagt … Aber andererseits bereute er es auch nicht. Evan holte tief Luft. Eigentlich war er Preston und Mr Danburry noch eine ordentliche Erklärung für sein ungewöhnliches Verhalten schuldig, aber nach diesem Gespräch hatte er dazu einfach keine Kraft mehr. Also rappelte er sich auf, klopfte ein paar Grashalme von seiner Hose ab und machte sich auf den Weg zu Mrs Shepards Hütte, in der er auf weitere Antworten hoffte.

»Evan, schön, dass du hier bist«, sagte Mrs Shepard, als Evan vor ihr in der Hütte stand, in der es jetzt nicht mehr nach Kräutern roch, so wie bei seinem letzten Besuch, sondern nach etwas ganz anderem Undefinierbarem. Evan rümpfte die Nase. Es stank.

»Und wie funktioniert das jetzt? Was tun sie mit mir?«

Mrs Shepard lächelte, nahm ein Streichholz und zündete einige herumstehende Kerzen an, ehe sie unter einem braunen Tuch eine Badewanne enthüllte und der Gestank sich verstärkte.

Evan wandte angewidert den Kopf ab. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Alte an.

»Damit wir mit der Prozedur beginnen können, bitte ich dich, jetzt deine Kleidung abzulegen.«

Evan lachte nervös auf. »Sind Sie verrückt? Ich steige nicht in diese Brühe!« Er beugte sich etwas vor, um in die Wanne sehen zu können. Das Wasser war klar, doch der Gestank nach säuerlicher Verwesung blieb.

»Das ist keine Brühe. Das ist Weihwasser. Weihwasser und…Tod.«

Verständnislos starrte er sie an. »Tod!?«

»Es sind bloß Fischkadaver, Evan, mach dir keine Sorgen. Aber der Tod muss bei diesem Ritual stets präsent sein, um dich aus des Teufels Fängen zu befreien. Und jetzt entledige dich bitte deiner Kleidung und steige hinein.«

Mit zusammengekniffenen Augen dachte Evan einen Moment darüber nach, einfach zu verschwinden und nicht das zu tun, was sie sagte. Doch alle anderen hier hatte sie anscheinend von der … Besessenheit, wie Rayna es genannt hatte, erfolgreich befreien können. Und er wollte Kaya, Ivy, Jimmy und Dave niemals wiedersehen.

»Schön«, grummelte er also und knöpfte seine Hose auf. Shepard machte dabei keinerlei Anstalten, sich abzuwenden. Er zog sich bis auf die Unterhose aus.

»Die auch, Evan. Du musst rein sein.«

Brodelnd vor Wut und voller demütigender Scham tat er, was die alte Frau ihm befahl und stieg angewidert in die stinkende Wanne.

»Und jetzt … stell dich.« Mit diesen Worten packte Mrs Shepard Evan an den Schultern und drückte ihn mit immenser Kraft unter Wasser. Und dann prasselten die Kopfschmerzen zum vermeintlich letzten Mal auf ihn ein.

Evan hatte nicht mal die nötige Zeit, um zu strampeln oder sich aus Shepards Griff zu befreien. Er hatte die Kopfschmerzen jetzt schon häufiger verspürt, aber es gab kein einziges Mal, bei dem es wohl weniger quälend sein würde. Sofort, als er von Weihwasser und … wie Shepard es genannt hatte … von Tod umgeben war, befand er sich nicht mehr in der Badewanne, sondern lag auf seinem alten Bett, dem, das seins gewesen war, als er noch bei seinen Eltern gewohnt hatte.

Er schlug die Augen auf und starrte geradeaus an die weiße Decke. Verwirrt richtete er sich auf. Sein altes Zimmer mit den blauen Wänden. Seine Kleidung. Er erinnerte sich noch sehr gut an diese Situation, denn seine Hände waren mit etwas Farbe bedeckt. Evan war wieder in seinem sechzehnjährigen Ich und die Farbe an seinen Händen kam von Spraydosen, mit denen er damals die hintere Hauswand verschönert hatte - Ein rebellischer Akt, der seinen Vater wütend machen sollte, wobei er natürlich keinen blassen Schimmer gehabt hatte, dass sich sein Vater an diesem Tag mit seinem Vorgesetzten aus der Kanzlei treffen und dieser Evans Kunstwerk dann zu sehen bekommen würde.

Es war jetzt bereits Abend. Evan, der neunzehnjährige Evan, der keine Ahnung hatte, wieso er wieder sechzehn und in seinem alten Zimmer war, wusste, was damals geschehen war. Sein Vater war ins Zimmer gestürzt. Mit hochrotem Kopf und vor unbändiger Enttäuschung schnaubend.

Und so geschah es zu seinem Entsetzen auch jetzt und sofort schlug Evans Herz so rasend, dass er nach Luft schnappen musste. Sein Dad riss die Tür auf, stürmte herein und packte Evan am Kragen, riss ihn vom Bett und schlug ihn gegen die Wand. »Was hast du da gemacht, he? Hab ich dir in deinem Leben nie was beigebracht? Was fällt dir ein, dich so zu verhalten!?«, rief er und verpasste Evan einen Fausthieb. Er war wie damals wie gelähmt, verspürte keinerlei Schmerz.

»Du hast mir alles versaut, wie immer, du hast es versaut!«, rief er immer wieder und schlug auf seinen Sohn so lange ein, bis dieser mit starrem Blick, um vor seinem Vater nicht zu weinen, auf den Boden sank und Es tut mir leid stammelte. So schlimm wie in dieser Situation war es nie wieder gewesen.

Und in diesem Moment, da hatte er Angst gehabt. Angst vor seinem eigenen Vater.

Aber die Umgebung veränderte sich plötzlich, alles verschwamm um ihn herum und nun befand er sich am See, in New York, neben Kaya. Die anderen waren auch da und Ivy alberte mit Jimmy und Dave herum, die im Stillen beide um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit kämpften. Es war schon sehr spät und das Lagerfeuer knisterte. Der Geruch der Marshmallows, die sie geröstet und gegessen hatten, lag noch in der Luft.

Evan war glücklich gewesen, in diesem Moment. Glücklich wie nie zuvor und weit weg von seinem Dad, unabhängig, frei.

Er blickte auf das ruhig schwappende Wasser des Sees, seine Augen auf unscharf gestellt, als Kaya ihre Finger plötzlich zwischen seine schob. Er blinzelte und blickte sie überrascht an. Von seiner Hand aus verbreitete sich ein Schauder durch seinen gesamten Körper.

Kaya lächelte ihn mit ihren schmalen Lippen an, in ihren hellen Augen glänzte das Feuer. »Ist das okay?«, fragte sie. Evan nickte wie gebannt, so wie er schon damals genickt hatte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Kaya war zweifellos sehr hübsch, aber er hatte sie noch nie so angesehen wie jetzt.

»Und … und ist das okay?«, fragte sie und legte ihm ihre kleine Hand auf seine Brust, die dank des aufgeknöpften Hemdes frei war. Er nickte wieder, wie gebannt von diesem Mädchen, das er nur eine Woche später erschießen würde.

»Wie ist es damit?«, hauchte sie anschließend, sah ihm in die Augen, auf die Lippen, wieder in die Augen und kam ihm immer näher. Er wollte sie und dennoch wäre er am liebsten davongelaufen.

Die Spannung, die zwischen ihnen entstand, war beinahe unerträglich. Und als Kaya ihre Lippen schließlich auf seine legte und er den Kuss nach einem Moment des Zögerns atemlos erwiderte, war das sein erster Kuss, seit ihm Lora Delaney in der sechsten Klasse mal zum Abschied ihre Lippen auf den Mund gepresst hatte.

Evan hatte wahnsinnige Angst vor Kayas Lippen auf seinen gehabt, aber gleichzeitig war es einer der schönsten Momente gewesen, an die er sich erinnern konnte.

Kaum war der Kuss vorüber, befand er sich jedoch schon wieder an einem anderen Ort. Er war erneut im Haus seiner Eltern, aber jetzt war er siebzehn und raste in das Schlafzimmer der beiden, wo er seine Mutter am offenen Fenster stehen sah. Das Sonnenlicht umspielte ihren mageren Körper und der Wind fuhr ins Zimmer; die weißen Gardinen tobten wild.

»Mum!«, rief Evan entrüstet, schlang seine Arme um ihre dürre Taille und zog sie von der Fensterbank weg. Apathisch begann seine Mutter, so wie damals, zu weinen und sagte immer wieder das gleiche: »Er hätte dich nie schlagen sollen, er hätte dich nie schlagen sollen.«

In diesem Moment war Evan klar geworden, dass seine Mutter ihn zwar abgöttisch liebte, sie jedoch nicht stark genug war, um ihn je vor seinem impulsiven Vater zu schützen. Und noch weniger war sie dazu in der Lage, sich selbst zu schützen.

Beim nächsten Wechsel fand er sich im See nahe des Camps wieder. Es war die Situation von eben: Er befand sich gemeinsam mit Rayna im Wasser, sie zeigte ihm die Tätowierung und sie sprachen das gleiche wie zuvor. Doch erstmals entriss sich Evan der Kontrolle seines Ichs aus der Vergangenheit, strich etwas länger über ihr Handgelenk und weil er wusste, dass es nur eine Vision war, strich er auch über ihre feuchte zarte Wange. Er sah sie an. Rayna regte sich nicht. Natürlich – sie war nur ein Gespinst seiner Erinnerungen. Er konnte sich jederzeit losreißen.

Doch anstatt wie erwartet wieder in der Badewanne zu erwachen, zeigte ihm sein Unterbewusstsein noch eine weitere letzte Erinnerung. Es war die Erinnerung an die Tote. Doch diesmal stand nicht sie im Vordergrund, sondern der kleine Junge, der sie auch sehen konnte.

Evan sah in seine Augen und da loderte das Böse, da loderte Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust. Es war der Teufel. Er war dem Teufel begegnet.

Evan fuhr in der Wanne hoch und hustete Wasser, rang nach Luft, hustete, rang wieder nach Luft. Die Hütte drehte sich, sein Magen rebellierte und er übergab sich neben die Badewanne, hievte sich hinaus und fiel auf den Boden, wo er sich zusammenrollte; Wasser schwappte mit ihm aus der Wanne und er begann zu zittern. Alles drehte sich nach wie vor und er schloss gepeinigt seine Augen. »Was haben Sie mit mir gemacht? Was war das?«, fragte er und zitterte am ganzen Körper. »Was … was haben S-Sie … was …«, wimmerte er und sank in eine tiefe Ohnmacht.


Angelus Clamor

Подняться наверх