Читать книгу Angelus Clamor - Marisa Moreno - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеEvan stolperte, ruderte wild mit den Armen und landete auf allen Vieren auf dem harten Stein, wo er sich die Hände aufschürfte. »Ich glaube, ich will zurück, Daddy!«, japste er aufgeregt und rappelte sich angestrengt wieder auf. Als er sah, dass er sich das linke Knie beim Sturz aufgeschlagen hatte, musste er sich ganz fest auf die Unterlippe beißen, damit er nicht anfing, zu weinen. Das mochte sein Dad nicht – wenn er weinte.
»Evan, du wirst einmal ein Mann sein und Männer weinen nicht«, schimpfte er dann immer mit vorwurfsvollem Blick. Deswegen ging er lieber mit seiner Mutter wandern.
»Dad!«, rief Evan und wischte sich schnell die eine Träne von der Wange, die sich aus seinem Augenwinkel gestohlen hatte. Sein Vater drehte sich nicht mal nach ihm um. »Daddy, warte bitte!«
»Komm jetzt, Junge. Reiß dich verdammt nochmal zusammen!«, rief er ihm nur über die Schulter hinweg zu. Evan hasste diesen Satz. Er blieb einen Moment im Dreck sitzen und gestattete sich zwei weitere Tränen, während er seinem Vater nachblickte, der sich mit seinen riesigen Schritten immer weiter von ihm entfernte. Dann hievte er sich mit der ganzen Kraft seiner zwei Kinderärmchen hoch, rückte seinen Rucksack zurecht und eilte hinter ihm her, damit er ihn wieder einholte. Evan war gegen diese Wanderung gewesen. Er wollte lieber am Ufer liegen und seine Füße im Wasser baumeln lassen oder eine Tour auf dem Brighton Wheel machen, als seinem Dad hinterherzulaufen und sich die Knie auf dem unebenen Felsen aufzuschlagen.
»Wo bleibst du denn?«, grummelte sein Vater und drehte sich endlich nach ihm um.
Trotzig rannte der kleine Junge an seinem Dad vorbei.
»Hör auf damit, du kleine Zicke. Du bist doch kein Mädchen«, feixte sein Vater, was den Druck hinter den Augen des Jungen nur verstärkte. Er hatte ihn enttäuscht. Er hatte ihn abermals enttäuscht.
Evan rannte mit den Tränen kämpfend weiter den Felsvorsprung hinauf, als er erneut stolperte. Diesmal konnte er den Sturz zwar früh genug abfedern, aber als er herumwirbelte und sah, was ihn zum Sturz gebracht hatte, begann er, wie verrückt loszuschreien. Ein langer schriller Kinderschrei, so laut, dass so mancher Vogel aufschreckte. Ein langer schriller Kinderschrei, der Evans Kehle unwillkürlich, aber augenblicklich entwich.
Evans Vater zögerte nun keine Sekunde und rannte zu seinem achtjährigen Sohn, der am Boden saß, die Augen zusammenkniff und schrie und schrie und schrie. Endlich war sein Vater bei ihm angekommen und direkt hinter ihm eilte plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Junge herbei, der in Evans Alter sein sollte.
Evan hörte auf zu schreien und starrte mit feuchtem Gesicht auf das, worüber er gestolpert war. Oder eher über wen. Vor ihm lag eine entblößte Frauenleiche. Die Haare fehlten der Blondine büschelweise, sie hatte am ganzen Körper dunkle Blutergüsse und kleine Schnitte. Ihre Augen waren trüb und weit aufgerissen. Sie lag dort wie eine Puppe. Willenlos. Leer. Tot. Evan konnte nicht anders, als wieder loszuschreien.
»Evan, was ist nur mit dir los!?«, brüllte sein Vater und starrte ihn entsetzt und gleichermaßen außer sich an.
»Daddy, sie ist tot! Die Frau ist tot, Dad!«, wimmerte Evan und sein Schluchzen ging erneut in einen hysterischen jähen Schrei über. Der andere Junge beobachtete das Szenario derweil interessiert aus der Ferne.
»Du spinnst ja wohl!«, rief sein Vater nun und riss Evan ruckartig am Arm nach oben, doch die Beine seines Sohns gaben sofort wieder nach und er sackte wie ein nasser Waschlappen zu Boden.
Evan schrie erneut, aber diesmal setzte sein Vater dem mit einer schallenden Ohrfeige ein Ende. »Jetzt halt die Klappe, Saubengel!«
Evan begann zu zittern und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass er bald den metallischen Geschmack seines Bluts schmecken konnte. Alles um ihn herum drehte sich. Nur das Gesicht des anderen Jungen schien er jetzt klar zu sehen. Das Kind lief nun herbei und kniete sich direkt neben die Leiche, die Evan keine weitere Sekunde ansehen konnte. »Wieso schreist du denn so?«, wollte er wissen und schaute Evan eindringlich an, während er begann, über den Kopf der Toten zu streicheln. Seine kleine Hand war sofort blutbefleckt und es kam Evan beinahe hoch, als er sich vorstellte, wie sich ihr Schädel anfühlen musste. »Wieso hast du das getan!?«, rief Evan vorwurfsvoll. Der andere Junge musste das gewesen sein, so seelenruhig, wie er über den Schädel der Toten strich!
»Was ist denn nur mit dir los!? Lass den Jungen in Ruhe!« Evans Vater zerrte seinen Sohn mit einem festen Ruck an den Schultern nach oben und warf ihn sich über die Schulter. Doch der Anblick des anderen Kindes schien auch ihn auf merkwürdige Weise überrumpelt zu haben, denn in seinem sonst so bestimmten Blick spiegelte sich nun auch so etwas wie … Furcht? Evan wusste es nicht und er konnte nicht weiter darüber nachdenken. Alles um ihn drehte sich und in ihm wirbelten die Gedanken und Gefühle. Evan weinte und wimmerte. »Wieso hat er der Frau so etwas angetan?«, fragte er leise – mehr sich selbst als seinen scheinbar vollkommen verständnislosen Vater.
Evan öffnete noch einmal die Augen und starrte dem Jungen hinterher, sah, wie er sich über die Frau beugte. Doch er … er lächelte bloß.
Evan schreckte hoch und das laute Dröhnen des Basses und des Gitarrensolos holten ihn mit einem Mal zurück ins Jetzt. Benommen zog er sich seine Kopfhörer aus den Ohren und schaltete die Musik ab, bei der er versehentlich auf den Lauter-Knopf gekommen und davon aufgeweckt worden war. Sein Herz raste noch vor Schreck, während er gleichzeitig ein Gähnen unterdrückte und sich die erschöpften Augen rieb. Verstohlen sah er sich nach den anderen Fahrgästen um, doch keiner schien ihn bemerkt zu haben.
Als er langsam wieder zu sich kam, blitzte erneut das Bild des Jungen und der Frauenleiche vor seinem inneren Auge auf. Sein Traum … Dieses Ereignis lag schon so lange zurück … Er hatte es selbst bereits verdrängt und sich damals eingeredet, dass die tote Frau bloß seiner blühenden Fantasie entsprungen war, doch nach diesem Traum, dieser Erinnerung, da wusste er wieder, dass jenes intensive Erlebnis echt gewesen war. Aber die lebhafte Erinnerung verblasste nach und nach und Evan starrte aus dem Fenster des Schnellzuges, der ihn wieder in seine Heimat brachte.
Wie lange hatte er jetzt geschlafen? Er warf einen hastigen Blick auf die Uhr seines Smartphones. Okay, nur noch etwa eine halbe Stunde Fahrt. Er hatte bereits einen nervenaufreibenden Flug hinter sich. Nervenaufreibend, weil er ausgerechnet neben einem dieser Typen hatte sitzen müssen, die jeder Flugzeugpassagier hasste; zwei Sitze breit, nach Schweiß müffelnd und Meister auf dem Gebiet des Schnarchens. Eigentlich erinnerte er ihn sogar ziemlich an Mick, seinen Mitbewohner und besten Kumpel. Bei dem Gedanken musste er grinsen.
Evans Magen knurrte. Er hatte jetzt seit etlichen Stunden nicht mehr als ein paar Schokoriegel zu sich genommen. Wenn er endlich wieder in Brighton war, würde er Mick sofort eine Nachricht schreiben: Wehe der Kühlschrank ist leer, du Idiot.
Die Landschaften zogen an Evan vorbei, das dumpfe Brummen des Zuges hatte eine hypnotisierend einschläfernde Wirkung und trug seine Gedanken davon. Er dachte über das letzte Jahr nach. Verrückt, dass er schon wieder im Zug nach Hause saß. Immerhin hatte Evan noch ganz klar vor Augen, wie er sich von seinen Eltern verabschiedet hatte, bevor er in den Zug gestiegen war. Seine Mutter hatte ihn fest in die Arme geschlossen und er hatte ihr blumiges Parfum inhaliert, von dem er gewusst hatte, dass er es von diesem Moment an für eine ziemlich lange Zeit nicht mehr riechen würde.
»Du bist so ein mutiger Junge«, hatte sie ihm ins Ohr gehaucht und ihn noch einmal ganz fest an sich gedrückt. Ihr Körper hatte sich klein und zerbrechlich unter seinen Händen angefühlt.
»Mum, ich bin nicht aus der Welt. Es ist nur ein Jahr. Und wir telefonieren doch.«
Sie hatte daraufhin geseufzt und ihn freigegeben, ihn mit feuchten Augen durch ihre große rote Brille angeblickt.
Er hatte gelächelt.
»Versprich mir, dass deine Kamera heil wieder her findet und wag es ja nicht, ohne Fotos der Freiheitsstatue zurückzukommen!« Sie hatte geschnieft und die Stirn gerunzelt, wobei sich stets tiefe Furchen in ihre helle Haut gruben. Aber sie hatte ebenfalls gelächelt und ihn fest auf die Wange geküsst. »Ich liebe dich.« Sie hatte ihn etliche Sekunden aus ihren trüben blauen Augen angeblickt.
»Ich dich auch, Mum.« Er hatte versucht, noch irgendwelche Worte zu finden, bevor er sich seinem Vater hatte zuwenden müssen. Er hasste Abschiede von seinem Vater. Nicht, weil er ihn so sehr vermissen würde, sondern weil sie beide keine Männer großer Worte waren. Sowieso war seine Beziehung zu ihm eher … schwierig.
»Dad«, hatte Evan gesagt und seinem Vater zugenickt, der seine Hände in den Taschen seiner Jeans verborgen hatte. Ein Zeichen, dass er nicht vorhatte, seinen Sohn zu umarmen oder ihm nochmal die Schulter zu tätscheln.
»Mein Sohn«, hatte Lance Randall knapp erwidert und genickt.
Dann war Evan in den Zug gestiegen und hatte Brighton den Rücken zugekehrt. Bis jetzt, als er mit circa dreihundert Stundenkilometer auf seine Heimatstadt zu raste.
Das letzte Jahr war so schnell vergangen. Er hatte so viele wunderbare Leute kennengelernt, etliche Speicherkarten für seine Kamera verbraucht und sich so lebendig und unabhängig gefühlt wie nie zuvor.
Amerika war wunderbar, aber sein Zuhause war nun mal hier in England. Er freute sich auf sein Bett, den Fernseher, ja selbst auf den ständigen Geruch nach Micks Zigaretten!
Mick war ein wirklich komischer Kauz. Faul wie noch was und rührte nie einen Finger im Haushalt. Evan wollte sich gar nicht vorstellen, wie es in der Wohnung jetzt aussehen würde. Er war damals durch eine Anzeige auf Mick gestoßen. Evan war gerade fertig mit der Schule gewesen, hatte seinen Abschluss in der Tasche und seine Ausbildung zum Fotografen begonnen und somit auch nicht gerade über viel Geld verfügt. Er hatte trotzdem ausziehen wollen. Er hatte gewusst, mit seinem Dad hielt er es keinen Tag länger unter einem Dach aus. Also hatte Evan an Mick geschrieben und war wenige Wochen danach bereits eingezogen. Eine Entscheidung, die sein Leben gleichermaßen bereichert wie auf den Kopf gestellt hatte. Aber Mick war wie Familie für ihn. Mick mit seinen etlichen Eigenarten.
Der Zug fuhr schließlich in den Bahnhof ein. Und da war es: Das vertraute Gefühl der Heimat.
Evan nahm seinen Koffer von der Ablage über ihm und stieg breit lächelnd aus. Der mit einer Stahlglashalle überdachte Bahnhof hatte ihn seine ganze Kindheit über begleitet und lag etwas nördlich des Stadtzentrums, das er in und auswendig kannte. Plötzlich fühlte es sich an, als wäre er nie weg gewesen.
Evan trat aus dem Bahnhof hinaus und war sofort eingehüllt in die Dunkelheit der Nacht. Er hielt inne und sah sich zufrieden um. Er war wieder zu Hause.
Seine Eltern wussten nicht, dass er heute schon ankam. Mick hatte ihm versprechen müssen, ihnen nichts zu sagen. Evan wusste, dass die beiden – naja, zumindest würde seine Mutter es so wollen – ihn lachend und mit einem riesigen Welcome-Back-Schild begrüßen würden. Und das war ihm jetzt nach dem Flug und der Zugfahrt einfach zu viel.
Ein abruptes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Er fuhr zusammen und blickte sich um, bis er einen Chevrolet ausmachte, der direkt an der Straße stand. Er kannte das Auto nicht, aber die Beifahrertür wurde aufgestoßen und dann wurde erneut gehupt. Evan sah sich um. Er war der Einzige weit und breit, der gemeint sein konnte, also trat er an das Auto heran und erblickte hinter dem Steuer schließlich Preston.
»Neue Karre?«
Preston nickte und schnalzte mit der Zunge.
Evan musste lachen, lud seinen Koffer in den Kofferraum und ließ sich mit einem lauten Stöhnen in den Sitz sinken.
»Willkommen zurück, würd ich mal sagen, american boy.«
»Lass mich raten«, meinte Evan lachend. »Mick schickt dich her, weil er selbst keinen Bock hat?«
»Exakt, Ev.«
Preston startete den laut aufheulenden Motor und Evan ließ erschöpft seinen Kopf gegen die Fensterscheibe sinken. Im Auto roch es nach Qualm. Er hatte gar nicht gewusst, dass Preston auch rauchte. Naja, es konnte in einem Jahr einiges passiert sein. Vielleicht hatte er zu viel Zeit mit Mick verbracht.
»Und, wie sind die amerikanischen Mädchen? Also die, die nicht die Fähigkeit haben, Burritos in ihren Speckfalten mitgehen zu lassen«, fragte Preston und grinste blöd.
»Ich hab ein paar echt nette Mädels kennengelernt. Alle sind super locker.«
Preston stöhnte und rollte mit den Augen. »Der immerzu diskrete Evan, he?«
»Ich bin nur … echt müde.«
»Hm … Dann erzähl halt nichts von deinen gruseligen One-Night-Stands, sond—«
Evan prustete los. »Sowas gab’s nicht, klar?«
»Klar.« Preston grinste.
Evan war unsagbar erschöpft und schrecklich dankbar, dass Preston ihn abholte. Er kannte Preston schon eine gefühlte Ewigkeit und es machte ihm Angst, dass er sich während seiner Abwesenheit verändert hatte. Das strohblonde Haar war viel kürzer als früher, der Drei-Tage-Bart ließ ihn älter wirken und die Zigarettenschachtel, die er neben dem Fahrersitz erblickte, bestätigte, dass er begonnen hatte, zu rauchen.
Als der Wagen hielt, fuhr Evan hoch – ihm waren kurz die Augen zugefallen; seine Lider waren so schwer. Er brauchte jetzt dringend eine Mütze voll Schlaf. »Danke für’s Fahren, Pres. Wir seh’n uns.« Evan stieg aus, holte seinen Koffer aus dem Kofferraum und hörte eine Autotür zuschlagen. »Preston, ich geh jetzt rein. Muss mich noch Mick stellen und dann hau ich mich erstmal auf’s Ohr.«
»Ja, klar. Ich hab Mick was geliehen und brauch’s zurück. Ich fahr gleich wieder.«
Evan nickte, kramte seine Schlüssel raus und öffnete die Haustür. Müde schleppte er sich die Treppen bis zu seiner und Micks Wohnung hinauf. Er war so erschöpft, dass er gar nicht begriff, dass er tatsächlich wieder hier war. Er schloss auf, dicht gefolgt von Preston, schaltete das Licht im Flur ein und— »ÜBERRASCHUNG!« Dutzende Menschen sprangen lachend hervor, Musik mit donnerndem Bass dröhnte vom einen auf den anderen Moment aus allen Richtungen und es roch verdächtig nach Alkohol.
»Das gibt’s nicht.« Evan stöhnte auf. Er war nicht gerade begeistert, weil er hundemüde und zu einer Überraschungsparty jetzt echt nicht in der Lage war, aber auf der anderen Seite war er wirklich gerührt. Er hatte nicht erwartet, dass man sich so darüber freuen würde, dass er wieder zu Hause war. Evan drehte sich nach Preston um, der ihn nur verschwörerisch angrinste. »Okay, ist das etwa auf deinem Mist gewachsen?«, wollte Evan wissen und schob seinen Koffer an die Seite.
Preston zuckte unschuldig mit den Schultern. »Von Mick konnte es nicht kommen, das weißt du. Also musste sich ja wer anders drum kümmern, dass der Ami richtig empfangen wird.«
Evan verdrehte die Augen und wandte sich wieder der Menschenmenge zu. Sofort stürmten einige auf ihn zu. Freunde, die er noch aus der Schulzeit kannte und eine ganze Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, Kollegen aus dem Fotostudio, Leute, die er noch nie gesehen hatte. Wo auch immer Preston all diese Menschen aufgetrieben hatte - die WG war prall gefüllt.
»Willkommen zu Hause«, hieß es von allen Seiten und es regnete Umarmungen und Händeschütteln. Die Wohnung war klein und durch die ganzen Menschen wirkte sie noch beengender.
Evan sah sich um. Immerhin hatte Preston für Mick hier aufgeräumt. Apropos Mick … »Hey, wo ist Mick?«, fragte Evan eine Blondine, die gerade dabei war, sich die Flüssigkeit aus ihrem Becher in den Rachen zu kippen. Er kannte sie von früher, hatte aber ihren Namen vergessen. Irgendwie fiel ihm jetzt erst so wirklich auf, dass er genau genommen bloß zwei richtige Freunde besaß und das waren Preston und Mick.
»In eurem Zimmer glaub ich.«
Evan nickte und bahnte sich einen Weg durch die lachenden Leute. Natürlich war Mick nicht begeistert von dieser Party – dieser Faulpelz. Wahrscheinlich lag er im Bett und schlief.
Evan steuerte auf ihr Schlafzimmer zu – aus der Anlage dröhnte die wummernde Musik –, als irgendetwas Feuchtes sein Hemd traf. »Oh verdammt!«, rief das Mädchen erschrocken, das soeben ihren Drink auf ihn verschüttet hatte.
Evan hielt inne und seufzte. »Macht nichts.«
Aber sie hatte sich bereits Tücher geschnappt und tupfte sein Hemd ab. »Sorry. Tut mir leid – eigentlich solltest du ja hier der Ehrengast sein.« Sie lachte nervös.
Evan kannte sie nicht, hatte sie noch nie gesehen. So wie auch die Hälfte der anderen Leute, die sich hier rumtrieben.
»Lass gut sein, das kann ja passieren.«
Sie hielt inne. »Ich bin Violet. Wir kennen uns noch nicht. Preston hat mich eingeladen.«
»Ja, stimmt. Ich bin Evan, aber das hat er dir ja sicher gesagt.«
»Hat er.« Ihre dunklen Augen huschten nervös im Raum umher. »Ein Jahr Amerika also, was?«, nahm sie das Gespräch schließlich wieder auf und kam mit ihrer dünnen Stimme kaum gegen die Basstöne an, die über sie hinweg rollten.
»Ja … Ich brauchte einfach mal was andres, weißt du?«
»Klar, ich verstehe. Wo genau warst du denn? Ich komme ursprünglich aus Amerika.« Er zog die Augenbrauen hoch. Ihren Akzent hörte er kaum, aber vielleicht lag das auch daran, dass er sich im letzten Jahr so daran gewöhnt hatte.
»New York. Mittendrin.«
Violet lächelte. »Ja, New York ist super; ich bin aus Chicago. Aber für mich geht mittlerweile nichts über England.«
»Für mich auch nicht. Amerika ist laut und bunt und voller Licht und hier ist es … Ich weiß auch nicht …«
»Harmonischer?«
Er nickte. »Violet, ich hab meinen Mitbewohner noch nicht gesprochen, entschuldige mich kurz, ja?«
»Na klar.«
Evan ließ sie stehen, ging zur Tür des Schlafzimmers und wollte sie öffnen, aber sie war verschlossen. Mick wollte wahrscheinlich seine Ruhe. Evan hämmerte dagegen. »Mick, ich bin’s, Kumpel.«
Keine Antwort.
»Mick!«
Dann öffnete sich endlich die Tür, Evan trat ein und verschloss sie gleich wieder, damit keiner der anderen auf die Idee kam, es sich hier gemütlich zu machen.
Mick sah ziemlich heruntergekommen aus; seine schwarzen Haare waren fettig und lang und ihm war ein Bart gewachsen. Außerdem gewannen seine Rundungen so langsam immer mehr die Überhand.
»Evan, du Spinner«, begrüßte er ihn und ließ sich mit einem lauten Stöhnen wieder in sein Bett fallen.
»Micky.«
Er gähnte laut, während Evan sein Hemd aufknöpfte und schnell ein anderes überstreifte.
»Zusammenstoß mit einem der Partygirls gehabt?«
Evan nickte. »Violet. Ich kenn sie gar nicht.«
»Ja, Preston hat ‘ne Menge Idioten eingeladen«, gab Mick schleppend zurück und er lallte ein wenig, was aber mehr an seiner ständigen Müdigkeit lag, als an der kleinen Alkoholfahne, die von ihm ausging. »Schön, dass du wieder da bist.«
Evan lächelte. »Ich bin so müde.« Seine Augenlider wurden immer schwerer und schwerer.
Mick gähnte und Evan stimmte gleich mit ein.
»He, du hässlicher Vogel«, rief Mick ihm zu, während Evan sich auf seinem Bett niederließ.
»Was denn?«
»Du solltest jetzt raus gehen und mit den Leuten reden, die gekommen sind, um dich wieder willkommen zu heißen.«
»Du hast recht, ich leg mich nur mal kurz hin.« Seine Lider waren so schwer, sein Kopf schien wie mit Watte gefüllt. Er musste jetzt dringend schlafen. Aber es hämmerte an die Tür und Evan war sofort wieder hellwach.
»Schicksal«, sagte Mick und lachte, während er sich auf die Seite drehte.
Evan hätte das jetzt auch gern getan, aber erst musste er verhindern, dass die Tür zu seinem Schlafzimmer eingetreten wurde. Er riss sie auf und George Walton taumelte sturzbesoffen ins Zimmer. Evan packte ihn am Kragen und schob ihn wieder raus, schloss die Tür hinter sich.
George hatte gemeinsam mit ihm die Ausbildung zum Fotografen begonnen, aber war jetzt natürlich bereits im zweiten Jahr, während Evan mit seinem Chef die Vereinbarung getroffen hatte, seinen Ausbildungsplatz behalten zu können.
»George, hallo? Das Zimmer ist tabu.«
»Toilette«, nuschelte er angestrengt; Evan verstand kein Wort. Er packte ihn an den Schultern. »Du bist ja sturzbesoffen, verdammt!«
»Wo’s die Toilette?«, startete George lallend seinen nächsten Versuch, Evan mitzuteilen, was er wollte.
»Toilette?«
George nickte und rülpste laut.
»Hey, jetzt ja nicht kotzen, Mann!«, warnte Evan und stützte George unter der linken Schulter, aber er konnte ja nicht mal mehr richtig gehen.
»Warte, ich helfe dir!« Violet eilte herbei und griff George unter die andere Schulter.
»Oh. Danke.« Jetzt war es Evan, der nervös lachte.
»Komm, bringen wir ihn zur Toilette. Wo lang?«
Menschen stießen gegen sie, die Musik war so laut, dass Evan der müde Kopf dröhnte. Er würde, gleich nachdem er sich um George gekümmert hatte, ein Wörtchen mit Preston reden und die ganzen Leute rausjagen.
»Warte, ich werde erstmal mit ihm reden … George, bist du mit dem Auto hier? Kann dich jemand nach Hause fahren?«
Er schüttelte den Kopf. »A-Allein. Mit’m Auto«, gab er zurück.
»Scheiße.«
»Evan, du siehst echt müde aus. Wenn du dich ausruhen willst – ich kann ihn auch nach Hause fahren. Mein Auto steht unten.«
»Das wäre toll, Violet. Danke. Echt. Ich weiß nicht, ob ich in dem Zustand noch fahren kann.«
»Ist kein Problem.«
»Kann ich dich morgen anrufen, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist?«
»Natürlich. Gib mir dein Handy.«
Evan holte es aus seiner Hosentasche und reichte es ihr. Als sie es entgegennahm, fiel ihm eine Tätowierung an ihrem Handgelenk auf. Dort, wo die Pulsschlagader entlanglief. Er hatte nur kurz einen Blick darauf werfen können. Es sah aus wie ein A, umgeben von einem C. Oben auf dem C stand ein Kreuz und unten war auch eins, aber es war umgedreht. Er hätte sie gern danach gefragt, aber jetzt hatte er andere Dinge im Kopf.
Violet hatte ihre Handynummer eingetippt und reichte ihm sein Smartphone wieder.
»Okay, jag die Leute raus, ich übernehme ab hier.«
Evan lächelte sie dankbar an und suchte mit seinem Blick die WG ab. Preston. Wo war er?
»Entschuldigung, habt ihr Preston gesehen?«, wandte er sich an eine Gruppe Mädchen, aber sie schüttelten alle den Kopf. Dann an eine Gruppe Jungs: »Hey Leute, wo ist Preston?»
Aber auch sie wussten es nicht. Er wollte sich gerade an ein weiteres Mädchen wenden, als ihm von hinten zwei Arme um den Hals geschlungen wurden.
»Los, komm, wir gehen in dein Zimmer, Schnuckelchen«, hauchte ihm eine Frauenstimme ins Ohr und er roch den Alkohol in ihrem Atem.
»Hey, lass mich los.«
»Evan, hab dich nicht so. Komm mit, Schätzchen.«
Genervt drehte er sich herum und blickte in das Gesicht der Frau, die er als Achtjähriger tot vorgefunden hatte. Sie hatte dieselben kahlen und blutigen Stellen am Kopf, dieselben Blutergüsse und Schnitte auf der Haut.
»Evan, du kennst mich. Meine Zunge ist so trocken, hilf mir doch, mein Schöner!«
Evan entfuhr ein Wimmern aus den Tiefen seiner Kehle. Auf einmal drehte sich alles und die Musik nahm einen zähen Klang an. »Was zum Teufel—« Er wich erschrocken vor ihr zurück, rannte in die Menge.
Das konnte nicht wahr sein. Das war nicht real. Diese Frau war tot. Sein Vater hatte sie nicht gesehen, aber sie war tot.
Sie holte ihn wieder ein, schlang ihre blutigen aufgeschürften Arme um seinen Hals und streckte ihm ihre angeschwollene Zunge entgegen, dann presste sie mit gewaltiger Kraft ihre toten Lippen auf seine – hart und kalt und leblos.
Er stieß sie mit aller Kraft von sich, rannte wie ein Verrückter auf die Haustür zu und riss sie mit Tränen des Schrecks in den Augen ruckartig auf. Er wollte hinausstürzen, doch da stand sie vor ihm: Nackt und mit leeren Augen.
»Nein!«, rief er unter Schock. »Geh weg!«
Er schlug die Tür zu und taumelte zurück in die Menge. Er sah die Leute nicht, hörte nicht mehr die Musik. Ein Schleier hatte sich über seine Sicht gelegt.
Evan stieß irgendwelche Leute von sich, beachtete sie nicht, machte sich seinen Weg frei, während er die Stimme der Toten in seinem Kopf hörte: Evan, du kennst mich. Meine Zunge ist so trocken, hilf mir doch, mein Schöner!
Er rannte weiter, auf die Toilette zu. Irgendein Typ wollte gerade die Tür öffnen, aber Evan zog ihn am Pullover zurück und stieß ihn zu Boden. Dann schloss er sich ein und spuckte das Erbrochene, das seine Kehle hinaufkroch, in die Kloschüssel. Er kniete sich erschöpft davor und alles drehte sich.
Die Hand, die aus der Kloschüssel hinauskam und sich ihm entgegenstreckte, sah er jedoch klar und deutlich. Er schrie jäh auf und schlug den Toilettendeckel zu.
Evan hatte keine Ahnung, dass Violet jedes Detail seines Zusammenbruchs mit angesehen hatte. Begonnen mit dem Moment, als er mit jemandem gesprochen hatte, den sie selbst nicht sehen konnte. Sie ließ George einen Moment los und zog ihr Handy hervor. Dann wählte sie eine Nummer, eingespeichert als A.C. »Hey«, sagte sie. »Scheint, als hätte ich hier jemanden.«