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KAPITEL ZWEI

DU BIST NICHT ALLEIN


Die Epidemie der Selbstverurteilung

Vermutlich bin ich eine ebenso gute Mutter wie jede andere unterdrückte, neurotisch zwangsgestörte Paranoide.

ANNE LAMOTT

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie viele Menschen sich selbst das Leben schwer machen? Wie sich Freunde und Kollegen regelmäßig runtermachen und fröhlich all ihre Fehler und Probleme eingestehen? Es ist in unserer Kultur gang und gäbe, über die eigenen Schwächen und Schwierigkeiten zu reden, und sich bis zum Abwinken über die Fehler anderer zu beschweren. Wie Lucy von den Peanuts so eloquent zu Charlie Brown sagt: „Das Problem mit dir, Charlie, ist, dass du du bist.“

Gleichzeitig ist es Usus, über eigene Erfolge, Stärken und Leistungen nicht zu reden. Das gilt als unfein und selbstgefällig. In England aufgewachsen lernte ich, dass es ein Faux pas ist, die eigenen Talente und Begabungen zu erwähnen oder im eigenem Erfolg zu schwelgen. Es ist, als riebe man anderen Leuten damit Dreck unter die Nase. Mit seinen Unzulänglichkeiten und Problemen zu prahlen, ist hingegen völlig in Ordnung.

In den Vereinigten Staaten sind die Statistiken der Gesundheitsbehörde alarmierend. Einer von zehn Amerikanern2 nimmt Antidepressiva. Einer von fünf3 nahm 2010 Medikamente, die Einfluss auf das Verhalten haben. Die Anzahl der Suizide4 ist ähnlich erschütternd: 40.000 pro Jahr. Und das sind nur die erfassten Fälle. Obwohl diese Zahlen in den Vereinigten Staaten höher sein mögen als anderswo, haben viele der Industrieländer5 ähnlich alarmierende Statistiken.

Aufgrund der therapeutischen Arbeit, die ich in den letzten fünfzehn Jahren mit Menschen auf sechs verschiedenen Kontinenten getan habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass der innere Kritiker eine wesentliche Ursache für einen Großteil aller heutigen Depressionen, Angststörungen und Selbstmorde ist. Wenn die kritischen Stimmen laut, scharf und zügellos werden, ist es schwer, den eigenen Selbstwert nicht aus dem Blick zu verlieren oder das Gefühl zu haben, dass das Leben eine Bedeutung und einen Sinn hat.

Diese zweifellos bestürzenden Statistiken enthalten eine gleichermaßen traurige wie beruhigende Tatsache: Wir sind nicht allein. Wenn wir depressiv sind oder uns in einem Sumpf von Selbstvorwürfen verlieren, ist insbesondere der Gedanke, dass wir mit solchen Problemen nicht „normal“ seien, sehr belastend. Wir glauben fälschlicherweise, dass wir die einzigen seien, die an quälend negativen Geschichten über uns selbst leiden würden. Als wäre es nicht schon schlimm genug, überhaupt solche destruktiven Dinge über sich selbst zu glauben, bereitet einem die Vorstellung, der einzige „Verlierer“ im Raum zu sein, doppelte Schmach und ist viel schwerer zu beseitigen.

In den Workshops, die ich über den inneren Kritiker halte, ist eines der heilsamsten Resultate, wenn die Menschen erkennen, dass sie mit ihrem urteilenden Denken nicht allein sind. Isolation und der Glaube, man wäre die seltene Ausnahme und alle übrigen verlebten eine vergnügliche Zeit, ist nur eine Komponente dieses mentalen Problems.

Wenn ich die Teilnehmer eines solchen Workshops ihre Listen mit Urteilen über sich selbst paarweise austauschen lasse, herrscht am Anfang große Befangenheit und Peinlichkeit, die Angst vor drohender Beschämung. Doch wenn sie dann ihre Listen miteinander durchgehen, rauscht eine Welle kollektiver Erleichterung durch den Raum. Dieses Gefühl der Erleichterung entsteht aus der Erkenntnis, dass wir alle sehr ähnliche Selbsturteile und negative mentale Muster haben. Der Gedanke, einander helfen zu können, weil wir mit ähnlichen Dingen zu kämpfen haben, weckt unseren Sinn für Kameradschaft und den Wunsch, sich gegenseitig zu unterstützen.

ÜBUNG

Den Kritiker überall entdecken

Achten Sie in Ihrem Alltag – egal ob zu Hause, bei der Arbeit, mit Freunden, beim Einkaufen, beim Fernsehen – einmal darauf, wie der Kritiker in anderen Menschen operiert. Gut beobachten lässt sich das zweifellos auch, wenn wir uns die Tiraden von Politikern und Experten im Radio anhören, oder wenn ein Filmkritiker den neuesten Film in der Luft zerreißt.

Entdecken Sie den inneren Kritiker in Unterhaltungen, in der Art, wie die Leute sich im Spaß schlecht machen: „Ach, du weißt ja, in Mathe bin ich ein hoffnungsloser Fall.“ „Meine Haare sehen heute furchtbar aus.“ „Meine Güte, wie schrecklich ich auf diesen Fotos aussehe.“ „Gestern auf der Sitzung im Büro habe ich echt Mist gebaut.“ All das sind völlig normale Sätze, wenn wir uns miteinander unterhalten.

Beobachten Sie, was geschieht, wenn Sie solches Verhalten bemerken. Können Sie sich mit dem anderen identifizieren, wenn er oder sie schlecht über sich selbst oder andere redet? Fühlt es sich vertraut an oder sogar gemütlich? Spüren Sie so etwas wie ein kumpelhaftes Miteinander? Erkennen Sie, wie allgegenwärtig dieses Muster ist? Es ist gut möglich, dass Sie sich weniger allein fühlen, wenn Ihnen klar wird, dass Sie nicht der einzige Mensch mit einer sadistischen inneren Stimme sind. Oder empfinden Sie Mitgefühl mit der anderen Person, weil sie so negativ über sich spricht?

Je mehr Sie auf diese Weise beobachten können, umso mehr werden Sie das belastende Gefühl los, dass nur Sie allein ein Problem haben, dass es nur in Ihnen diese Stimme gibt, die Ihnen sagt, dass Sie sich schämen sollten. Und dann beginnen Sie vielleicht, ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen zu entwickeln, ein Gefühl, dass auch Sie teilhaben an dem menschlichen Bemühen, inmitten all unserer Konditionierungen und Gedankenkreisel einen Weg zum Frieden zu finden.

Schließe Frieden mit Dir selbst

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