Читать книгу Ottokar Heisenberg - Ein relativ unscharfer Typ - Mark Löschner - Страница 10
Der Mann auf dem Balkon
ОглавлениеTom hatte sein Auto zu Hause stehen lassen und war mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Es war entspannter, als sich mit dem Auto durch den Berufsverkehr zu quälen. Außerdem war es deutlich billiger. In Gedanken versunken sass er mit dem Kopf an die Scheibe gelehnt und liess die Stadt an sich vorüberziehen. Der Bus fuhr an dem Haus vorbei, in dem Toms Wohnung lag. Tom musste darüber schmunzeln, dass er vor seiner Haustür aus dem Bus springen und damit die etwa 150 Meter bis zur Haltestelle sparen könnte. Er wollte jetzt nur noch seine Ruhe haben und sah beim Vorbeifahren sehnsüchtig nach oben zu seiner Wohnung und erstarrte: Auf seinem Balkon stand ein Mann und winkte ihm zu.
Tom blieb mit seinem Rucksack kurz an der Bustür hängen, weil sie ihm an der Haltestelle nicht schnell genug aufging. Er sprintete die Straße entlang, so schnell er konnte. Dabei behielt er die ganze Zeit seinen Balkon im Blick. Der Mann war zwar nicht mehr zu sehen, allerdings war das Geländer undurchsichtig und wenn der Mann sich geduckt hätte, könnte man ihn von der Straße aus nicht sehen. Tom war sich aber sicher, jemanden auf dem Balkon gesehen zu haben. Er verzichtete auf den Fahrstuhl und hastete die Treppe hoch, obwohl er bereits in seinen Beinmuskeln aufgrund der ungewohnten Anstrengung ein Brennen spürte. Völlig außer Atem kam er vor seiner Wohnungstür an. Sie war verschlossen. Wegen der ungewohnten Anstrengung und der zusätzlichen Aufregung zitterten seine Hände und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er den Schlüssel in das Schloss gezittert hatte. Er stürmte ins Wohnzimmer, liess seinen Rucksack fallen und sprang auf das Bett, welches vor dem Fenster stand. Vor der Balkontür stand immer noch der Schrank, was Tom aber nur kurz verwunderte. Er riss das Fenster auf, streckte den Kopf hinaus und sah über die Brüstung auf seinen Balkon. Tatsächlich! Dort saß ein Mann auf dem Boden mit dem Rücken ans Geländer gelehnt und lächelte Tom freundlich entgegen.
„Schön, dass sie da sind“, sagte Ottokar enthusiastisch. „Warum haben sie eigentlich einen Schrank vor ihrer Balkontür stehen? Haben sie Angst vor Einbrechern, die über den Balkon kommen?“
„Was machen sie auf meinem Balkon?“ rief Tom sichtlich erschüttert und außer Atem.
„Ich warte auf sie“, war die lapidare Antwort, immer noch mit einem freundlichen Lächeln gepaart.
„Nein, ich meine, wie kommen sie auf meinen Balkon?“
Zur Erschütterung und dem schnell gehenden Atem mischte sich noch eine ordentliche Portion Verwunderung in Toms Stimme.
„Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich selber noch keine hinreichend gute Antwort habe“, antwortete Ottokar mit in Falten gelegter Stirn und einem suchenden Blick, den er über den Balkon streifen liess.
„Lassen sie mich rein?“ fuhr Ottokar mit einem freundlichen Blick zu Tom gewandt fort. „Ich habe nämlich keine Lust, mich von ihrem Balkon abzuseilen und die anderen Balkone sind mir für einen Sprung einen Ångström zu weit entfernt.“
Toms Gehirn schaltete auf Überlebensmodus. Es kam mit der Situation nicht zurecht und entschied sich für das Einfachste: Es überredete Tom dazu, seinen Nachbarn einfach durch das Fenster hereinzulassen.
Tom war beeindruckt, wie gewandt und ohne einen Anflug von Angst Ottokar auf das Balkongeländer stieg und den langen Schritt zum Fenster über den tiefen Abgrund neben dem Balkon vollführte. Da stand er nun in Toms Wohnzimmer und sah sich mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen um.
„Schönes Schlafzimmer, wirklich“, sagte Ottokar mit anerkennendem Tonfall in der Stimme, „aber ich hätte an ihrer Stelle den Schrank dort an die Wand gestellt, dann hätten sie freien Zugang zu ihrem Balkon.“
„Das hier ist eigentlich gar nicht… Ach was rede ich überhaupt! Nochmals: Wie kommen sie auf meinen Balkon?“
Ottokar drehte sich zu Tom um und sah ihm direkt in die Augen. Während er antwortete spiegelte sich Unsicherheit in seinem Gesicht.
„Das ist mir selber noch nicht ganz klar. Auf einmal war ich auf ihrem Balkon. Ist ihnen das auch schon mal passiert?“
„Nein.“
„Schade, somit haben wir einen Präzedenzfall und können keine Vergleichsstudie durchführen. Sehr schade!“
Ottokar sah enttäuscht zu Boden und blähte die Lippen.
„Nochmal von vorn“, setzte Tom erneut an, nachdem ihm die Ironie seiner kurzen Antwort bewusst wurde. „Sie sind auf meinem Balkon gelandet, ohne zu wissen wie? Haben sie sich dahin gebeamt oder so?“
Ottokar sah erstaunt auf.
„Sie meinen Quantenteleportation? Nein, so weit bin ich mit meinen Experimenten noch nicht.“
„Was für Experimente?“
„Tja, da wir beide nun so ein persönliches und verbindendes Erlebnis hatten, ist es wohl an der Zeit, unsere Beziehung auf eine neue Ebene zu heben. Ich bin Ottokar und wie wirst du genannt?“
Ottokar streckte ungelenk seine Hand aus. Toms Gehirn schaltete wieder auf Überlebensmodus und schlug der rechten Hand vor, Ottokars Hand zu ergreifen und freundschaftlich zu drücken. Toms rechte Hand nahm den Vorschlag widerspruchslos an.
„Tom.“
„Die Kurzform von Thomas?“
„Nein, die Kurzform von Tom.“
„Sehr interessant! Freut mich sehr, Tom.“
Ottokar schüttelte Toms Hand kräftig und grinste breit dazu.
„Ich bin noch nicht sicher, ob es mich auch freut“, entgegnete Tom zögerlich. „Experimente?“
„Ja, Experimente. Genauer gesagt: Grundlagenforschung der angewandten Physik. Willst du es sehen? Natürlich willst du. Komm!“
Ottokar ließ Toms Hand los und ging schnurstracks durch die Schlafzimmertür.
„Ah, schönes Wohnzimmer, wirklich, aber ich hätte an deiner Stelle das Wohnzimmer dort im Raum mit dem Zugang zum Balkon eingerichtet. Wäre vorteilhafter, wenn jemand zu Besuch kommt.“
„Das sollte eigentlich…“ stammelte Tom, der sich nicht bewegt hatte. „Hier geht es nach draußen.“
Ottokar drehte sich um und sah wie Tom auf die Tür zum Flur deutete.
„Sehr schön“, sagte Ottokar fröhlich und ging in Richtung Wohnungstür, die Hände wieder in den Hosentaschen vergraben. „Allerdings würde ich einen Rucksack nicht so achtlos auf den Boden werfen, man könnte darüber stolpern.“
„Danke für den Hinweis“, antwortete Tom ein wenig genervt und folgte Ottokar.