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Merkwürdigkeiten

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Tom parkte sein Auto unweit des Hauseingangs. Er freute sich auf sein eingerichtetes neues Zuhause. Das Missgeschick in seiner Firma hatte ihm die Laune verdorben und das einzige, was ihn moralisch wieder aufrichten konnte waren seine eigenen vier Wände und seine eigenen Möbel. Das Hotelzimmer, welches er für seine ersten Tage in Dresden bezogen hatte, konnte da nicht ganz mithalten. Bevor er ins Haus ging öffnete er den Briefkasten und fand darin den Schlüssel, den er der Umzugsfirma gegeben hatte, zusammen mit einem kleinen Zettel, auf dem stand: ‚Alles erledigt. Rechnung folgt.‘ Da kurz vorher seine Telefongesellschaft, die mit einem deutschlandweiten Umzugsservice unter 24 Stunden geworben hatte, ihm per elektronischen Brief mitgeteilt hatte, dass er in seiner neuen Wohnung bereits die Vorzüge einer schnellen Internetverbindung mit allem drum und dran erfahren könne, ging Tom fröhlich pfeifend ins Haus, stieg in den Aufzug und fuhr in die vierte Etage zu seiner Wohnung. Er ging beschwingt auf seine Wohnungstür zu, schloss sie auf, hüpfte übermütig hindurch, liess die Tür ins Schloss fallen und sprang aufgeregt wie ein Kind zur weihnachtlichen Bescherungszeit durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer und schrie:

„Was für ein Mist ist das denn!“

Tom konnte es nicht fassen. In seinem Wohnzimmer stand das Bett und der Nachttisch samt Nachttischlampe. Noch viel schlimmer als das war, dass der riesige Schlafzimmerschrank genau vor der Balkontür stand und diese komplett blockierte. Fassungslos stürmte er in sein Schlafzimmer, wo er alle Möbel vorfand, die eigentlich ins Wohnzimmer sollten. Tom taumelte zurück ins Wohnzimmer. Ihm fehlten einfach die Worte. Sein Gehirn versuchte mit der Situation fertigzuwerden, brauchte aber einige Momente dazu, was sich im geöffneten Zustand seines Mundes widerspiegelte. Dann fiel Toms Blick auf den Boden. Da lag der Zettel, den er an die Schlafzimmertür geklebt hatte. Auf ihm stand das Wort ‚Schlafzimmer‘. Jetzt konnte sein Gehirn mit der Situation etwas anfangen und vor seinem geistigen Auge entspann sich das Szenario, wie es sich abgespielt hatte:

Drei überaus fähige Möbelpacker hatten sehr zielgerichtet direkt vor dem Haus geparkt, in dem Toms neue Wohnung lag, und den ersten Satz Möbeln auf Rollpaletten verladen. Mit diesen ging es gleich im ersten Anlauf mit dem Fahrstuhl nach oben, denn Zeit ist Geld. Für die Türen hatte Tom ihnen den entsprechenden Schlüssel zukommen lassen. Der erste, der die Wohnung betrat, hatte die beiden Zeichnungen von Tom in der Hand, worauf mit sehr gut lesbaren Buchstaben, Zahlen und Strichen die genaue Position der Möbel im Wohn- und Schlafzimmer vermerkt war. Eine Zeichnung für die Küche und das Bad hatte sich Tom gespart, denn aufgrund der unermesslichen Kleinheit der beiden Räume war eh jedem klar, wo der kleine Badezimmerschrank und die Küchenausstattung hinmussten, denn sie passten jeweils nur an eine Stelle. Es sei denn, man wollte die Räume nicht mehr durch die Tür verlassen.

Der erste Möbelpacker öffnete rasch die Badezimmer- und Küchentür und warf ob der Größe einen mitleidigen Blick hinein.

„Links Bad, rechts Küche“, rief er über die Schulter seinen beiden Kollegen zu, während er durch die Wohnzimmertür ging.

„Was haben wir als erstes aufgeladen?“ fragte er seine beiden Kollegen.

„Schlafzimmer“, antwortete einer der anderen beiden nach einem kurzen Blick auf den Zettel am Schrank, den er auf der Rollpalette hinter sich herzog.

„Okay, dann hier aufstellen“, sagte der erste und heftete mit einem Klebestreifen Toms Schlafzimmerplan an die Wand neben der Tür und ging durch die Schlafzimmertür.

„Hä, das verstehe ich nicht“, sagte der zweite Möbelpacker, als er das Wohnzimmer betrat und auf den Plan schaute. „Nach dem Plan würde der Schrank vor der Balkontür stehen. Das macht doch keinen Sinn!“

„Du sollst die Möbel wie auf dem Plan aufstellen und keine Sinnsuche betreiben“, herrschte ihn der erste an. „Hier:“ Er zeigte auf die Pläne und den Zettel auf dem Boden,“Plan Schlafzimmer, Zettel ‚Schlafzimmer‘, also hier Schlafzimmer und durch die Tür Wohnzimmer. Wir haben noch zwei Kunden heute anzufahren. Zeit ist Geld!“

„Wer weiss, vielleicht hat der Typ Angst vor Einbrechern die über den Balkon kommen. Da ist so’n Schrank vor der Balkontür das Beste“, kommentierte der dritte Möbelpacker lapidar die ungewöhnliche Einrichtung.

So hatte ein nicht ganz so gut haftender Klebestreifen dafür gesorgt, dass die Räume beim möblieren vertauscht wurden. Jedenfalls stellte sich das Problem für Tom so dar.

Tom seufzte kurz, nachdem sein Gehirn ihm mitgeteilt hatte, dass es für die Lösung des Problems noch den einen oder anderen Tag brauche, und nahm das Wichtigste in Angriff: Seinen Internetanschluss. Nicht weil er seine sogenannten Freunde in den Sozialen Netzwerken vermisste oder gar onlinesüchtig war, sondern weil er von zu Hause aus arbeiten wollte. Sein Computer in der Firma mochte ihn ja nicht mehr. Doch da ergab sich das nächste Problem: Den WLAN-Router in Betrieb zu nehmen, scheiterte schon fast im Ansatz. Fast nur deshalb, da er zwar den Router ausgepackt und die richtigen Kabel für Internet und Strom angeschlossen bekam aber dann auf dieses kleine freche rote Lämpchen vorne auf dem Router stiess. Tom starrte es an und verfluchte es. Das Lämpchen, welches in Wirklichkeit eine einfache Leuchtdiode war, konnte eigentlich nichts dafür, denn sie tat nur das, wozu sie hergestellt wurde: Sie folgte ihrem Lebenszweck und leuchtete fröhlich vor sich hin, da der Router keine Verbindung zum Internet fand. Das wiederum stimmte Tom in keinerlei Weise fröhlich.

Nach diversen Aus-und-wieder-Einschaltorgien und Stecker-aus-der-Streckdose-ziehen-und-mit-Schwung-wieder-hineinstecken-Aktionen war Tom letztendlich wieder da, wo er am Anfang war: Die kleine unschuldige rote Leuchtdiode tat ihren Dienst. Übrigens zum ersten Mal in ihrem Leben und darüber war sie anscheinend sehr froh und leuchtete dem Anlass entsprechend extra hell. Tom zog sein Smartphone aus der Tasche und schaffte es innerhalb von 20 Minuten auf der Internetseite seines Telefonanbieters das Meldeformular für Störungen zu finden. Er hatte sich für die Onlinemeldung entschieden, da er keine Lust auf die Warteschleife bei der Telefon-Hotline hatte. Innerhalb von nur weiteren fünfzehn Minuten schaffte er es, die entsprechende Störungsmeldung abzuschicken. Zumindest hatte er aus dem zur Verfügung stehenden Angebot eine Störungsbeschreibung ausgewählt, die seinem Problem am ähnlichsten war.

Für Tom, der aufgrund seines Berufes die zu Grunde liegenden technischen Abläufe von automatisierten Kundenanfragen kannte, war es wenig verwunderlich, dass er nur mit Hilfe von vorformulierte Störungsbeschreibungen sein Problem in das Online-Formular eingeben konnte. Was ihn wirklich verwunderte, waren die Störungsarten, die ihm angeboten wurden. Neben völlig, zumindest seiner Ansicht nach, irrelevanten Punkten wie ‚Die Farbe des Anschlusskabels für den unkomplizierten Internetaufbau passt nicht zur Tapete‘, ‚Der Servicemitarbeiter vor Ort ist ein Mann‘ und ‚Meine Katze hat das Display meines Smartphones so verkratzt, dass ich die elektronische Gebrauchsanleitung nicht mehr lesen kann‘ fand er schliesslich den Punkt ‚Die am Kundenanschluss zur Verfügung stehende Datenrate ist so gering, dass bei Internetseiten nur die Werbung dargestellt wird‘. Alle anderen Möglichkeiten setzten voraus, dass der Internetanschluss tadellos funktionierte.

Genervt setzte er sich an seinen Schreibtisch im vorerst zum Wohnzimmer erklärten Schlafzimmer, schaltete seinen Computer ein und startete das Computerspiel, mit dem er sich immer entspannte. Allerdings meldete das Spiel beim Startvorgang, dass der Computer keinen Zugang zum Internet hätte und damit die Echtheit des Programms nicht verifiziert werden könne. Das abschließende ‚Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag‘, mit dem sich das Programm aus dem Hauptspeicher des Computers verabschiedete, hätte Tom fast zur Überprüfung der Aussage ‚Traue keinem Computer, den du nicht aus dem Fenster werfen kannst.‘ animiert.

Da einerseits das Antennenkabel seines Fernsehers zu kurz war, um bis zur Anschlussdose im eigentlichen Wohnzimmer zu reichen, und andererseits der Fernseher viel zu schwer war, um von Einem alleine getragen zu werden, blieb Tom nichts anderes übrig als auf das Sofa zu fallen und mit seinem Smartphone auf der großen Welle durch das Internet zu surfen. Nach einigen Minuten meldete sich eine Email und gab im allerbesten Werbe-Neusprech preis, dass sein Telefonanbieter die Störungsmeldung entgegengenommen habe und dass er über einen Link den Fortgang der Arbeiten live verfolgen könne. In Erwartung so etwas langweiliges wie ‚Ihre Störungsmeldung wird bearbeitet‘ zu lesen rief er den Link auf. Jedoch liess die Software zur Störungsbearbeitung scheinbar eine freie Formulierung zu, denn Tom las verblüfft als Statusmeldung: ‚Der zuständige Techniker sitzt noch staunend vor dem Diagnosecomputer, da ihm ein solcher Fehler noch nie untergekommen ist.‘

Tom schüttelte nur mit dem Kopf.

„Unglaublich!“ rief er aus.

Nachdem fünf Minuten lang sich nichts an der Meldung änderte und er durch mehrfache Neuaufrufe des Links zu dem Schluss kam, dass die Statusmeldung echt ist, brach auch schon die Nacht mit ungeheurer Müdigkeit über Tom herein. Er warf vor seinem geistigen Auge eine Münze, um zu entscheiden, ob er das Sofa im Schlafzimmer oder das Bett im Wohnzimmer benutzen sollte. Er beugte sich dem Münzwurf und stieg ins Bett, nachdem er alle Dinge erledigt hatte, die man vor dem Schlafengehen eben erledigt.

Obwohl er so müde war, dass er alle paar Minuten gähnen musste, konnte Tom nicht gleich einschlafen. Seine Gedanken kreisten immer noch um das Schlafzimmer-Wohnzimmer-Problem. Zusätzlich brachte sein Gehirn ungefragt die Angelegenheit mit dem Internetanschluss mit in die Diskussion ein. Seine Gedanken zogen immer weitere Kreise. Das Wort Techniker aus der Statusmeldung erinnerte ihn plötzlich an den Moment, als er in seiner alten Wohnung in Hamburg vor etlichen Jahren die Tür öffnete und eine hinreißende Blondine vor ihm auf dem Flur stand. Er hatte mit dem angemeldeten Techniker für den Austausch seiner Wasseruhr gerechnet, aber nicht damit, dass dieser Techniker weiblich und so gut aussehend war. Tom schlief mit dem Gedanken an diese Frau und ihre blonden Naturlocken ein und sein Gehirn bot ihm als Einschlafgeschenk einen Traum von ihr an, was er liebend gern annahm. Der Traum endete damit, dass Tina Kleier, so hiess die Wasseruhraustauscherin wirklich, sich mit einem freundlichen Lächeln verabschiedete und eine ihrer Locken als Geschenk daliess.

‚Was für ein bescheuerter Traum‘, dachte Tom, als er am nächsten Morgen aufwachte und sich an den Traum erinnerte. Sein Smartphone dudelte noch die Erkennungsmelodie seiner Lieblingsfernsehserie als Weckton, als Tom auf dem Rücken liegend sich und seiner Umgebung langsam bewusst wurde. Er hob den Kopf und schaute auf den WLAN-Router. Die unschuldige rote Leuchtdiode freute sich noch immer, dass sie endlich ihren Lebenszweck erfüllen konnte und leuchtete glücklich vor sich hin. Tom teilte diese Glücksgefühle keineswegs und stieß einige Flüche gegen die unschuldige rote Leuchtdiode aus. Er schlug seine Decke zurück und wollte gerade mit Schwung aufstehen, als er was helles fusseliges an seinem Kopf vorbeifliegen sah. Er hatte irgendetwas mit der Decke aufgewirbelt. Neugierig schaute er neben das Bett wohin dieses Etwas verschwunden war und stutzte. Da lag eine blonde Haarlocke, die in Form, Farbe und Größe der glich, welche Tina ihm in seinem Traum zum Abschied geschenkt hatte.

Tom kniff sich in den Arm und rief: „Aua!“

Er war also wach. Vorsichtig nahm er die Locke zwischen Zeigefinger und Daumen und betrachtete sie genau aus allen Richtungen. Es war tatsächlich eine echte blonde Haarlocke von vielleicht fünf Zentimetern Länge.

Toms Gehirn dachte sich: ‚Boah, nee, darauf habe ich jetzt keinen Bock! Weglegen, duschen, anziehen, frühstücken, arbeiten. Um den Rest kümmere ich mich später.‘

Tom widersprach seinem Gehirn nicht mal im Ansatz.

Etwa zu der gleichen Zeit, als Tom den Traum von der schönen Wasseruhraustauscherin namens Tina Kleier hatte, befand sich diese in einem der angesagtesten Clubs Hamburgs und flirtete mit einem sehr charmanten Typen namens Ben. Da er plötzlich irritiert auf etwas neben ihrem Gesicht starrte, beschloss Tina schnell doch mal für kleine Mädchen zu verschwinden und im Spiegel auf der Damentoilette ihr Äußeres zu kontrollieren, für dessen möglichst durchschlagende Wirkung beim männlichen Geschlecht sie doch immerhin ganze zweieinhalb Stunden aufgewendet hatte. Mit entsetzlichem Erschrecken, welches sie der übrigen anwesenden Weiblichkeit durch einen hysterischen Schrei bekanntgab, entdeckte sie etwas, das nicht da war: Ein großes Stück ihrer wundervollen Locken. Da sie genauso wenig wie Tom über die wahren kosmischen Zusammenhänge, die zu einer physischen Verlagerung einer ihrer Haarlocken führten, bescheid wusste, folgte sie dem ersten Gedanken, der ihr einer erklärbaren Lösung des Rätsels am nächsten kam und stürmte zurück in den Club, schlug ihrer völlig überraschten und sofortigen Ex-Freundin Jasmin ins Gesicht und schrie: „Du blöde Friseuse! Nur weil ich mir einen Typen geangelt habe, schneidest du mir hinterrücks die Haare ab!“

Der teilweise sehr laute und wenig Frohsinn verbreitende Fortgang der Nacht wird hier nicht weiter verfolgt, da die weiteren Ereignisse im angesagtesten Club Hamburgs nichts, aber auch rein gar nichts zum weiteren Verlauf der Geschichte beitragen. Ehrlich!

Ottokar Heisenberg - Ein relativ unscharfer Typ

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