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Ottokars Wohnung

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Tom folgte Ottokar zu seiner Wohnung auf der anderen Seite des Flures.

Toms Gehirn hatte immer noch größtenteils auf Überlebensmodus geschaltet und dachte sich: ‚Hm, keine Ahnung was hier los ist. Bevor durch angestrengtes Nachdenken irgendetwas Schlimmes mit meinen geliebten Synapsen passiert, folge ich einfach diesem komischen Typen. Scheint ja ganz spannend zu sein. Aber ein bisschen Energie für Skepsis kann ich schon aufwenden. Hey, Gesicht! Skepsis!‘

Toms Gesicht gehorchte.

Ottokar ging mit den Händen in den Hosentaschen voran und pfiff leise eine fröhliche Melodie. Vor seiner Wohnungstür angelangt schloss er sie auf und ging hinein.

„Komm, Tom!“ sagte Ottokar und setzte, nachdem er das skeptische Zögern auf Toms Gesicht gesehen hatte, hinzu: „Keine Panik! Hier ist nichts gefährliches und du kannst jederzeit unversehrt meine Wohnung wieder verlassen.“

Das beruhigte Tom zwar nicht, aber trotzdem folgte er Ottokar: Die Neugier war einfach viel zu überwältigend.

Der Flur in Ottokars Wohnung war unspektakulär leer und die Wände weiss gestrichen. Er wurde von einer einzelnen Glühbirne erleuchtet, die an einem Kabel von der Decke baumelte. Die Tür zum Wohnzimmer schien eine ganz normale Wohnzimmertür zu sein. Sie unterschied sich in nichts von der Wohnzimmertür, die auch in Toms Wohnung war. Das gleiche galt für die beiden Türen, die links und rechts vom Flur abgingen, hinter denen Tom jeweils das Bad und die Küche vermutete, wie es auch in seiner Wohnung der Fall war. Er war etwas enttäuscht. Irgendwie hatte er aus einer völlig irrigen Annahme heraus eine Einrichtung erwartet, die selbst HR Gigers Meisterwerke in den Schatten stellen würde. Nachdem Ottokar mit einer einladenden Geste Tom durch die Wohnungstür leitete, liess er sie einfach ins Schloss fallen. Tom schaute kurz ängstlich auf die geschlossene Wohnungstür, musste aber zu seiner Erleichterung feststellen, dass dort kein halbes Dutzend Riegel, Ketten oder sonstige Absperreinrichtungen vorhanden waren. Ottokar ging auf die Wohnzimmertür zu, öffnete sie und forderte Tom mit einer Handbewegung auf ihm zu folgen.

„Hier entlang“, sagte er.

Tom folgte Ottokar durch die Tür. Im Wohnzimmer war es dunkel, da kein Licht brannte und die Rollläden der Fenster geschlossen waren. Allerdings sah Tom diverse kleine Lämpchen in verschiedenen Farben und einen hell erleuchteten Computermonitor mit so etwas wie einer EKG-Linie darauf. Als Ottokar das Licht anschaltete, staunte Tom nicht schlecht über das, was er dann alles sah.

Der Raum war vollgestellt mit diversen technischen Geräten und Vorrichtungen, von denen Tom nur knapp die Hälfte identifizieren konnte. Soweit reichte sein technisches Verständnis gerade noch.

„Das ist mein Labor“, sagte Ottokar mit einer ausholenden Geste. „Ist doch echt chic, oder?“

„Was ist das alles hier?“ fragte Tom erstaunt.

„Ich will dich nicht mit unnötigen Details langweilen. Im Großen und Ganzen ist das alles hier, sagen wir mal, eine Versuchsanlage für die Untersuchung und Manipulation von Quantenteilchen: Computer zur Analyse und Steuerung, eine Laserkühlanlage und verschiedene Testaufbauten. Du weisst doch, was Quantenteilchen sind, oder?“

„Im Prinzip der Stoff, aus dem alles im Universum besteht. Subatomare Teilchen, aus denen auch die Protonen und Neutronen in Atomkernen aufgebaut sind.“

„Ja, das beschreibt es zutreffend genau für einen Laien. Du hast wohl keine Physik studiert, oder?“

„Nein, ich habe Technikredaktion studiert.“

„Hm, interessant. Darüber musst du mir mal bei Gelegenheit etwas erzählen.“

„Was machst du hier eigentlich genau? Ich verstehe immer noch nicht so ganz, wie man so etwas in einer Wohnung betreiben kann. Ist das nicht eher was für große Labore an Universitäten oder ähnlichem?“

„Tja, das ist eben die vorherrschende Meinung. Tatsächlich braucht man für die Erforschung des Allerkleinsten keine so riesigen Uni-Labore mit zig Mitarbeitern. Das ist nur dafür da, um als Professor wichtig zu erscheinen und ein Politiker kommt eher in die Nachrichten mit der Aussage ‚Wir haben der Universität Dingsbums zwanzig Millionen für Forschung gegeben‘ als mit einer seitenlangen Liste von einzelnen Forschern, denen jeweils zwanzig Tausend für deren Arbeit gegeben wurde. Das druckt keiner und das Vorlesen der Liste würde den Rahmen einer fünfzehnminütigen Nachrichtensendung sprengen. Außerdem schau dir mal den Versuchsaufbau an, mit dem Otto Hahn, Fritz Straßmann und Liese Meitner 1938 die Kernspaltung entdeckt haben: Das war ein ganz normaler Schreibtisch und kein milliardenteurer Beschleunigerring.“

„Aber das alles hier kostet doch eine Menge Geld. Ganz zu schweigen vom Stromverbrauch.“ Tom riss die Augen auf: Der äußerlich sichtbare Hinweis auf einen Gedankenblitz.

„Jetzt weiss ich, warum das Licht im Flur immer flackert!“ rief Tom aus. „Das sind deine Experimente, die zu viel Strom ziehen!“

„Nein“, erwiderte Ottokar ruhig. „Das Flackern kommt von einem Wackelkontakt in der Hauptstromleitung zum Haus, der immer dadurch ausgelöst wird, wenn der Linienbus mit exakt 49,3 Stundenkilometer am Haus vorbeifährt. Das habe ich mit einer zweimonatigen Messreihe ermittelt und dieses schon letztes Jahr dem Hausmeister mitgeteilt. Aber scheinbar dauert die Fehlerbehebung wohl sehr lange. Mein Labor ist komplett vom öffentlichen Stromnetz unabhängig. Ich habe hier einen Fusionsreaktor.“

Ottokar zeigte auf einen Glaszylinder in einer Zimmerecke. Der Behälter war etwa einen Meter hoch und hatte einen Durchmesser von ca. 40 Zentimeter. Er war mit einer schwach hellblau leuchtenden Flüssigkeit gefüllt, in der hin und wieder ein paar Luftblasen aufstiegen. Oben und unten waren verschiedene Anschlüsse und Vorrichtungen zu erkennen, von denen fingerdicke Kabel zu den anderen Geräten im Raum führten.

„Wie bitte? Du hast einen Fusionsreaktor im Wohnzimmer?“ rief Tom aus und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Ist das nicht gefährlich?“

„Ach was“, antwortete Ottokar mit einer abschätzigen Handbewegung. „Das ist kalte Fusion. Ein paar Liter schweres Wasser und ein bisschen Elektronik. Das schlimmste, was passieren kann ist, dass mein Nachbar unter mir nasse Füsse bekommt.“

„Kalte Fusion?“ Tom kam immer mehr ins Staunen. „Ich dachte, die funktioniert nicht?“

„Diese Idioten von ‚Spitzenwissenschaftlern’!“

Ottokar schrieb mit den Fingern doppelte Anführungszeichen in die Luft.

„Ihnen fehlte immer ein kleines bisschen Energie, um den Prozess zur Stromerzeugung aufrecht zu erhalten. Ich habe einfach die übliche Anordnung senkrecht statt waagerecht hingestellt und nutze so das Potenzial der Erdanziehung mit. Auf die Idee ist scheinbar noch keiner gekommen.“

„Das ist ja alles unglaublich, was du hier machst. Bist du ein Außerirdischer oder einfach nur ein verkanntes Genie?“ fragte Tom.

„Falls ich ein Außerirdischer sein sollte“, antwortete Ottokar mit gedämpfter Stimme und Verschwörermiene, „dann haben meine außerirdischen Kumpanen mein Gedächtnis gelöscht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich als Mensch aufgewachsen bin. Du willst also wissen, wie ich zu all dem gekommen bin? Nun ja, dann erzähle ich dir in Kurzform das wichtigste aus meinem Leben. Schlagen wir sozusagen das nächste Kapitel auf.“

Ottokar Heisenberg - Ein relativ unscharfer Typ

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