Читать книгу Ottokar Heisenberg - Ein relativ unscharfer Typ - Mark Löschner - Страница 12
Ottokar
ОглавлениеOttokar war in einer kleinen deutschen Stadt aufgewachsen. Während der Schulzeit absolvierte er das obligatorische Praktikum zur Vorbereitung auf das Berufsleben im Rathaus der Stadt. Seine Mitschüler versahen ihr Praktikum lieber in ortsansässigen Unternehmen. Niemand konnte Ottokars Berufswunsch verstehen, städtischer Beamter zu werden. Es passte jedoch in die schrullige Art und Weise, wie Ottokar schon als Kind und Jugendlicher aufgetreten war und erzeugte bei seinen Mitschülern und Lehrern nur ein müdes Achselzucken. Was er in Bezug auf seinen Praktikumswunsch nicht nur gegenüber seinen Mitschülern sondern auch gegenüber jedem anderen Menschen auf diesem Planeten verschwieg, war die Erkenntnis zu der er gelangt war: Die wahre Macht wird nicht mit Geld gekauft oder mit Waffengewalt errungen, sondern sie liegt in den Händen unscheinbarer Verwaltungsbeamter. Den Steuerbescheid erstellt nicht der Finanzminister in der Hauptstadt, sondern ein Beamter irgendwo in der Provinz und selbst der schlimmste Diktator war auf die Zuarbeit namenloser Gehilfen aus der Verwaltung angewiesen, wenn er die Wohnadressen seiner nächsten Opfer wissen wollte.
Kurz vor Beginn von Ottokars Praktikum wurde das Einwohnermeldeamt auf das neueste Computersystem umgestellt, mit dem niemand so richtig zurechtkam. Zwei Mitarbeiter waren noch auf Schulungslehrgang, der Amtsleiter wollte nur, dass der Laden läuft und der Beamte, welcher Ottokar als Betreuer zugeteilt war, weigerte sich, das neue System zu erlernen, da er nur noch 21 Monate bis zur Pensionierung hatte und somit die entsprechende dreiwöchige Ausbildung für sich als Zeit- und Geldverschwendung ansah. Damit war das Spielfeld für Ottokar bereitet. Er arbeitete sich unbeaufsichtigt innerhalb von wenigen Stunden in das System ein und erstellte eine neue Identität mit allem drum und dran. Nach seinem Abitur reiste Ottokar für sechs Monate nach Südostasien auf einen Selbstfindungstrip, wie er es nannte. Alle dachten, er würde als Rucksacktourist Land und Leute kennenlernen. Tatsächlich nutzte er die Zeit, um einfach nur am Strand zu liegen und gegenüber dem vor Ort befindlichen Konsulat den Diebstahl all seiner Ausweispapiere vorzutäuschen und sich neue zu verschaffen. So kam es dazu, dass ein gewisser Jan Schmidt das heimatliche Deutschland verliess und sechs Monate später als Ottokar Heisenberg zurückkehrte.
Wie er auf den Namen Ottokar kam, darüber schweigt er. Den Nachnamen Heisenberg wählte er aus einem bestimmten Grund. Ottokar schrieb sich an der Universität mit dem größten Physiklehrstuhl ein, um möglichst in der Masse unterzugehen, aber auch andererseits aufgrund seines Namens aus der Masse hervorzustechen, wenn es jemanden interessierte. Natürlich elektrisierte der Name Heisenberg nicht nur seine Kommilitonen sondern auch seine Professoren. Diese sprachen ihn immer wieder auf eine mögliche Verwandtschaft mit dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg an, was Ottokar unbestimmt abwimmelte, indem er jedes Mal sagte: „Ich möchte nicht aufgrund meines Namens bevorzugt werden.“
Die gegenteilige Behandlung durch seine Dozenten war genau das, was er wollte und auch bekam. Das ging so lange gut, bis er sich eines Tages in einen heftigen Streit mit Professor Schmidlhuber verstrickte.
Lothar Friedrich Schmidlhuber war Professor für Experimentalphysik und betrieb Grundlagenforschung. In seinem Labor stand eine riesige und beeindruckend komplizierte Laseranlage. So beeindruckend kompliziert, dass selbst seine engsten Mitarbeiter nicht genau erklären konnten, woran er eigentlich forschte. Da er aber regelmäßig staatliche Forschungsmittel zugeteilt bekam, ging jeder davon aus, dass seine Forschung sehr wichtig war. Nebenbei war Professor Schmidlhuber aufgrund des Prinzips der Einheit aus Forschung und Lehre dazu gezwungen, eine Vorlesung zu halten. Er hatte zwar das Thema so kompliziert gewählt, dass keinem vernunftbegabten Studenten jemals auch nur im Entferntesten eingefallen wäre, sie zu besuchen. Allerdings hatte es sich schnell herumgesprochen, dass man nur durch pure Anwesenheit den notwendigen Schein in Experimentalphysik bekam, da Schmidlhuber profane Arbeit wie das Prüfen von Studenten einfach zuwider war.
An einem gewöhnlichen Mittwochmorgen, es war gerade halb zehn in Deutschland, traktierte Professor Schmidlhuber die Tafel im Hörsaal Nummer Einundzwanzig mit einem Stück Kreide. Er hinterließ dabei Spuren, die einem aufmerksamen Beobachter als Darstellung eines überaus interessanten mathematischen Problems in der modernen Physik vorgekommen wäre. Dieser aufmerksame Beobachter war Ottokar, welcher der einzige Zuhörer war, der sich nicht mit der Partyplanung für das nächste Wochenende, diversen Online-Spielen auf dem Laptop oder dem Ausschlafen des Rausches von letzter Nacht beschäftigte. So entging ihm als einziger auch nicht ein winziger Fehler in Schmidlhubers Tafelanschrieb.
„Herr Professor, sie haben da in der dritten Zeile einen Vorzeichenfehler gemacht.“
Dieser Ruf liess die gesamte nicht schlafende Zuhörerschaft und sogar die Lüfter der Laptops verstummen. Das kreischende Quietschen der abrutschenden Kreide hallte in eine vollkommene Stille und weckte die Schlafenden. Langsam drehte sich Professor Schmidlhuber mit der Kreide in der zum Schreiben erhobenen Hand um.
„Wer war das?“ fragte er ganz ruhig.
„Ich“, antwortete Ottokar und hob den Arm, was sofort alle Blicke auf ihn lenkte.
„Wie ist ihr Name?“
„Heisenberg, Herr Professor.“
„Herr Heisenberg, sie scheinen wohl meine Auftaktvorlesung verpasst zu haben.“ Schmidlhuber hatte seine Haltung nicht verändert jedoch seiner Stimme einen bedrohlichen Ton verliehen. Auch sein stechender Blick, der auf Ottokar gerichtet war, hätte in weniger zivilisierten Gesellschaften schnell zu einem mittelschweren Kampf führen können.
„Ich habe darin deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich während meiner Vorlesung keinerlei Zwischenfragen oder sonstige Äußerungen der Studentenschaft wünsche. Für unangebrachte Kommentare wurden ihnen diese sogenannten Sozialen Netzwerke geschenkt. Dort können sie sich von mir aus ungebührlich äußern, wie es ihnen beliebt, aber nicht in meiner Vorlesung!“
„Herr Professor, das ändert aber nichts daran, dass sie einen Fehler gemacht haben. Wenn sie diesen nicht korrigieren, dann käme bei ihrer weiteren Berechnung heraus, dass die Kosmologische Konstante einen viel zu großen Wert hätte und damit das Universum im vorherrschenden Standard…“
Hier war der Punkt erreicht, an dem alle anderen Studenten möglichst unauffällig aber schnell den Hörsaal verließen.
„Das kann länger dauern“, raunte man sich zu.
Außerdem war der immer heftiger werdende Wortwechsel den Schläfern und den Spielern viel zu nervig. Normalerweise ging Schmidlhubers Stimme in der Geräuschkulisse von Laptoplüftern und leisem Flüstern unter, aber dieser Streit war einfach nur störend.
Der letzte flüchtende Student hörte an der Tür noch den Professor aufbrausend sagen:
„Herr Heisenberg, ich interessiere mich nicht für ihre unqualifizierte Meinung und werde erstens die Vorlesung hier beenden und zweitens für ihre Entfernung von meinem Institut sorgen.“
Professor Schmidlhuber stürmte wutentbrannt mit dem Stück Kreide in der Hand aus dem Hörsaal. Ottokar sah sich mit gespitzten Lippen leise pfeifend um. Als er niemanden mehr sah, packte er seine Sachen und ging auch. Er kehrte noch kurz zurück und schaltete das Licht aus.
Die Anzahl der verbreiteten Versionen über den Fortgang des Streites überstieg mit der Zeit definitiv die Anzahl der Zeugen und Beteiligten. Allen Versionen gemeinsam sind jedoch die Konsequenzen: Professor Schmidlhuber wurde vom Amtsarzt eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert und somit die Vorlesungspflicht erlassen, der Schein für Experimentalphysik wurde aus der Studienordnung gestrichen, da keiner der anderen Professoren bereit war, die Vorlesung zu übernehmen, und Ottokar wechselte auf den sehr eindringlichen Wunsch der Universitätsleitung hin an eine andere Hochschule und beendete dort unter ungeklärten Umständen erfolgreich sein Studium in Rekordzeit.
Ottokar liess von dieser Lebensgeschichte alles unwichtige weg und erzählte Tom in aller Kürze nur, dass er in Bottrop geboren und aufgewachsen sei, Physik studiert habe und nun seine eigenen Forschungen durchführe, da er durch Börsenspekulationen genug Geld besäße. Tom akzeptierte das, weil es sich schlüssig anhörte. Er hätte unter den gegebenen Umständen auch die einfache Erklärung akzeptiert, dass Ottokar ein Außerirdischer sei.