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Gegenden der Kindheit

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Ich bin etwa zehnjährig, als ich an einem späten Nachmittag nach Hause komme und mit dem Vorderrad in die Tür des Geräteschuppens stosse, wo neben Werkzeugen, einigen Blumenzwiebeln, Gartenschuhen und Überkleidern vor allem die Fahrräder untergebracht sind. Es ist ein einfacher Anbau zum Wohnhaus. Die ausgebleichte, ehemals graue Farbe an der Holzverschalung und der Schatten eines Zwetschgenbaums verleihen ihm etwas Geheimnisvolles. Die Kinder des Dorfes spielen gerne hier. Wir klettern das Regenrohr hoch, hängen uns an die Traufe und lassen uns hinunterfallen. Die Grösseren und Mutigeren ziehen sich bis auf das Blechdach, nehmen Anlauf und springen über den Plattenweg und die Wäscheleine mit gewagtem Satz ins Gras. Heute liegt der Schuppen verlassen da. Ich beuge mich über die Lenkstange, drücke die Falle und schlage mit dem prallen Reifen die Türe auf. Ich hebe das Rad über die Steinschwelle und schiebe es in eine Lücke.

Durch ein seitliches Fenster fällt vom Zwetschgenbaum gedämpftes Licht. Im weichen Dämmer entdecke ich dich an der hinteren Wand. Wie ein Bauernmädchen im Sonntagsstaat stehst du da. Um dich herum, aufgereiht, an die Wand gelehnt oder übereinandergeworfen, Laubrechen und Besen, Harken, Pickeln und Schaufeln. Von deinen glänzenden Sandalen und deinen kleinen Füssen geht ein Leuchten aus, das auf die gehäkelten Kniestrümpfe, den blumenbesetzten Rock und die helle Bluse übergeht. Deine Eltern sind aus dem Süden Italiens ins Land gezogen, geflohen vor der Arbeitslosigkeit, vor den ewig schimpfenden Grosseltern, vor den kranken Onkeln und sich aufspielenden Tanten, vor der eintönigen Arbeit in den Olivenhainen, vor materieller Armut und seelischer Verödung. Sie glauben an die Zukunft im Norden, auch wenn sie keinen Beruf erlernen durften und jetzt Ziegelöfen bestücken und Spinnereimaschinen bedienen müssen, auch wenn sie sich nicht eingestehen wollen, dass ihnen das aufwühlende Farbenspiel des Meeres und das Hundegebell bei der Olivenernte fehlen.

Ihr mietet über der Kurzwarenhandlung des Dorfes eine Wohnung. Euer Weihnachtsbaum, der jeweils im Erker zur Hauptstrasse steht, ist immer der schönste im Dorf. Mit echten Engelshaaren, echten Engelsglocken und einem Musikdosengloria. Eure Sonntagskleider stechen alle anderen aus. Du bist im Dorf geboren und ein Kind des Dorfes geworden. Dein breites ovales Gesicht aber, die weichen Wangen, die ungezähmten, spröden, honigbraunen Haare, die Schattengruben in den Mundwinkeln, der Flaum auf der Oberlippe und die nachtdunklen Augen machen aus dir ein Bauernkind aus dem Süden. Du hattest mir einen Kuss versprochen und bist gekommen, um das Versprechen einzulösen. Ich zwänge mich durch das Räder- und Stangengewirr. Wir stehen voreinander und sind unschlüssig, welche Neigung unsere Köpfe einzunehmen haben, wissen nicht, wohin mit den Händen. Wir nippen eher, als dass wir von den Lippen kosten. Aber es ist ein Kuss, so echt wie die Engelshaare. Danach stehen wir verlegen. Ich gehe zur Tür und spähe durch einen Spalt. Als ich sehe, dass niemand auf dem Plattenweg daherkommt und die Lage unter dem Zwetschgenbaum ruhig bleibt, lasse ich dich durch die Öffnung entwischen. Einige ewige Sekunden später versuche ich Richtung Hauseingang zu schlendern, summend, als wäre nichts geschehen, als spürte ich nichts von der fiebrigen Kühle auf meinen Lippen.

Am nächsten Tag, auf dem Heimweg, bleiben wir an eurer Hausecke stehen. Die Daumen unter die Gurte deines Schulranzens geklemmt, zeichnest du mit dem Fuss Figuren in den Kies und sagst: »Meine Eltern küssen und umarmen sich beim Verabschieden immer.« Bevor ich etwas erwidern kann, drückst du mir einen Kuss auf die Lippen. Der Atem stockt mir. Du schaust mir mit Schalk in die Augen, drehst dich um und rennst davon. Ich sehe den wackelnden Ranzen an deinem Rücken. Die Daumen hast du noch immer untergehakt. Am nächsten Tag mache ich es dir nach. Der Abschied wird zu unserem Ritual. Es bleibt aber ein kurzes Zwischenspiel. Einige Schulkameraden verpetzen uns bei Fräulein Hungerbühler. Mitten im Unterricht ruft Felix: »Die haben schon geknutscht.« Und Hans: »Sie knutschen jeden Tag. Ich habe sie an der Hausecke gesehen.« Wir müssen nach der Stunde drinbleiben. Fräulein Hungerbühler redet uns ins Gewissen. Du schweigst. Zu stolz, um zu antworten oder einen Fehler zuzugeben. Ich hingegen fühle mich schuldig. Als sie nicht aufhören will, mich mit Fragen zu bedrängen, fange ich an zu flennen. Am nächsten Morgen steht Frau Heilig, die Hauswartin, mit ihrem Reisbesen beim Schuleingang. Kontrolliert mit flammendem Blick die Schuhe der Kinder. Als wir durchschlüpfen wollen, grummelt sie: »Ihr macht ja schöne Sachen.«

In unseren Kindheiten gibt es vorerst keine Badezimmer. Weder bei dir noch bei mir. Bei uns steht die Wanne auf vier verschnörkelten Füssen in der Kellerwaschküche. Sie steht an einer rau verputzten Zementwand zwischen dem tonnenförmigen Kupferkessel und der zierlichen Zentrifuge. Der Blick aus dem Fenster, von einer Schachtmauer beschnitten, geht auf die nahen Obstbäume von Eberhards hinaus. Die in der oberen Hälfte verglaste Aussentür legt im Morgenlicht vier helle Mosaiksteine in den Waschküchenboden. Von der Tür führt eine flache Rampe zur Hauseinfahrt und zum Garten. Dort spiele ich mit meinen Geschwistern, oft aber auch mit dir. Wir versuchen, Spinnen zu fangen, lassen Kieseln und Murmeln hinunterrollen, bauen kleine Hütten aus Laub und Holz und spielen Familie. An Samstagen, wenn der Vorplatz mit dem Reisigbesen gefegt oder mit dem Schlauch abgespritzt ist und dich die Glocken nach Hause gerufen haben, heize ich mit den Brüdern den Kessel ein. Danach sitzen wir zu zweit und zu dritt mit unserer perlweissen Haut in der überschäumenden Riesenmuschel, pflastern uns Schaumbärte an und kratzen uns die Rücken wund, während du in eurer verwinkelten Stube von deiner Mutter in einen Zuber getaucht wirst, um wie neugeboren, nach Seife riechend und frisch frottiert, daraus hervorzugehen.

Nach dem Einbau der Badezimmer bei euch und bei uns bleiben die Wannen weiter im Gebrauch. Am Vorabend werden die verschmutzten Wäschestücke darin in eine Lauge gelegt, am Wäschetag mit dem Stampfer durchgewalkt, wenn nötig im Waschtrog unter dem Fenster geschruppt und dann zum Kochen in den Kessel geworfen, bis sie mit einem Holzbleuel oder einer langen Holzkelle wie tote Fische aus dem siedenden Wasser gezogen werden. Das Spülen ist eine nasse und langwierige Arbeit. Im Winter setzt es kalte, käsige Hände und Arme ab, bis endlich die Seife ausgeschwemmt ist und die klatschnassen Wäscheballen unter Wimmern und Dröhnen in der Zentrifuge ausgeschwungen werden können.

An Wäschetagen legen unsere Mütter von innen den schwarzen Schlüssel um, öffnen die Türen und lassen die Sonne ein, um ihre Gelten und Zainen voll duftender Wäsche an die freie Luft zu tragen. Du bist Einzelkind. Wir sind eine grosse Familie. Bei uns stehen der Einfahrt und dem Schuppen entlang verzinkte Stangen mit je zwei schneckenförmigen Haken daran. Einmal im Jahr schlauft mein Vater neue Drähte ein und spannt sie. Das reicht für den Wäscheberg von sieben Kindern aber nicht aus. Meine Mutter haspelt darum vom Holzwickler eine Leine ab, befestigt sie am nächsten Telefonmast und an unserem Berner-Rosen-Baum, von dem ich dir im Herbst jeweils einen Pausenapfel mitbringe.

Die Trommelwaschmaschine erreicht unsere Haushalte etwa zur selben Zeit. In den Waschküchen vollzieht sich ein zarter Funktionen- und Generationenwechsel. Es wird stiller um sie. Sie werden die heimlich Vertrauten von uns Heranwachsenden, weil sie Hintertüren bieten und damit einen versteckten Zugang ermöglichen. In der Regel ist die Türe geschlossen. Aber der Schlüssel steckt immer. Jahre später, in einer Sommernacht, machen wir uns die Waschküchenausgänge zunutze und stehlen uns davon. Nicht zusammen, das hätte Aufsehen im Dorf erregen können. Wir gehen zur abgemachten Zeit in unterschiedliche Richtungen los. Ich nehme das Rad aus dem Geräteschuppen, fahre bei lauer Luft über einige Hinterwege zum Bahnhof, dann durch den tief liegenden Pfad zwischen Geleisemauer und Getreidesilo, an der Villa der Müllersfamilie vorbei bis zur Kanalbrücke und zum Bahnübergang. Schon von Weitem höre ich die Schranke schellend heruntergehen. Der Zug rollt heran. Die hellen Fenster zucken wie Lichtbilder vorbei. Ich verfolge einen Passagier, verliere ihn aus den Augen und drehe den Kopf zurück zum nächsten. Mein Kopf gerät ins Schütteln, als würde ich Nein sagen. Dann knarren und zurren die Drahtseile und die Schranke bimmelt wieder hoch. Ich schwenke in die Kanalstrasse ein. Die Siedlung der Spinnereiangestellten bildet einen Riegel gegen den Mühlewald. Die Fabrik auf der Kanalseite, wo deine Mutter arbeitet, ist durch ein Gittertor geschlossen, der Innenhof von einem Scheinwerfer ausgeleuchtet. Aus den Gebäuden dringt das Klopfen und Summen der Nacht- und Maschinenschicht. Nach der Passage eines Turbinenhauses gerate ich auf einen Feldweg. Vorerst von einer hohen Böschung des Damms begrenzt und von Pappeln gesäumt, wird er in der Ferne zusammen mit dem Kanal von einem Waldgürtel verschlungen. Ich beschleunige meine Fahrt, will dich nicht warten lassen. Der Wind lässt mein Hemd flattern. Ich tauche ins Dunkel des Waldes. Ich höre das Wimmern des Dynamos und folge dem voraustastenden Fleck des Radlichts.

Am Waldausgang wartest du. Wir haben uns an der kleinen Brücke verabredet. Du siehst den heranzitternden Schein, der sich aus dem Walddunkel löst, und beantwortest den gepfiffenen Melodieanfang aus unseren Kindertagen. Wir begrüssen uns kaum. Das Gelächter aus einer abgelegenen Gartenwirtschaft vertreibt die Stimmung. Du machst dich bereit für die Weiterfahrt. Willst von der Brücke und dem altertümlichen Kandelaber weg. Wir folgen einer Art Treidelweg. Hier hatte uns Herr Kaltenbrunner einmal erklärt, dass die Kanäle früher Transportwege waren und die Uferpfade genutzt wurden, um mit Tieren die Lastkähne wieder stromaufwärts zu ziehen. Wir haben zwar keine Fracht angeleint, tragen aber eine Erinnerung mit. Wir sind ländlich aufgewachsen, zusammen zur Kirche gegangen. Es ist für uns selbstverständlich, jungfräulich zu sein. Auch wenn nicht alle Geheimnisse unberührt geblieben sind, sprechen wir nicht leichtfertig über das letzte. Nachdem du bei einem meiner Versuche, dich zu verführen, wie irre hattest loslachen müssen, fühlte ich mich zurückgestossen. Unsere Beziehung wurde kühler. Ich kam seltener in eure Wohnung. Du besuchtest mich kaum mehr in unserem Garten. Bis deine Mutter uns bittet, beim Zubereiten und Einmachen von Früchten und Gemüse behilflich zu sein. Sie plaudert, lacht viel und wir fühlen uns nahe. Als sie in die Küche verschwindet, stockt unser Gespräch, legt sich die Stille wie ein Haustier zu uns. Auf dem mit Plastik abgedeckten Stubentisch liegt ein Berg von Rüstabfällen. Ich berühre nur einen deiner Finger und frage so leise, dass ich die Ruhe nicht störe, ob du an der Kanalbrücke auf mich wartest. Du verstehst mich sofort. Der Moment ist gekommen.

Die Weidenbäume neigen sich über die Lackfläche des ruhig fliessenden Wassers. In den Blätterkronen zittert die heitere, mondlose Nacht. Eine Heerschar von Grillen rollt einen sommerlichen Teppich über den Wiesenflächen aus. Wir erreichen das Wehr. Kaum haben wir uns aus dem Schatten und Schutz eines Maschinenschuppens gelöst, schlägt uns das Dröhnen der stürzenden Wasser entgegen. Die träge Masse schiebt sich über eine riesige Schwelle und zerstiebt in einem Becken, das zu kochen scheint. Nebelwolken, kühle Luftwellen und nieselnde Schwaden steigen aus der Tiefe der heissen Sommernacht herauf. Wir suchen die Eisentreppe zur Wehrbrücke. Hier kennen wir uns aus. Dort auf der Kanzel ist der Platz unserer Kinderzeit, wo wir jeweils die Badetücher ausgelegt haben und dann runtergestiegen sind, um hinter den rauschenden Vorhängen der Wehrfälle durch das zurücksprudelnde Wasser zu waten und uns die Hände zu reichen. Wir drücken uns an Kurbeln, Ketten und Blechkästen vorbei und hangeln am rostigen Geländer entlang. Auf der Kanzel angekommen legen wir wie einst das Tuch zurecht. Unter uns die nächtlichen, stürzenden Wasser, über uns der Strand der Sterne. Behutsam entledigen wir uns der Kleider, sinken auf die Planken, erschrecken beim ersten Berühren der Scham und verschmelzen endlich zum Sternbild mit den zwei Rücken.

Barfuss gehen wir zurück. Halten aussen die Räder und bleiben innen fest umschlungen. Unter dem diffusen Schein des alten Kandelabers streichen wir uns noch einmal durch die Haare. Wir verkrallen uns in Nacken und Rücken, als ob wir uns verletzen müssten. Schaffen es kaum, uns zu lösen. Endlich bereit loszufahren, neigen wir uns noch einmal hinüber und versuchen uns zu küssen. Benommen biegen wir in eine neu asphaltierte Strasse ein. Sanft nimmt sie uns in ihr Bett auf. Die Räder gleiten wie vom Wind geschoben dahin. Wir greifen einander in die Lenkstangen. Wanken aufeinander zu und führen einen Rädertanz auf, dass wir beinah hingefallen wären. Beim Haus mit dem Erker angelangt, warte ich, bis du durch die Ritze der Waschküchentür verschwunden bist. Dann trete ich – innerlich jauchzend – in die Pedale, als ob mich eine grandiose Amnestie von allen Lasten, Schulden, Verpflichtungen und Sünden befreit und erlöst hätte. Wie ein Betrunkener fahre ich in der Wasserrinne an der Hauptstrasse entlang. In einigen Fenstern und Ställen brennt bereits Licht. Ich stelle das Rad vor den Schuppen. Das Rumpeln der Türe hätte das ganze Haus und die Nachbarn geweckt. Wie in Kindertagen klettere ich das Regenrohr hoch, überflanke das Geländer des Putzbalkons und verschwinde im Sog des Hausschattens. Angezogen schlüpfe ich unter die Bettdecke.

Am Nachmittag treffen wir uns wieder. Du erzählst mir, dass deine Mutter in der Küche auf dich gewartet habe. Die Einmachgläser, von Geschirrtüchern abgedeckt, hätten auf dem Tisch gestanden. Auch bei offenem Fenster sei der Raum noch voll vom Duft der Konfitüren und Früchte gewesen. Sie habe dich in die Arme genommen. Mit ihrem Feingefühl habe sie gesehen, was geschehen war und auf deine Frage hin angefangen, von sich zu erzählen. Noch nie seist du ihr so nahe gewesen. Ich bin berührt und verstört. »Ich hätte gerne eine solche Mutter«, bemerke ich. In unserer grossen Familie bleiben Erlebnisse wie unsere Nacht am Wehr ein Geheimnis.

Im Dorf gibt es zwei Brückenwaagen, die wir auf unserem Schulweg zu passieren haben. Anhänger mit schweren Luftgummirädern, gezogen von zwei Rossen oder einem Traktor, fahren vor die Landwirtegenossenschaft. Alle sind randvoll mit Erbsen beladen und auf dem Weg in die nächste Dosenfabrik. Ein Waagemeister schiebt die Gewichte und notiert im Schuppen die Zahl in ein blaues Heft. Er flucht, wenn es mit den Rossen zu langsam geht oder wenn an der Waage etwas klemmt und ein Mechaniker geholt werden muss. Die Grube wird abgedeckt. Der Mechaniker steigt in den Waagebauch. Die Dorfbuben, darunter auch ich, sind sofort zur Stelle. Alle barfuss. Teer an den Fusssohlen. Wir reichen dem Handwerker in der Tiefe die verlangten Schlüssel und beurteilen die wartenden Rosse, schätzen die Kraft des Traktors. Vielleicht bist auch du dabei. Dank deinem Vater weisst du Bescheid über Maschinen- und Pferdestärken. Du hast keine Vorbehalte. Schliesst dich oft den Buben an, so wie ich mich deinen Freundinnen. Du errichtest Baumhäuser mit mir, ich spiele mit deiner Puppenstube und mime den Vater in einem von dir erfundenen Familienalltag. Ich bin nachsichtig, doch die Kinder respektieren mich. Du kennst die Werkzeuge in unseren roten Blechkästen, ich weiss einiges über die Freundschaften unter den Mädchen. Wir kochen zusammen auf den Kerzenschalen eines Kinderherdes, Du rührst mit mir den Mörtel an, um eine Chinesische Mauer im Garten zu erstellen. Dass wir deswegen gehänselt werden, stört uns nicht.

Die andere Waage steht bei der Metzgerei. Viehtransporter, manchmal sind es auch nur Karren mit einem Lattenverschlag, fahren dort mit gepferchten Schweinen vor. Die Säue werden durch eine behelfsmässige Schleuse in den Schlachtraum gestossen und gezerrt. Mehr als einmal hasten wir eine Treppe an der Seite des Metzgereigebäudes hoch und pressen uns in die Laibung eines Oberfensters. Wir beobachten, wie der Metzger die Schlachtpistole ansetzt. Wir hören den trockenen Schlag des Schusses und sehen, wie das Schwein am Ende lächelt. Der Metzger schlitzt den Leib der Länge nach und die schlingernden Innereien wachsen heraus. Den Anblick erträgst du, ohne dich abzuwenden. Später vertraue ich dir an, dass mich, auch als dort längst keine Tiere mehr geschlachtet werden, die Schreie verfolgen, wenn ich vorbeigehe. Das Quieken der Schweine, wenn sie ins Schlachthaus getrieben werden, das Kreischen vor dem Hinstrecken. Ich gestehe dir meine Furcht vor der Todesangst des Schlachtviehs. Ich versuche dir zu erklären, dass das Gellen, weil es vom Stachel des Todes erpresst wird, die Schallmauer durchschlägt. Dabei übertreibe ich, gebe eher an, als dass ich mich zurückhalte, damit du es nicht als Schwäche oder gar als krankhaft deutest. Ich berichte, wie überdeutlich ich den Presslaut der Kehle, das Schnorcheln des Rüssels, das letzte Pfeifen vor dem Abtun vernehme. Das Quieken schrille durch das ganze Dorf. Ich sei jeweils nicht mehr sicher, ob von der Saumästerei der Fütterungslärm heraufschlüge oder ob in einem schrecklichen Fanal alle Schweine des Dorfes hingeschlachtet würden. Du kommentierst solche Heldenlieder nicht. Wir fassen uns an den Händen, rennen einfach wieder los oder blättern eine Seite im Bildband um, den wir in deiner verwinkelten Stube aufgeschlagen haben.

Wenn wir ungestört sein wollen, ziehen wir uns in die Turnhallenumgebung zurück, wo im Sommer Feste auf dem Rasen gefeiert, drinnen Krippenspiele aufgeführt und manchmal Märchen gezeigt werden. Wir suchen in den Sprung- und Kletteranlagen nach Muschelschalen und Fischzähnen, weil unter uns Kindern die Mär geht, dass der Sand direkt aus dem Meer stamme. Manchmal treffen wir dort einen blinden Hausierer in seiner Mittagspause, wenn er gerade durch die Quartiere zieht und Bestellungen aufnimmt, und tollen mit seinem Schäferhund herum.

Die Halle ist mächtig. Ein Dach wie von einer Scheune zum Speichern von Korn. Ein Säulengang wie von einer Villa. Über den Scheiteln der Bögen stehen Gadenfenster. Der Eingangsflügel im Westen führt in die Garderoben, in die eigentliche Turnhalle und über eine Steintreppe auf die Galerien. Der Flügel im Osten geht auf die Theaterbühne. Ein weitläufiger Kiesplatz, die Reihe von Kastanien und die Zypressen des nahen Kirchhofs unterstreichen noch immer den Ehrgeiz, der das Dorf beim Erstellen des Gebäudes geleitet hat. Sobald die schweren Türen aber einmal geöffnet sind, werden wir in Korridoren, Garderoben und Gerätekammern empfangen, die über Jahre dem Schweiss der Herren- und Damenriegen ausgesetzt waren. Die Überreste von Parfüm, die mit Tannenduft getränkten Fliessblätter und die giftblauen Duftkugeln in der schwarzen Rinne des Pissoirs treiben an heissen Tagen den Gestank ins Unerträgliche. Die Halle ist heruntergekommen. Die türeknallenden und herumfläzenden Turnkinder, zu denen auch wir beide gehören, hinterlassen Spuren in Form von Schrunden und handfester Zerstörung. Holzbänke und Bodenriemen sind abgeschabt und zersplissen, die Schutzgitter vor den Fenstern eingedellt, das Magnesiumpulver und die Reckhandschuhe auf Pauschenpferde und andere Geräte verstreut und verstäubt. Wenn wir jedoch versteckt zwischen den Sprungmatten auf der Bühne die Scheinwerfer, die Schnüre, Kabel und Kurbeln bestaunen oder aus der Deckung der Galerie auf das Zittern im Faltenwurf des rosa Vorhangs starren, dann ist es uns, als ob die Halle auf ein Ereignis warte, das ihrer wahren Bestimmung für einmal gerecht werde.

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