Читать книгу Vorspiele - Markus A. Sutter - Страница 16
Maiandacht
ОглавлениеIm Graben bleibt die Sonne über den Winter fast ständig hinter den Hügeln verborgen. Ich mache mir zur Angewohnheit, mich in den Gadenraum zu verziehen. Mich in meine Kamelhaardecken wie in einen Kokon zu wickeln. Das Zwielicht, das hier immer herrscht, lasse ich bestehen. Drehe keine Lampe an, lichtscheu, wie ich geworden bin. Ich starre zur Decke hoch und hätte gerne ein Gespräch mit dir geführt. Troller, Stüten und Wanner meiden mich. Mit mir rechnen sie nicht mehr. Die Schattenkrallen des Brunnenhauses graben sich in meinen Rücken. Ohne Widerstand lasse ich mich in die Dunkelheit des Grabens ziehen. Mein einziger Halt ist der Sarkophag. Wenn ich ein Ohr auf sein Gehäuse lege, höre ich das Meer rauschen und deine Stimme singen. Sein Zitronengelb verspricht Licht, seine Tiefe Ruhe. Ich setze mich in den moosgrünen Stuhl mit den Armstützen und betrachte die spiegelnde Front. Ich zünde eine Kerze auf dem Glanz seines Deckels an. Ich merke kaum, wie es um mich Nacht wird. Wie die Flamme flackert. Wie Figuren über die Wände wirren. Alles wie einst, als ich in der Totenkapelle vor den Särgen betete.
Als ehemaliger Messdiener bin ich vertraut mit Särgen, mit Toten und Begräbnissen. In unserer Schulzeit beneidest du mich, wenn ich dem Unterricht fernbleiben darf, um bei einer Abdankung zu ministrieren. Oft trage ich hinter dem von Pferden gezogenen Leichenwagen und vor der in seinem Schlepptau schreitenden Trauergemeinde das schwarze Kreuz, schnurre bei den aufgebahrten Verstorbenen lateinische Gebete ab und schwinge am Rande der ausgehobenen Grablöcher das Rauchfass. Tote sehen durch die verglaste Sargluke nicht die Gesichter der Trauernden, erzähle ich dir, sondern den Schatten Gottes. So wie die Beichtenden die Silhouette des Pfarrers. Beide schlagen ein Kreuz, der Pfarrer über den Lebenden, der Schatten Gottes über der sterblichen Hülle.
Inzwischen habe ich das Rauchfass an Jüngere weitergegeben, wie du weisst. Meine Intimitäten tausche ich nicht mehr mit Sprachgittern und im Dämmer verschwindenden Pfarrern aus. Im Sprossenfenster des Gadens spiegle ich mich selber. Die Sargtruhe ist meine Zuhörerin. Die Matten im herbstgrellen Licht erteilen mir den Segen. Manchmal aber, beim Übergang zur Nacht, wenn das Dunkle den Graben endgültig ergreifen will, erscheinst du mir hinter dem Gitter der Fenster als Schatten der Erinnerung. Meine ganze davor aufgebaute Sicherheit fällt von mir ab. Ich sehne mich nach einem Austausch mit dir und beginne Kindheitsbilder in ein imaginäres Album zu kleben.
Unsere Finger tauchen in die Messingschale mit Weihwasser. Wir zeichnen das Kreuz auf Stirn, Mund und Brust; die Stellen, die wir mit unseren ersten Küssen berührt und bedeckt haben. Die Hostie, die der Pfarrer auf die Zunge legt, versuchen wir in der Mitte der Kommunionbank ausgeteilt zu bekommen, dort, wo sich Frauen- und Männerseite treffen. Wir halten dem Pfarrer unsere rosa Zungen entgegen und lassen uns den papierdünnen weissen Mond auf die feuchte Spitze legen. Während wir ihn an den Gaumen kleben, damit er sich auflöse und in Wasser verwandle, senken wir betrügerisch fromm unsere Augen und drücken gleichzeitig unsere Leiber aneinander. Von alldem darf der Pfarrer nichts wissen. Zu unseren Geheimnissen hat er keinen Zugang. Im Beichtstuhl lernen wir Sünden erfinden. Wir werden zu Dichtern, nur um den Pfarrer zu beruhigen und in seiner Neugier zu befriedigen. Wir flüstern einander zu, welche lässlichen Lügengeschichten wir ihm heute erzählen und auftischen wollen, vor allem, was uns beim Codewort Nächstenliebe oder beim Schlüsselwort Schamhaftigkeit einfällt. Der Pfarrer zeichnet den von Murmeln begleiteten Segen in den Dämmer seines vergitterten und sündenvertilgenden Gehäuses. Wir entfliehen ihm, um die ersten Tastpflaster an Stellen zu legen, die noch unberührt vom Weihwasser sind. Als Baldachin dient uns das Blechdach im Schuppen, als Strahlenkranz die Zinken des Laubrechens.
Jeden Abend im Mai pilgern wir in die Marienandacht. Die Kirche ist unser zweites Zuhause. Die Jungfrau unsere Verehrte und Angebetete. Sie besitzt die Fähigkeit, unsere gläubige Hingabe in Liebesgefühle zu verwandeln. Unter Mithilfe der Frühlingsdüfte schmelzt sie unsere Gebete in Leidenschaft um. Wir strampeln per Rad in das nächste Dorf. Der spitz aufschiessende Kirchturm winkt von Weitem. Schwalben durchschrillen die laue Luft. Amseln quirlen ihre Gesangsschleifen vor die rosa Horizontbänder. Wir knien nieder und beten sie an, die Gnadenreiche. Sie thront auf einem Sockel. Hält das gewickelte Söhnchen an der Brust, den Verstorbenen auf den Knien. Wir scheelen über den Mittelgang, blenden die Augen auf und singen einander zu, ohne uns eines Widerspruchs bewusst zu sein. Zum Dank dafür breitet Maria ihren Mantel aus, macht Schirm und Schild für uns daraus. Wir schmettern das Lied, sodass der riesige Raum widerhallt und die Litaneien zu tönen beginnen. Danach, wenn schon die Sterne glitzern, begleitet sie uns schützend in den Garten des Pfarrhauses. Während sie uns verhüllt vor der weiten breiten Welt, ducken wir uns kosend hinter die Büsche und spielen auf den Tastaturen unserer verbotenen Schallkörper.
Die Kirche bleibt unsere Richtschnur, auch als wir längst keine Messen und Andachten mehr besuchen. Du bist mit den Reiseplänen beschäftigt und hast für laufende Kurse und privaten Tanzunterricht zu viel Geld ausgegeben. Der Kostenplan für die Reise gerät ins Wanken. Der niedrige Lohn bei Comestibles Matteo Mastei bereitet dir Sorge. Du brauchst unbedingt einen zusätzlichen Verdienst und lässt dich bei Wattinger, dem Besitzer des Hotels Bahnhof, für das Nachtlokal, wie er es nennt, am Wochenende anstellen.
»Etwas freizügiger muss es dann aber schon gehen«, sagt er frank heraus. »Mit Kleidern vom Gemüsemarkt kann man keine Bar führen. Die Augenlider und Brauen nachziehen. Etwas Rouge kannst du auch vertragen. Und mit diesen langen Röcken kannst du weder einen Staat machen noch hinter einer Theke stehen.«
Du errötest verschämt nach seiner unverschämten Rede. Trotzdem gehst du auf das Angebot ein. Stellst dich hinter den Tresen und versuchst, den Gästen freundliche Augen zu machen. Deine Einkünfte hängen vom Umsatz ab. Obwohl unsere Trennung schon abgemacht und in Rufnähe ist, ertrage ich deine neue Stellung schlecht und hole dich morgens um zwei Uhr ab. Du zapfst Bier, schäumst Milch auf, mischst Getränke und legst deine dunkle Stimme wie Taue um die angepflockte Männerrunde. Unter die jungen Gäste, die deinetwegen gekommen sind, mischen sich auch altbekannte Dorfgrössen. Josef Schweiss, der Unterwäschehausierer, dreht mit seifenweissen Fingern einen Glaskelch unter seinen Augen. Sattler und Tapezierer Bösiger steht, als ob er eine Rede halten wollte. Doktor Schellenbaum lässt die Schlüssel seines Cabriolets wie Glöckchen vor seinen Augen tanzen. Daneben badet der Dorfschneider in einem Duftteich von Wildrosen. Alle rufen und nennen dich Maria, auch wenn sie wissen, dass Du auf den Namen Marina getauft bist. Sie machen dich zu ihrer Heiligen. Heben dich auf den Sockel und krönen dich zu ihrer Patronin. Du hast es aufgegeben, sie zu korrigieren. Schliesslich liegen sie dir zu Füssen. Sie umwerben dich und lassen stets ein grosszügiges Trinkgeld springen. Dass sie ihrerseits ein Garn um dich winden, Erwartungen haben, übergehst du grosszügig. Gönnerhaft neigt sich Filialleiter Tschumper herüber und greift nach deiner Hand. Neben ihm schlägt ein Hotelgast seine Knöchel auf den Tisch und ruft mit englischem Akzent eine Bestellung in den von Kerzenlicht zitternden Raum. Metzger Gantenbein schiebt eine Hinterbacke aufs Gestühl. Der Fassbauch hängt ihm in die Beine. Sein Haar duftet nach Apfelsine.
»Maria voll der Gnade«, brüllt er, »ein Bier.« Alle stimmen mit ein. »Maria«, rufen sie, um dich auf den Arm zu nehmen und anzuhimmeln. Sie flüstern über die Theke, dass du heute zum Vernaschen schön seist. Flirten mit dir über die Mole gelehnt. Gischten an Deine Ufer. Rollen auf deinen Strand zu. Und du lächelst. Wirfst dein Haar zurecht. Klimperst mit den getuschten Wimpern. Ziehst den ungewohnt kurzen Stretch über die Oberschenkel.
Ich sitze in der dunkelsten Ecke im Schummerlicht einer schlecht brennenden Kerze. Warte, bis die Bar endlich schliesst. Erinnere mich unserer Kindheit, unserer Kirchgänge im Mai, als die Jungfrau Maria unser Allerheiligstes war. Ich deklamiere im Stillen die damaligen Litaneien, vergegenwärtige die Lieder. Das Gebet in der Bar hört jeder, denke ich. Es wird zum öffentlichen Gut. In der Kirche versickert es allzu leicht in den Katakomben. Ich suche wieder deinen Blick, der heute allen, nur nicht mir gehört. Wie du das aushältst mit diesen stacheldünnen Absätzen, geht es mir durch den Kopf. Und immer die Frische, die Kesse und Schöne spielend. Maria, rufen die Männer jetzt im Chor. Ein Gelächter schwappt über die Bande. Du tischst Geschirr um. Die Tassen werden zu Rettungsbötchen auf dem Oberdeck der Kaffeemaschine. Zum Abfahren auf das Meer. Das Frühjahr. Mit dir. In die Maiandacht.