Читать книгу Vorspiele - Markus A. Sutter - Страница 6
ОглавлениеIn der Nacht schrillte das Telefon. Dem gebrochenen Deutsch entnahm er, dass sie gestorben und er zur Abdankung und zum Totenmahl eingeladen sei. Inständig habe sie um seine Anwesenheit gebeten. Wenn er einen der nächsten Nachtzüge nehme, bleibe genug Zeit. – Burger, in der einen Hand den Hörer, musste sich mit der anderen an der Wand abstützen. Wie ist sie denn …, wollte er anfangen, bemerkte aber sogleich die Unerträglichkeit der Frage. Weder für ihn noch für den Anrufer war jetzt ein Gespräch möglich. Wie in Trance stimmte er zu.
»Sicher«, sagte er. »Ja, mit dem Nachtzug. Ciao.«
Burger setzte sich. Er zog die Schirmlampe herunter, damit ihn die Glühbirne nicht blendete. Starrte in den gelben Steinholzbelag seiner Wohnstube. Fuhr mit zwei Fingern den verschmutzten Fugen in der Kirschholzplatte entlang, bis einer der Nägel brach.
Das Verhängnis hatte sich schon gestern angekündigt, als er mit der Standbahn auf den Kulm geflüchtet und mehr verstört als befreit worden war. Obwohl die Vorhersage klare Fernsicht in den Bergen angekündigt hatte, war der Himmel überschliert und die Novembersonne frostig. Die Wiesen mit den letzten sterbenden Blümchen schwammen im Schmelzwasser des ersten Schnees. Ein trudelnder Sommerfalter, der trotz wildem Flattern am Ende dem Eisschnee erlag, erschütterte Burger. Vor dem langsamen Ertrinken der Gondelbahn in der Nebelnacht erfasste ihn der Drang, über Bord zu gehen und auf den Wogen des Meeres zu treiben. Schon beschlug sich aber das Kabinenfenster und das Glas wurde milchig. Weit unten reihten sich die Fahrzeuge wie Grabsteine. An der Talstation wartete der Bus. Stur lotste der Fahrer seine Fracht unter dem verschleierten Licht der Strassenlampen durch den zähfliessenden Verkehr. An Burgers Haltestelle vergass er einzubiegen und entschuldigte sich nur der Form halber. Burger musste an sich halten, um nicht die Fassung zu verlieren. Auf dem Fussweg zurück wurde er von Ahnungen heimgesucht. Im Gespinst, durch das er sich tastete, verhedderte er sich und kam zu Hause an wie ein Verhafteter.
Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich jetzt. Erinnerungen brachen über ihn herein. Ereignisse von einst überfluteten ihn. Zwanzig, dreissig Jahre und mehr waren es her. Immer weiter zurück schien er gezerrt zu werden, immer tiefer in den Brunnen seines Gedächtnisses zu fallen. Orte, die ihn geprägt hatten, zogen an ihm vorbei. Ein Abbruchhaus. Ein Bauernhof in den Bergen. Ein Haus voller Kaninchen. Momente, die ihn einst zeichneten. Der Verlust der Sprache. Ein Konzert in der Turnhalle. Eine Nacht am Wehr. Es erschienen Menschen, die er verlassen und nie mehr gesehen hatte. Eine ganze Talschaft. Wohngemeinschaften. Eine Gruppe von Musikern. Dorfbewohner. Es wollte nicht enden.
Und immer wieder sie. Er hätte sich neben sie setzen, sie festhalten, sie in die Arme nehmen wollen. Eine Sehnsucht nach Wärme und Berührung überkam ihn, durchschüttelte ihn. Zu ungeduldig vielleicht. Zu eingeschränkt vom Drang und vom eigenen Unvermögen. Das Festhalten der Bilder wollte nicht gelingen. Seine eigene Geschichte durchquerte und verbarrikadierte den Weg zu ihr. Was blieb war das Gefühl der Trennung.
Von Weitem hörte er den Zeitungskurier. Wenn sich die Wagentür öffnete, wummerte Musik heraus. Je näher, desto lauter, desto tiefer der nachfolgende Fall in die Stille. Bei einem nächsten Stopp erschallte das Zeitzeichen, danach eine dröhnende Stimme mit den Nachrichten. Burger war gebannt vom Aufstossen und Zuschlagen der Tür. Erst das Scheppern des eigenen Milchkastens erlöste ihn.
Er begann mit den Vorbereitungen. Zuerst fing er an, einen Koffer zu packen, entschied sich dann aber doch für eine Tasche. Er ging zur Arbeit, organisierte eine Vertretung, für die er Dringlichkeitslisten und Lernprogramme erstellte. Der Rektor hatte ein Einsehen und gab ihm so viele Tage Urlaub, wie er benötigte. Er wünsche ihm alles Gute auf seiner Fahrt in die Vergangenheit, sagte er.
»Der Süden Italiens ist Neuland für mich«, stellte Burger klar.
»Umso vertrauter scheinst du mit der Verstorbenen gewesen zu sein.«
»Schon«, antwortete er und verabschiedete sich mit einem Wink der Hand.
Auf seiner Fahrt wollte Burger Ruhe haben. Den Mitreisenden aus dem Weg gehen. Sich ungestört in die alten Zeiten vertiefen und die Geschichten, die ihn mit ihr verbanden, in Erinnerung rufen. Der Nachtzug in zwei Tagen bot ein ganzes freies Abteil. Ohne Zögern griff er zu.
»Gute Reise, Herr Burger«, sagte die Bahnassistentin. »Geniessen Sie die Ferien.«
Die Taxifahrerin wartete bereits, der Motor lief, das Gepäck war im Heck verstaut, als Burger noch einmal die Gartentreppe hinauf zurück ins Haus rannte, um ein handkleines, in braunes Kunstleder gebundenes Notizbuch aus dem Regal zu fischen. Vor Jahren hatte er Strassen, Häuser und Daten, Namen von Freundinnen, Freunden und Bekannten festgehalten. Details von Begegnungen, Aussprüche und Zitate fanden sich darin. Die Seiten waren mit feinem Minenstift vollgeschrieben und ähnelten den Mikrogrammen eines bekannten Schriftstellers. Mit den aktuellen Ereignissen von damals, dem Verlassen der Stadt am Fluss und der zweiten Trennung von ihr, hatte er die Notate auf der hintersten Seite begonnen, um im zeitlichen Rückblick und räumlichen Nach-vorne-Blättern zur Front des Notizblocks zu gelangen. Das Langvergangene kam jetzt wie in einem gewöhnlichen Geschichtenbuch zuerst. Burger stellte sich vor, während er zwei Stufen der Gartentreppe auf einmal übersprang, dass er mit den Seiten des Büchleins ebenso umspringen und die Zeiten auffächern und nach Belieben abblättern wollte.
»Nicht gerade die Saison, um in den Süden zu fahren«, bemerkte die Fahrerin durch den Rückspiegel, nachdem er ihre Frage, wohin es denn gehe, unvorsichtigerweise mit »Apulien« beantwortet hatte.
»Sind da nicht die Stürme los und die Strände leer?«
Burger wich den Fragen aus. Er liess die Frau im Glauben, dass er sich in einen Novemberurlaub begebe, entschädigte sie dafür mit einem grosszügigen Trinkgeld. Das Gepäck könne er selber herausheben, rief er. Die Heckklappe rutschte ihm aber aus der Hand und fiel mit dumpfem Knall ins Schloss. Die Fahrerin hielt sich die Ohren zu und winkte ihm dann lachend nach.
Obwohl er genug Zeit hatte, hetzte Burger durch das Gewimmel des Bahnhofs. Er hörte weder das Lärmen aus den Lautsprechern noch beachtete er das Geschwätz der Reisenden. Mit entschiedenem Schritt fasste er eine Spur durch die Menge ins Auge und fand, ohne angerempelt oder gestossen zu werden, sein Perron und seinen Wagen. Schon wollte er die Tasche in den Gang hineinwerfen. Aber er wurde gebremst. Der Weg war verstopft. Ein betagtes Ehepaar, das von einer jüngeren Frau, wahrscheinlich die Tochter, an seinen Platz begleitet wurde, forderte seine Geduld. Zuerst suchten sie unter viel Gerede und Lachen ihre Platznummer, danach wurde Burger gebeten zu warten, obwohl die Tochter, wie sich herausstellte, lediglich noch ein Gepäckstück zu holen hatte. Endlich machten sie ihm Platz und er durfte sein Abteil beziehen. Er legte die Tasche auf den nächsten Sitz und wühlte darin nach Schreibzeug, noch bevor er die Kleider ablegte. Durch die trüben Scheiben beobachtete er, wie sich eine Frau im roten Mantel und ein Mann im Loden verabschiedeten. Es fiel den beiden schwer. Burger platzierte den gesuchten Blechbehälter auf dem Tisch und zog seine Jacke aus. Das Futter nach aussen schob er sie auf die Ablage. Der Mann im Loden stand inzwischen am Fenster und verständigte sich mit Handzeichen. Von draussen wurden Pakete durch den beweglichen Teil des Korridorfensters gehievt. Zwei Kinder setzten zu Luftsprüngen auf dem Asphalt an, um ins Innere sehen zu können und ihrer Nonna mit fuchtelnden Händen zuzuwinken.
Burger hasste Abschiede. Freunde und Freundinnen behielt er im Gedächtnis. Das genügte ihm. Wiederbelebte Beziehungen hatten nur neue Trennungen zur Folge. Er fühlte sich mit den Menschen verbunden, auch wenn er ihnen keine Karten schrieb oder sie an ihren neuen Wohnorten besuchte. Sein Weg zu ihrem Begräbnis und in ihre gemeinsame Vergangenheit stellte die Ausnahme dar.
Die Frau im roten Mantel erschien wieder auf der Plattform und warf sich noch einmal an den Hals des Mannes. Durch den Gang zwängten sich Passagiere auf der Suche nach ihrer Platznummer. Burger sank in den abgeschabten Ledersessel, knipste den Wandlampenschirm an und suchte nach seinem Notizbuch. Als er aufblickte, war die Frau verschwunden. Der Mann hatte sich auf dem Perron postiert. Unverhofft aber nahm er einen Satz über die Tritte ins Innere des Wagens. Im spitzen Winkel verfolgte Burger von seiner Innentür aus, wie er ihren Kopf in die Armbeuge nahm, sie an sich drückte und ihr Gesicht abküsste, als wollte er sie bewahren oder zurückhalten. Erst das Poltern und Ausrufen der nachrückenden Passagiere verdrängte ihn.
Burger war froh, sich mit niemandem unterhalten zu müssen und blätterte zur ersten Seite seines Notizbuches. Adieu stand in kleinen dünnen Lettern an den oberen Rand gedrückt, nicht Anfang, nicht Beginn oder Start, sondern Adieu. Offenbar hatte er noch alles in Beziehung zu ihr gedacht. Der Schmerz der ersten Trennung lag schwerer auf ihm als die Verlockung und Verheissung des Neuen. Sie hatte damals eine Weltreise geplant, um die Tänze der Kontinente kennenzulernen, er wollte das Dorf hinter sich lassen. Sie war mit sich im Reinen, Burger noch im Zwist darüber, welche Stadt er wählen und wie er logieren sollte, auch wenn ihm klar war, dass ihn nichts mehr aufhalten konnte. Als sie seine Zerrissenheit bemerkte, brachte sie die Idee auf, es doch mit Stüten, Wanner und Troller zu versuchen. Mit ihnen habe er bereits musiziert. Zudem wohne Meret, die Freundin von Wanner, schon in der Stadt, vielleicht könne sie ein Haus, wo geprobt und gewohnt werden dürfe, vermitteln.
Der schneidende Pfiff des Zugführers, das Anrucken der Räder und das Schüttern des Waggons unterbrachen Burger in seinen Gedanken. Er wählte einen roten Bleistift aus der Blechschachtel und entnahm der Tasche ein schwarzes Spiralheft. Er wollte seine alten Notizen ergänzen und erweitern. Einige Sätze ausformulieren, die Bilder aber fliessen lassen, um sie später zu vervollständigen und einzutippen. Die Tätigkeit würde ihn wachhalten und ihm ermöglichen, alle Reisestationen mitzuverfolgen.
Beim Blättern fiel er auf das Wort Küngelhaus. Ein fades Gefühl verbreitete sich in seinem Magen wie beim Aufkommen von Übelkeit. Selbst Stallung für Kaninchen wäre eine Beschönigung für diese Hütte. Die sprichwörtliche Fruchtbarkeit und Vitalität von Küngeln waren darin nie zu finden gewesen. Die Quietsch- und Stossgeräusche gingen allmählich in ein wiegendes, rollendes Zungenschlagen über. Burger fing an, den Überfall an Gedächtnisbruchstücken zu ordnen und festzuhalten. Die Namen Stüten, Troller und Wanner waren unterstrichen, den Namen von ihr, der eigentlichen Hauptperson, aber suchte er vergeblich. Nach ihrer Trennung war sie für ihn weiterhin bestimmend und sein einziger Fluchtpunkt gewesen. Auf sie hatte er fast alles bezogen. Trotzdem fehlte sie in den Aufzeichnungen. Sie war die grosse Abwesende. Die stumm Vorausgesetzte.