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Klangsturz

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Erinnerst du dich an das Konzert? Du und deine Mutter finden sich früh in der Halle ein. Ihr setzt euch in einer der vorderen Reihen auf reservierte Plätze. Solange die Galerie noch nicht besetzt ist, winke ich dir von der Brüstung aus zu. Später schiebe ich eine Falte des offenen Bühnenvorhangs zurück, lege eine Hand gegen das Blenden der Scheinwerfer an die Stirn und bespitzle den ganzen Aufmarsch. Ob du mich entdeckst? Auf der Bühne? Hinter dem Vorhang? Einmal meine ich, dein Winken zu sehen. Ich suche immer wieder deinen Blick einzufangen, bis ich mich auf die Zugangstreppe zurückziehen muss. Du kennst die Geschichte. Lass sie mich dir noch einmal erzählen.

Es ist an einem der Spätwinterabende. Etwas Frühling liegt schon in der Luft. Die Lichter der unteren Turnhallenfenster legen weisse Flächen in den Säulengang und die Gadenfenster erhellen als schimmernde Lichtspiegel den Vorplatz. Über der Friedhofsmauer glimmt das violette Band des Himmels. Die Lederabsätze und Stöckelspitzen von spät ankommenden Besucherinnen und Besuchern bohren sich knirschend in den Kies. Ein Türflügel der Halle steht noch offen. Ein Pulk von Menschen staut sich vor der Garderobe und dem Halleneingang. Jacken, Mäntel, Kittel, Capes und Pelerinen häufen sich auf den Garderobebänken und lagern über den Barrenholmen im Geräteraum. Die ausgerollten Inlaid-Bahnen weichen das Klacken der hart besohlten Schuhe auf, zugleich schlägt den Eintretenden ein betäubender Lärm entgegen. Über dem Klappen und Schaben von Stühlen, über dem Beben des zitternden Bodens und dem silbernen Klingeln des Kleingeldes beim Eingang schallt ein Stimmengewirr, hallen Zurufe und Zuschreie quer über die Sitzreihen hinweg und brechen Gelächter los.

Alles ist da, was Rang und Namen hat. Der Bäckermeister Boksberger mit Frau. Deren Tochter Rosmarie, drall und gross, für uns wie eine Erwachsene, auch wenn sie nur drei Jahre älter ist. Der Ochsenmetzger Gantenbein, in seiner immensen Leibesfülle, alleine, seine Frau sei erkrankt, nein, keine Klauenseuche, nur eine Spätwintergrippe. Frau Notar Roth mit ihrem herzkranken Mann, zu dem sie schaut, als wäre er ihr Kind. »Geht’s, Vater?«, fragt sie, er nickt weise mit seiner Nickelbrille und der sanften Stirne. Josef Schweiss tritt mit pompöser Selbstverständlichkeit auf. Der Besuch des Dorfereignisses ist für ihn, den Unterwäschehausierer, ein Muss und gleichzeitig eine Gelegenheit, seinen Sohn in Leutnantsuniform zu präsentieren. Schulvorsteher Etter wendet sich ab, um der Peinlichkeit einer Begrüssung zu entgehen. Fräulein Hungerbühler, unsere ehemalige Lehrerin, winkt ihrem Kollegen Kaltenbrunner zu, dessen randlose, münzenkleine Brillengläser über einem Nasenrücken glänzen, der gerade wie ein Lineal ist. Lehrer Plüer, obwohl schwerhörig und mit zwei sichelförmigen Apparaturen hinter den Ohren ausgestattet, kommt selbstverständlich zur Aufführung. Der gebuckelte, verschmitzte Ausderau, der uns immer freundlich begrüsst, der als wandelndes Lexikon gilt, in der Lokalzeitung schreibt und in seinem Büro Urkunden erstellt, hat es mit seinen kleinen Schritten auch vom Unterdorf bis zur Turnhalle geschafft. Der Dorfschneider, in einem hellen Massanzug, taucht mit nervöser Eleganz und ganz plötzlich in der Hallentür auf, trägt seinen Borsalino mit spitzen Fingern wie ein Schmuckstück vor sich her und das taillierte Mäntelchen über dem Unterarm wie eine Serviette.

Unter all diesen eintretenden, zuschauenden, sich setzenden, sich unterhaltenden Dorfgrössen fällt eine Frau – würdig wie Sophia Loren – durch ihre unantastbare Ruhe auf. Sie trägt ein schlichtes dunkles Kleid und ist schön wie keine im Saal. Es ist deine Mutter. Du sitzt neben ihr, schaukelst mit den Beinen und schüttelst dein honigbraunes Haar. Ihr seid alleine. Der Vater hat Nachtschicht.

Neben euch sitzen Brülisauers, unsere Nachbarn. Die Landwirtefamilie Götsch ist mit allen ihren Kindern erschienen und hat hinter euch Platz genommen. Du begrüsst Hanspeter, einen unserer Schulkameraden, auf den wir uns verlassen können, der zu uns steht, wenn wir gehänselt werden. Die Chemiker der Wollfärberei, die unsere Eltern nie ohne den Titel Doktor begrüssen, die Direktoren der Spinnerei und Stickerei geben sich mit Ehefrauen die Ehre. Frau Doktor Schellenbaum behält ihren Pelz an, Frau Doktor Forrer macht keine Anstalten, ihren auskragenden Hut inklusive Kunstblumenbouquet abzunehmen. Und siehe da, Frau Heilig, die Schulhauswartin, ist tatsächlich auch vor Ort. Sie sieht beinah menschlich aus, wenn sie nicht von ihrem berüchtigten Besen eskortiert wird, den sie uns Kindern über den Kopf zieht, wenn wir die Schuhe nicht ordentlich putzen. Wattingers, die Wirte des Hotels Bahnhof, sitzen mit Töchterchen Käthi in der vordersten Reihe. Forstmeister Traber, der in der Schlossgasse wohnt und seine Wohnung von meinem Vater hat austapezieren lassen, in der dritten. Die Tschumpers, der Wirt des Cambrinus und die Wirtin des Hirschen haben sich zusammengetan. Der Coiffeur und die Coiffeuse platzieren sich neben dem Kunststeinfabrikanten, der Gemüsehändler Mastai neben dem Papeteriehändler Walder. Der Küfer und Totengräber Enz gibt den Stuhl neben sich dem Sattler und Tapezierer Bösiger von der Heidengasse. Der Schmied, der Schlosser, der Schreiner und der Velomechaniker machen es sich auf der Galerie bequem. Der Drogist sitzt neben Dorfarzt Doktor Fröhlich. Die robuste Gemeindeschwester Marie Baumann nimmt sich einen Stuhl und klappt ihn energisch am Rande des Publikums auf, als ob sie Pikettdienst hätte. Vom Postbeamten über den Bahnhofsvorsteher und Gemeindeammann bis hin zu den evangelischen und katholischen Würdenträgern: Alle sind sie da. Nur eine Familie fehlt. Sie wohnt hinter dem Coiffeursalon Kubli. Der Vater ist Hausierer. Juchtenglanz, Schuhbürsten, Hemden- und Hosenknöpfe, Kernseife und Haarspangen. Die Mutter näht zu Hause bis spät in die Nacht für ein knappes Entgelt, nimmt Aufträge zum Abändern entgegen. Am Samstag dürfen die Kinder die Schule nicht besuchen, weil es ihr Feiertag ist, wie uns Fräulein Hungerbühler erklärt hat. Dann sieht man sie auf den Feldwegen zwischen Kiesgrube und Mühlewald spazieren, ganz in Schwarz. Wir begegnen ihnen mit einem Hauch von Ehrfurcht. Etwas Ernstes und Feierliches umgibt sie. Wir begrüssen sie besonders anständig, weil wir glauben, sie hätten es auf irgendeine unbegreifliche Weise verdient.

Die Taue hängen als Stummeln von der Hallendecke. Das Klettergerüst ruht schräg an die Fussleiste gerollt. Die Halterungsrohre der Reckstangen zieren als raumhohe Säulen die Seitenwände. Die am Rande sichtbaren Stoffbahnen des rosa Vorhangs putzen die Bühnenöffnung auf. Alles, was die gewöhnlichen Funktionen der Halle hätte entlarven können, ist weggesteckt, verzurrt und vertuscht. Ausgelegt, aufgetragen und geschminkt sind hingegen die Mittel zur Vorspiegelung eines Konzertsaals. Die letzten Zuhörer schieben sich durch die Reihen. Die Scheinwerfer blenden auf, das Hallenlicht wird ausgeschaltet, der Lärm ebbt ab. Für einen kurzen Moment steht die sich feiernde Halle im Zentrum des Geschehens und zelebriert in der Stille den Advent ihres lang ersehnten Tages.

Ich stehe auf der Treppe, drücke meinen Rücken an die Wand und mache dem Orchester Platz. Zuerst kommt die Geigerin herauf. Sie hält ihr Instrument zwischen dem kleinen Schneckenkopf und dem scharlachroten Schallkörper um den Hals gefasst und schiebt es vor, als wäre es eine Opfergabe. Ihr brünettes, halblanges Haar ist seitlich gescheitelt, an den Enden aber zerzaust und am Schopf wie verschoben. Ihr Kopf zuckt vogelhaft hin und her, scheint alles erhaschen zu wollen. Sie trägt eine dunkel umrandete, runde Brille und hat schmale Lippen, die sich zuspitzen, als sie an mir vorbeigeht und mir Mut zuspricht. Etwas Schelmisches ist an ihr, das mich anzieht. Ich weiss, dass sie die anerkannte Geigenlehrerin der Region ist. Flusstal auf und ab gehen Kinder zu ihr in die Stunde. Nun zirkelt sie um die vielen Stühle und begibt sich an ihr Pult. Hinter und neben ihr verteilen sich Musikerinnen und Musiker, die sich an mir vorbeigedrängt haben. Die einen streben geradewegs zu ihren Sitzen und Noten, die anderen reichen sich über die im Halbrund gestellten Stuhlreihen hinweg die Hand. Die erste Geigerin wirft ihren Kopf in den Nacken und begrüsst mit aufmunternden Blicken die Kollegen, um sogleich wieder wegzuzucken und mit blinzelnden Augen die Zuhörerschaft zu mustern.

Schliesslich hat sich das Orchester geordnet. Die Oboe gibt den Stimmton. Das Licht wird auf maximale Helligkeit hochgefahren. Schnallen und Broschen, Nadeln und Perlmuttknöpfe, Haaröl und Lackschuhe spiegeln und funkeln in den flutenden Lichtbahnen. Auf der ausgeleuchteten Bühne glänzt im Zentrum des Mittelgrundes die helle Scheitellinie unseres Lehrers am Cembalo. In dessen Körperdeckung sitze ich, Dorfschüler im vierten Jahr. Der Lehrer ist Musikstudent und nur zwischenzeitlich im Dorf tätig. Er hat meine Eltern angefragt, ob ich beim Notenwenden behilflich sein könnte. Mein Vater, ein Baumaler, ist einverstanden gewesen. Eine praktische und einsehbare Sache. Zu den Proben fahren wir in eine Ortschaft von beinah städtischer Grösse. Unser Lehrer vertritt dabei den später dazukommenden Solopianisten. Jetzt, beim Konzert, spielt er zuerst das Cembalo, nach der Pause, zur Begleitung des Pianos, im Orchester das Cello. Es ist dem Lehrer zu verdanken, dass eine der Aufführungen in der Turnhalle des Dorfes stattfindet.

Obwohl in der Sicherheit des Lehrerschattens, bin ich dem Sturm der Musik ausgesetzt. Schon von den ersten Böen werde ich erfasst und weggetragen. Meine Aufgabe ist es zwar, den geheimnisvollen Mustern der Partitur zu folgen. Ich kann es aber nicht lassen, auch das wogende Geschehen im Orchester mitzuverfolgen. Die Bewegungen der ersten Geigerin fliessen aus den weichen Falten des Trägerkleids. Ihre Wangen spiegeln das Scharlachrot ihres Instrumentes wider. Der Dirigent beschwört das Orchester mit der ausgestreckten linken Hand, besänftigend und fordernd, um es mit hartem Griff sogleich wieder aufzuschrecken und aufzurütteln, während die rechte in geschwungenen Formen den Takt in den Raum zeichnet. Die Musik klingt wie ein Tanz. Wie Frühjahr. Wie Vogelgezwitscher. Der Anfang scheint geglückt zu sein.

Beim nächsten Umblättern verspüre ich einen Druck auf der Blase. Ich habe vergessen auf die Toilette zu gehen. Die Mutter zuhinterst in der Halle hat mich nicht mahnen können, der Musikstudent nicht daran gedacht. Ich selber bin vom Eintreten der Zuhörerschaft abgelenkt gewesen. Auch wenn ich mich mit aller Kraft auf die Noten konzentriere, wird das Bedürfnis, mich zu erleichtern, immer grösser. Der Lehrer ist einzig mit seinem Spiel beschäftigt. Ich hänge mich an die Basslinie, bemüht, die Gischt des Orchesters auszublenden. Der Harndrang aber wird so unerträglich, dass ich mich endlich vorbeuge, um mich im Blickfeld des Lehrers bemerkbar zu machen. Als er nicht reagiert, gebe ich flüsternd zu verstehen, dass ich unbedingt austreten müsse. Ebenso unbedingt und gnadenlos rümpft er die Nase und spielt weiter. Die Hände sind ihm gebunden. Er ist angewiesen auf das Wenden. Für das Cembalo gibt es keine Pausen. Er ist verantwortlich für den Schlag der vorrückenden Zeit in Form eines fortlaufenden Basses. Unterbrechen ist unmöglich, Austreten eine kleinere Katastrophe und eine verheerende Niederlage mit entsprechender Glosse im Dorfblatt. Auf mir liegt – das begreife ich aufgrund der Grimasse meines Lehrers – die Verantwortung für das Gelingen des Konzertes. Ich presse meine Oberschenkel zusammen, quetsche die Fingerspitzen in den verbleibenden Spalt zwischen den Beinen und erhöhe den Gegendruck. Zugleich versuche ich die einförmigen Akkordtürme nachzuverfolgen und keine Linie zu überspringen. Das gegenwärtige Orchesterstück lese ich vom Blatt. Das Klavierkonzert bei den Proben war einfacher. Dort haben sich Läufe, Melodien und Begleitfiguren auffällig abgewechselt, hier herrscht gleichförmiges Nacheinander. Kurz vor dem Seitenwenden stehe ich auf, der Lehrer nickt, schnell umschlagen und wieder zurück zum Beckenbodentraining. Meine Hände werden nervös. Ich drücke sie zu Fäusten und strecke sie wieder flach aneinander. Am schlimmsten sind die Pausen zwischen den Sätzen, auch weil ich nicht weiss, wie viele noch folgen. Immer noch ein Satz. Immer noch kein Abschluss. Oberschenkel anziehen. Knie zusammendrücken. Endlich scheint der letzte Akkord zu verklingen. Der Dirigent spreizt die Arme, als ob er die ganze Welt umfangen wolle, zeichnet mit beiden Händen zwei Kringel in die Luft und schliesst ab. Für einen kurzen Moment hängt alles in der Schwebe. Die Instrumente sinken auf die Knie. Bogenspitzen neigen sich dem Bühnenboden zu. Gesichter wenden sich zum Dirigenten. Alle halten die Sekunde der Geräuschlosigkeit wie in samtenen Händen, unsicher, ob schon der Applaus erfolgen darf. Dem ländlichen Publikum war eingetrichtert worden, dass Unterbruch nicht immer Ende bedeutet. Der Nachbar wartet mit einem Seitenblick auf die Nachbarin. Sie wird Bescheid wissen. Ich aber wittere die bevorstehende Befreiung. Schaue schräg hinauf zum Lehrer. Bittend, flehend. Der Lehrer senkt die Augenlider und nickt. Sofort stehe ich auf. Das Rücken des Stuhls löst eine mittlere Detonation aus. Die wie gelähmt dasitzende Zuhörerschaft verfolgt gebannt, wie ich losgehe, wie ich stolpere wegen eines Notenständers, von der Bühne haste und mich verdrücke. Noch immer applaudiert niemand. Erst als meine Schritte verhallen, bricht das Publikum in einen mächtigen, rauschenden und von Lachen durchgrölten Applaus aus. Ich öffne den Ostflügelausgang, renne unter den Arkaden zum Westeingang, reisse die schwere Türe auf und hetze zur schwarzen Pissoirrinne, deren Duft von Ammoniak und giftblauen Duftkugeln für mich die Erlösung und Erleichterung bedeutet. Während mein Wasser endlos lange in die Rinne plätschert, höre ich den Applaus. Das Konzert ist gerettet. Nach der Erleichterung schleiche ich zurück in die Halle und darf mich nun ins Publikum setzen. Die Mutter hat mir einen Platz reserviert. Jetzt soll der berühmte Pianist zum Einsatz kommen. Einige zusätzliche Musiker fügen sich ins Orchester ein. Ein Flügel wird hereingerollt. Mit wilder Wucht verneigt sich der Solist. Die mächtige Mähne berührt beinah den Bühnenboden. Noch wilder, noch ausfahrender und doch wieder einnehmend und verführerisch zart sind seine Bewegungen während des Spiels. Das ist die Reprise, flüstere ich an einer Stelle. Meine Mutter staunt über ihren Sohn. Das Wort habe ich von meinem Lehrer während der Proben gelernt.

Du hattest meine Misere während der Aufführung erkannt. Gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Selbst deine Mutter habe dir zugeflüstert, was mit mir los sei, ich sitze so gequetscht. Nachher lachen wir darüber und kreieren ein geflügeltes Wort: »Ich muss dringend von der Bühne«, sagen wir seitdem, wenn wir auf die Toilette verschwinden. Das Ereignis begleitet uns durch die Kindheit auch darum, weil uns der Musikstudent ein Schubert-Lied beigebracht hat, das zu unserem Erkennungszeichen wird. Wir singen oder pfeifen den Anfang, wenn wir uns überraschen oder bemerkbar machen wollen. Tausendmal mögen wir uns so gegrüsst haben, als das längst verklungene Konzert noch einmal ins Zentrum rückt und eine Entscheidung herbeiführt. Du kennst auch diesen Teil der Geschichte. Lass mich weitererzählen.

Als Jugendliche bist du beim Comestibles Matteo Mastai tätig. Ich gehe im Hauptort der Region zur Mittelschule. Obwohl es dir angeboten wurde, hast du eine Verkäuferinnenlehre ausgeschlagen. Du willst jede freie Minute dem Tanzen widmen und genug Geld für die geplante Reise auf die Seite legen. Womöglich auch Teilzeit arbeiten, wenn Kurse anstehen oder Tanztruppen durchs Land ziehen. Wir sehen uns meistens am Morgen, wenn du die Früchte- und Gemüsekisten auf die Bretter tischst und die Sonnenstore auskurbelst, während ich zum Bahnhof renne. Du trägst eine grüne Schürze und hast die Haare mit einem breiten, gemusterten Tuch hochgebunden. Die enge Hose und deine dünnen Fesseln in den schweren Schuhen bilden einen Kontrast zur weiten weissen Bluse. Die Lippen zündeln wie Paprikaschoten. Wie meistens machst du aus einer uniformierten Kluft ein modisches Ereignis. Wir treffen uns nun seltener. Dein Arbeitstag beginnt früh. Ich komme spät von der Schule zurück. Trotzdem sitze ich an den Wochenenden in deiner verwinkelten Stube. Während deine Mutter Sophia in der Küche Verdi-Arien hört, dazu selber singt, etwas näht oder zubereitet, tauschen wir Ereignisse aus, Neuigkeiten von ehemaligen Schulkameraden. Oder liegen auf der Couch. Bei einer dieser Gelegenheiten komme ich auf deine bevorstehende Reise zu sprechen. Ich deute an, dass ich dich um deine Pläne beneide. Dass ich gerne deine Entschiedenheit hätte. Dabei spiele ich den Geheimniskrämer. Meine Bemerkung ist ein Köder, um dich neugierig zu machen. Du ahnst etwas und fragst, was ich verheimliche. Endlich rücke ich damit heraus: Ich werde das Dorf verlassen. Seit Kurzem bin ich sicher, dass für mich hier kein Platz ist. So wie du seit Langem weisst, dass du auf Reisen gehen willst.

»Warum das?«, fragst du.

»Eine Erkenntnis.«

»Welche denn?«

Erst vor Kurzem habe ich einige Botengänge für das Geschäft meines Vaters gemacht. An einem regnerischen Märzabend komme ich über die Käserei und an der Bäckerei Boksberger vorbei zur Hauptstrasse. In der Ferne sehe ich die Kreuzung mit dem hohen Lampenmast. Aus den linsenförmigen Enden fällt Licht wie Seidengarn in den Verkehrsfluss. Ich gehe im Schatten der Villa Schellenbaum auf die Kreuzung zu. Es mag der flimmernde Glanz auf dem nassen Belag sein, die Strahlen des Kandelabers, die nadeldünnen Blitze aus den Katzenaugen an den Strassenpfählen: Mit einem Schlag rückt der beleuchtete Stab des Dirigenten in meinen Sichtkreis und tanzt vor meinen Augen. Ich sitze im Flutlicht des Konzertsaals und sehe die helle Hand des Knaben, wie sie die Seiten umschlägt, die zu Krallen gebogenen Lehrerfinger, wie sie mit der Regelmässigkeit eines Schöpfrades in die schwarzen Cembalotasten greifen. Ich versuche, mir die Töne von damals in Erinnerung zu rufen. Versuche, den Klang zu hören, eine Reprise zu erzwingen. Das Bild des Dirigenten sehe ich vor mir. Die Geigerin und ihr scharlachrotes Instrument. Den Lehrer mit seinem hellen Scheitel. Ich weiss, wo du mit deiner Mutter gesessen hast und dass Hanspeter Götsch hinter euch Platz genommen hatte. Der Solopianist ist mir gegenwärtig, wie er mit generöser Geste und kleinen Schritten auf die Bühne stürzt und sich an das glänzende Instrument setzt. Ich verfolge, wie seine Hände über die Tasten hüpfen und springen, wie der Leib sich vor- und zurückstemmt, der Kopf in den Nacken fällt und wieder beinah auf die Tastatur klatscht. Und ich erinnere mich, wie mir bewusst ist, noch nie etwas Vergleichbares gehört zu haben. Nichts ist davon übrig geblieben. Die Erinnerung ist stumm. Ich sehe Bilder, höre aber keine Töne. Das Dorf, so sehr ich mich bemühe, hallt nicht wider. Kein Echo aus den Kindertagen. Kein Schallraum, der die Schwingungen behalten und als Reprise zurückwerfen könnte. Nur die Todesschreie der Säue drängen sich mir auf, so oft ich am ehemaligen Schlachthaus vorbeikomme. Für Musik gibt das Dorf keinen Resonanzkörper ab. Das muss ich akzeptieren.

»Und wie machst du das?«, fragst du.

Was ich beruflich erreichen will, wird auf dieser lückenhaften Erinnerung nicht bestehen können. Es ist, als hätte ich einen Koffer auf einem fernen Bahnsteig stehen lassen. Ich muss ihn zurückholen, um die Reise fortsetzen zu können. Muss ihn auspacken und den Tönen auf den Grund gehen, wenn ich ihr Echo hören will. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich werde Musik studieren. Auch wenn die Voraussetzungen dafür schlecht sind. Bis jetzt habe ich nur nach Lust und Laune musiziert. Technik und Können interessierten mich kaum. Das Aufspüren jenes vergessenen und verhallten Konzertes fordert ein geplantes und diszipliniertes Üben. Das Dorf ist dabei ein Hindernis. Ich werde wegziehen.

Du hörst dir meinen Bericht an, fragst nach, wie ich es denn anstellen wolle. Ich erwähne zum ersten Mal die Stadt, in der kürzlich eine Berufsschule für Jazz eingerichtet worden ist. Du freust dich. Offensichtlich entlastet es dich, dass auch ich eine unabhängige Zukunft ins Auge fasse. Ich bin etwas enttäuscht, dass du in keinem Moment des Gesprächs erwägst, deine Pläne den meinen anzupassen und eine Tanzschule in derselben Stadt zu suchen. Umso verzweifelter liebten wir uns an diesem Abend.

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