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Werden Sie der Anführer Ihres eigenen Stammes

Seth Godin ist ein Advokat des neuen Denkens. Wie wenige bringt der amerikanische Marketing-Experte, Unternehmer und Buchautor knackig auf den Punkt, was genauso anders ist an der neuen Wirtschaftsordnung, die wir Meconomy nennen wollen. Godin prägte im Jahr 2009 den Begriff der „Tribes“, zu Deutsch „Stämme“, um die neuen Beziehungsgeflechte zwischen Menschen zu beschreiben. Stämme gab es schon immer: Die Einwohner einer Kleinstadt waren ein Stamm, alle Leichtathleten in Thüringen bildeten einen Stamm oder die Hamburger SPD-Mitglieder. Bei diesen alten Stämmen spielte die Geografie eine zentrale Rolle.

Das Internet hat diesen Geografiebezug eliminiert. Heute existieren unendlich viele Stämme nebeneinander, große und kleine, horizontale und vertikale. Wir alle sind Mitglied in viel mehr Stämmen als früher: Stämme, mit denen wir gemeinsam arbeiten, reisen, einkaufen. Stämme, mit denen wir über Politik diskutieren, denen wir unsere Fotos zeigen, die dieselbe Musik mögen wie wir oder die uns ihre Kochrezepte verraten. Wir haben immer mehr Werkzeuge zur Verfügung, um die Mitgliedschaft in diesen Stämmen zu organisieren und um uns mit den anderen Mitgliedern zu verbinden: Facebook und Xing, Twitter und Basecamp, E-Mail und Websites.

Alle diese Stämme, so Godins Theorie, suchen Anführer. Und der Anführer, das können Sie sein. Am besten, Sie gründen selbst einen Stamm. Was der Gegenstand sein könnte, das Thema, das Produkt? Da horchen Sie am besten tief in sich hinein und fragen sich, wozu Sie am allermeisten Lust hätten. Was ist Ihre Leidenschaft? Wofür brennen Sie? Genau das sollte Thema Ihres Stammes werden.

• Sie interessieren sich so sehr für Schokolade, dass Sie alles darüber wissen und das Wissen weitergeben wollen? Holger In’tVeld ging es genauso, also gründete er in Berlin den „Schokoladen“, in dem er hochpreisige Kakaoprodukte verkauft. Ein Café hat er ebenfalls eröffnet, eine eigene Schokolade produziert er bereits und an einem Buch zum Thema schreibt er gerade. Früher war In’tVeld Musikjournalist – heute hat er einen Stamm von Schoko-Connaisseuren um sich geschart. Ein Beispiel dafür, dass dieses Denken keineswegs nur mit Online-Geschäftsmodellen funktioniert – allerdings per Definition besser, wie der nächste Fall zeigt.

• Ihre Oma häkelt toll, und Sie hätten ein paar schräge Designideen, die die alte Dame umsetzen könnte? Damit verdient Manfred Schmidt jetzt sein Geld, auf dessen Website „Oma Schmidt’s Masche“ es Topflappen mit Totenkopfmotiv, ungewöhnliche Häkelmützen, T-Shirts und Eierwärmer zu kaufen gibt. Vorher war Schmidt Architekt. Heute hat er online einen bundes- oder sogar weltweiten Stamm für seine Produkte gegründet, was ihm angesichts der spitzen Zielgruppe mit einem Laden an der Ecke wohl nicht gelungen wäre.

• Andreas Stammnitz’ große Leidenschaft war immer schon, Menschen etwas beizubringen. Als Marketingchef eines großen deutschen Buchverlages war er zwar erfolgreich – aber in ihm brannte immer der Gedanke: Am liebsten wäre ich selbstständig und würde irgendwas mit Erwachsenenbildung machen. Jetzt hat Stammnitz seinen festen Job auf halbtags reduziert und baut nebenbei eine Onlinecommunity für Coaching und berufliche Fortbildung auf.

Nur drei Beispiele für Seth Godins Kernthese, dass die neue Wirtschaftsordnung Leidenschaft belohnt. „Bei Stämmen geht es um Glauben“, so der Amerikaner: „Glauben an eine Idee, an eine Gemeinschaft. Glauben Sie an das, was Sie tun? Jeden Tag? Es stellt sich heraus, dass glauben eine brillante Strategie ist. Immer mehr Menschen merken gerade, dass sie sehr viel arbeiten und dass es sehr viel befriedigender ist, an etwas zu arbeiten, an das sie glauben, und Dinge zu bewegen, als einfach nur jeden Monat sein Gehalt zu bekommen und darauf zu warten, gefeuert zu werden (oder zu sterben).“

Geht es nach Godin, ist das Leben zu kurz, um zu hassen, was man den Tag über tut. Zu kurz, um Mittelmäßiges zu produzieren. Und fast alles, was heutzutage Standard, gängig oder durchschnittlich sei, gelte den Menschen als mittelmäßig, also langweilig. „Das Resultat ist, dass viele sehr gute Leute den Tag damit zubringen, zu verteidigen, was sie tun“, so der Autor, „damit, das zu verkaufen, was sie immer verkauft haben, und zu verhindern versuchen, dass ihr Unternehmen von den Mächten des Neuen aufgefressen wird. Es muss sie sehr anstrengen. Mittelmäßiges zu verteidigen ist aufreibend.“ Wer bei Opel arbeitet, bei Karstadt oder bei einer Tageszeitung, weiß, was gemeint ist.

Aber was, wenn man befürchtet, dass die eigene Leidenschaft, das Hobby, das Interessengebiet zu exotisch ist? Oder zu gängig? Kurz: was, wenn man Angst hat, die Sicherheit des Mittelmäßigen einzutauschen gegen das Abenteuer des Unberechenbaren? Dann sollte man es erstens machen wie Andreas Stammnitz und die neue Geschäftsidee, die Website, den Laden, seinen Stamm ganz langsam nebenbei aufbauen. Man merkt dann schon, wann es Zeit ist, das Alte aufzugeben und sich ganz ins Neue zu stürzen. Aber man muss auch bereit sein, konstruktiv zu scheitern und daraus zu lernen: „Nutzen Sie die Kraft, die darin liegt, nicht recht haben zu müssen“, so John Naisbitt, renommierter Zukunftsforscher, Autor des Weltbestsellers „Megatrends“ und Berater mehrerer US-Präsidenten in seinem letzten Buch „Mindset“: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wenn Sie Angst davor haben, nicht recht zu behalten, werden die Gelegenheiten, die diese evolutionäre Ära zu bieten hat, an Ihnen vorbeiziehen.“

Zweitens sollte man an die „1000-Fans“-Regel von Kevin Kelly, Internet-Legende und Mitgründer des Magazins Wired, denken. Sie besagt, dass in der Regel 1000 wahre Fans reichen, um einen Künstler oder ein kleines Geschäft zu ernähren. Ein wahrer Fan laut dieser Definition bringt drei Freunde mit zum Konzert. Kauft die teure Hardcover-Ausgabe eines Buches, statt nur auf der Website des Autors herumzuklicken. Fährt quer durch die Stadt, um in genau diesem Laden jene Schokolade zu kaufen. Und vor allem verstärkt er die Wirkung des Stammes, erzählt weiter, wie großartig es ist, Fan zu sein von: genau – von Ihnen.

Heißt das nun also, dass wir alle selbstständige Kleinunternehmer werden sollen, Blogger, Künstler und Schokoladenverkäufer? Eben nicht. Organisationen sind nach wie vor wichtig. Sie produzieren Effizienzgewinne, erlauben es, Prozesse zu skalieren, und reduzieren Komplexität. Wir brauchen Organisationen. Sie „geben uns die Möglichkeit, komplexe Produkte herzustellen“, so Godin, „sie haben die Kraft und das Durchhaltevermögen, Dinge auf den Markt zu bringen. Sie können große Stämme bedienen.“ Aber sie müssen keine Fabriken, so nennt Godin Organisationen, in denen der Chef einem sagt, was man zu tun hat, mehr sein. Routineaufgaben, standardisierte Prozesse und die Herstellung von Massenprodukten halten das moderne Unternehmen nur auf und sind leicht outzusourcen. „Die Organisationen der Zukunft bestehen aus smarten, schnellen, flexiblen Menschen, die auf einer Mission sind“, so Godin.

Stämme können auch innerhalb von Organisationen entstehen. Rund um denjenigen, der die innovative Idee hatte. Um diejenige, die Kollegen mit ihrem Enthusiasmus begeistert. Um den, der nicht nur Dienst nach Vorschrift macht. Oder um die, die nicht nur überlegt, was die Chefs von ihr verlangen, sondern welche Ziele sie damit verfolgen und wie sie diese erreichen kann. Herausfinden, wofür man brennt, das dann publik machen und so Fans um sich sammeln, um gemeinsam daran zu arbeiten – all das kann man auch im Unternehmen tun, am Arbeitsplatz. Man muss es sogar tun, um nicht entweder an Langeweile einzugehen oder wegen Farblosigkeit gekündigt zu werden.

Dieses Leben können wir heute nicht nur dramatisch leichter einrichten als früher – es wird uns auch mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich machen und zufrieden.

Oder? Um das genau zu wissen, wäre es gut, etwas mehr darüber zu erfahren, was eigentlich die Dinge sind, die uns glücklich werden lassen. Denn Experten stellen immer wieder fest, dass wir erstaunlich unklare und unrealistische Vorstellungen davon haben, was Glück eigentlich ist und wie wir es erreichen. Diese Frage unter den Voraussetzungen der Meconomy zu klären, wollen wir uns darum im nächsten Kapitel vornehmen.

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