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B. Unternehmenskriminalität – Begriffliche und theoretische Probleme

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Vor diesem Hintergrund wird die gesellschaftliche Relevanz von im Unternehmenskontext begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten deutlich, obwohl sich die Kriminologie erst spät diesem Forschungsgegenstand zuwandte. Kriminalität innerhalb der Wirtschaft wurde erstmals von Edwin H. Sutherland in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Konzept des „White-Collar Crime“ thematisiert. Er verstand hierunter solche Verhaltensweisen, die von Personen mit Ansehen und hohem sozialem Status im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit begangen werden: „Crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation“.[1] Maßgebliche Eingrenzungsmerkmale bildeten somit die in der Person des Täters liegenden Kriterien des Ansehens („respectability“) und hohen sozialen Status („high social status“) sowie die Berufsbezogenheit des deliktischen Handelns („in the course of his occupation“). Sutherland ging es mit dem Konzept des „White-Collar Crime“ darum, die bis dahin nahezu ausschließlich auf die Unterschichtkriminalität gerichtete Fokussierung der Kriminologie nunmehr in Richtung auf die Kriminalität der Mittel- und Oberschichten zu erweitern, um das seinerzeit vorherrschende Verständnis zu korrigieren, Kriminalität sei in erster Linie durch sozialpathologische Umstände bedingt und demnach letztlich ein Unterschicht-Phänomen. Im Hintergrund stand der Anspruch, den Status der von ihm entwickelten „Theory of Differential Association“ als sämtliche Formen deliktischen Handelns erklärende „General Crime Theory“ zu untermauern, die auf der Grundannahme beruhte, dass kriminelles Verhalten in Interaktion mit anderen Personen – eben „differentiellen Assoziationen“ – in einem Kommunikationsprozess erlernt werde.[2] Da derartige Prozesse nicht auf die Unterschicht beschränkt seien, sondern unabhängig von der jeweiligen Schichtzugehörigkeit in allen Bevölkerungsschichten stattfänden, seien traditionelle Kriminalitätserklärungen unzureichend, weshalb der Blick auf die Kriminalität gesellschaftlicher Eliten gelenkt werden müsse.[3]

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Abgesehen davon, dass dem Begriff des „White-Collar Crime“ von vornherein die Gefahr einer „ideologischen Aufladung“ und Missverständlichkeit im Sinne einer Tätertypologie zu eigen war (was nicht Sutherlands Stoßrichtung war),[4] hat die Definition Schwächen. Die Merkmale des Ansehens bzw. des sozialen Status und der Berufsbezogenheit des Handelns grenzen den in Frage kommenden Täterkreis allenfalls diffus ein[5] und führen zu einem gleichermaßen zu weiten wie zu engen Begriff von Wirtschaftskriminalität. Zu eng erscheint ein solches Verständnis deshalb, weil der Rekurs auf Ansehen und sozialen Status diejenigen Verhaltensweisen nicht erfasst, die von unterhalb der Ebene des Führungspersonals angesiedelten Personen ausgeübt werden.[6] Zu weit ist dieses Verständnis deshalb, weil das Merkmal der Berufsbezogenheit dazu führt, dass sämtliche straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlich relevanten Verhaltensweisen in Ausübung eines Berufs als Wirtschaftskriminalität erfasst werden, ohne dass zwingend ein Bezug zur Wirtschaft bestehen muss. Damit wären auch die im Rahmen der Berufsausübung begangenen Delikte Selbständiger (Handwerker, Einzelhändler, Ärzte, Rechtsanwälte etc.) oder sogar hochgestellter Beamter als Wirtschaftskriminalität einzustufen.[7] Dies liefe darauf hinaus, Formen konventioneller Eigentums- oder Vermögenskriminalität, die lediglich innerhalb der Wirtschaft stattfinden, nicht aber spezifischer Ausdruck wirtschaftlichen Handelns sind, als Wirtschaftskriminalität einzustufen.

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Die Kritik an dem Konzept des „White-Collar Crime“ führte dazu, dass in der modernen Kriminologie der Begriff der Wirtschaftskriminalität weniger über die mit weißem Kragen ausgestattete Person des Täters bestimmt, sondern das diese Kriminalitätsform prägende Verhalten mehr und mehr zum maßgeblichen Differenzierungskriterium erhoben wird. Unterschieden wird zwischen „Occupational Crime“ als berufsbezogener Betriebskriminalität und „Corporate Crime“ als Unternehmenskriminalität. Während der Begriff des „Occupational Crime“ begangene Straftaten und Ordnungswidrigkeiten aus persönlichen finanziellen Interessen im Rahmen der Berufsausübung erfasst, betrifft der Begriff des „Corporate Crime“ diejenigen Verfehlungen, die im wirtschaftlichen Interesse eines Unternehmens getätigt werden.[8]

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Allerdings weist der Begriff des „Occupational Crime“ nach wie vor (zu) starke Bezüge zu dem des „White-Collar Crime“ auf.[9] Selbst wenn man als maßgeblichen Unterschied die persönliche wirtschaftliche Motivation des Täters betont, werden vornehmlich Fallgestaltungen erfasst, die klassische Eigentums- und Vermögenskriminalität darstellen. Demgegenüber erscheint Unternehmenskriminalität in verschiedener Hinsicht als der eigentlich bedeutende Bereich straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlich entscheidenden Verhaltens, da Unternehmen die zentralen Einheiten innerhalb des Wirtschaftssystems sind und sanktionsfähige Taten im Unternehmensinteresse auch im Hinblick auf Schadenssummen den bedeutsamsten Teil straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlich relevanten Handlungen innerhalb der Wirtschaft ausmachen.[10] Unternehmenskriminalität sind demnach diejenigen straf- und ordnungswidrigkeitenrechtswidrigen Verhaltensweisen, die von Unternehmensangehörigen (im Grenzfall vom Alleineigentümer) in der Absicht begangen werden, die Passiva des Unternehmens zu vermindern und/oder die Aktiva zu erhöhen bzw. die im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit eingegangenen Verpflichtungen nicht einzuhalten.[11] Zentrale Bestimmungsmerkmale sind einerseits das Handeln im Unternehmenskontext und andererseits die Ausrichtung der Vorgehensweise an den wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens. Als Unternehmen sollen dabei solche organisatorische Einheiten bezeichnet werden, die von einem Rechtssubjekt getragen werden und einem wirtschaftlichen Zweck zu dienen bestimmt sind.[12]

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Die Fokussierung auf den Begriff der Unternehmenskriminalität lenkt den Blick auf deren typischen Merkmale, die zunächst darin bestehen, dass der Eingliederung von Individuen in eine Organisation offenbar kriminogene Wirkung zukommen kann.[13] Jedenfalls hatte bereits Sutherland festgestellt, dass in den von ihm untersuchten Unternehmen unabhängig von der Personalfluktuation bestimmte Formen der Kriminalität persistent blieben und damit nicht allein mit der konkreten Person des Täters erklärt werden konnten.[14] Sutherland sah hierin das Wirken jener kommunikativen Netzwerke, die, über nach Art, Häufigkeit, Dauer, Priorität und Intensität unterscheidbare differentielle Assoziationen, in kriminogene Lernprozesse einmünden. Das berühmte Experiment von Milgram belegte später, in welchem Ausmaß Durchschnittsmenschen bereit waren, autoritären Anweisungen zu folgen, selbst wenn diese Handlungen in eklatantem Widerspruch zu ihrem Gewissen standen: Trotz immer stärkerer Schmerzensäußerungen versetzten die nichtsahnenden Probanden einer vermeintlichen Versuchsperson auf Anweisung weitere Stromschläge, um sie bei Fehlern zu bestrafen.[15] Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Unternehmen durch Arbeitsteilung geprägt sind, womit Information, Entscheidung und Handlung anders als in Konstellationen der Alltagskriminalität nicht in ein und derselben Person zusammenfallen, sondern auf verschiedene Mitarbeiter verteilt sind. Dieser Effekt verstärkt sich dadurch, dass moderne Unternehmen immer weniger durch hierarchische, sondern durch heterarchische Organisationsstrukturen geprägt werden, wodurch Verantwortlichkeitszusammenhänge für den einzelnen Unternehmensangehörigen möglicherweise weniger deutlich sind. Insofern mag es zu Verantwortungsdiffusionen kommen, die nicht einmal intendiert sein müssen.

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Lässt man diese Aspekte Revue passieren, ergibt sich hieraus ein nahe liegendes Präventionsdefizit des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, da die verhaltenssteuernde Wirkung des tatbestandlichen Normappells entweder ins Leere geht oder sich zumindest abschwächt.[16] Indes können diese Effekte nur bedingt über klassische Kriminalitätstheorien erklärt werden, die vor allem mit Blick auf Jugend-, Gewalt- oder konventionelle Eigentums- und Vermögenskriminalität entwickelt wurden, auch wenn ihnen für Einzelaspekte ein gewisser heuristischer Wert zukommt.[17] Selbstverständlich könnte man den auf Unternehmen lastenden Druck zur Erzielung von Gewinnen mit der Anomietheorie Mertonscher Prägung erklären, wenn man Unternehmenskriminalität aus einem Gegensatz zwischen kultureller (im hier interessierenden Zusammenhang bedeutete dies: „Gewinnmaximierung“) und sozialer Struktur (im hier interessierenden Zusammenhang: „Gleiche Verteilung von Chancen, mit legalen Mitteln Gewinne zu erzielen“) erklärt und im Interesse des Unternehmens begangene Straftaten und Ordnungswidrigkeiten als eine der Möglichkeiten interpretiert, einem solchen Druck („Strain“) zu begegnen.[18] Denn hier würde ein gesellschaftlich als illegitim erachtetes Mittel (kriminelles Verhalten) zur Erreichung eines gesellschaftlich als legitim erachteten Zieles (Gewinn) eingesetzt, was innerhalb der Theorie mit dem Begriff der „Innovation“ umschrieben wird. Indes hatte Merton allein den auf Individuen lastenden „Strain“ vor Augen, der dann als Erklärung für Formen vor allem konventioneller Kriminalität fungierte, weshalb ein solcher Erklärungsansatz nicht ohne Weiteres für die Erklärung überindividueller sozialer Phänomene taugt. Ebenso könnte man die kriminogene Wirkung der Eingliederung in die Unternehmensorganisation im Sinne von Theorien der Subkultur bzw. Neutralisationstechniken erklären: Basieren beide Ansätze wie die Anomietheorie auf einem Gegensatz zwischen kultureller und sozialer Struktur, könnte Unternehmenskriminalität in der Weise gedeutet werden, dass entweder eine der auf die Einhaltung straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Vorgaben ausgerichteten Hauptkultur entgegengesetzte Subkultur herausgebildet wird, die Normverstöße als Instrument wirtschaftlicher Zielerreichung akzeptiert.[19] Oder bei grundsätzlichem Einverständnis in Bezug auf straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Vorgaben werden im Interesse des Unternehmens begangene Normverstöße im Einzelfall akzeptiert, weil der jeweilige Normappell aufgrund des Wettbewerbsdrucks oder des Erhalts von Arbeitsplätzen neutralisiert wird.[20] Ungeachtet ihres heuristischen Potentials wird man sich aber auch hier vergegenwärtigen müssen, dass diese Ansätze in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts zur Erklärung jugendlicher Gang-Kriminalität in US-amerikanischen Großstädten entwickelt wurden, was erst einmal wenig mit in Unternehmenszusammenhängen begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu tun hat. Ähnliches lässt sich neueren Ausprägungen des Rational Choice-Ansatzes entgegenhalten,[21] die das Unternehmenswirken als Aggregation von Einzelentscheidungen der Mitarbeiter und das Unternehmen als korporativen Akteur verstehen, der mit einem „Bewusstsein“ sowie einem „Entscheidungs- und Handlungszentrum“ ausgestattet sei.[22] Eine solche Interpretation läuft auf eine Anthropomorphisierung von Unternehmen hinaus und blendet den Umstand aus, dass ein Unternehmen mehr als die Summe seiner Einzelteile darstellt und straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlich relevantes Unternehmenswirken nicht ohne Weiteres aus der bloßen Addition einzelner Informationen, Entscheidungen und Handlungen von Unternehmensangehörigen erklärbar ist.[23] Vor diesem Hintergrund erlangt die autopoietische Systemtheorie Bedeutung, die in Gestalt des Emergenzbegriffs von vornherein davon ausgeht, dass jedes „Soziales“ in Gestalt sozialer Systeme überhaupt erst zur Entstehung bringende Kommunikation das Auftreten eines neuen Ordnungsniveaus bezeichnet, welches sich nicht mehr allein aus den Eigenschaften des ihm zugrunde liegenden Unterbaus erklären lässt.[24] Konkret: Unternehmen sind mehr als die Summe ihrer Teile.[25] Die Systemtheorie trägt von vornherein Emergenzeffekten Rechnung und bietet um den Preis eines beachtlichen Abstraktionsgrades ein erhebliches Auflösungspotential, da mit ihr ein Paradigmenwechsel von der Analyse individuellen Handelns zur Analyse überindividueller Kommunikationsprozesse verbunden ist.[26] Unmittelbare Konsequenzen für das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht lassen sich aus ihr allerdings nicht ableiten; die insoweit zutreffenden Dezisionen müssen innerhalb des Rechtssystems erfolgen. Dann aber ist von Interesse, ob, wie und warum das Etikett der straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Relevanz bestimmter Verhaltensweisen zur Anwendung gebracht wird. Kriminologisch steht dahinter der dem konstruktivistischen Paradigma verhaftete Labeling Approach Ansatz, der davon ausgeht, dass Kriminalität keine ontische Basis hat, sondern das Ergebnis von Definitionsprozessen auf der Ebene der Normsetzung und -anwendung ist.[27]

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