Читать книгу Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur - Markus Saur - Страница 12
Die mesopotamische Weisheitstradition
ОглавлениеWährend im Ägyptischen mit dem Terminus śb¦j.t ein eigenes Wort für die literarische Gattung der Lehren in Gebrauch war, fehlt in der mesopotamischen Literatur ein Gattungsbegriff, der die Texte, die weisheitliche Themen behandeln, zusammenfassen könnte. Das verbindet die mesopotamische Tradition in gewisser Weise mit der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, die ebenfalls nur Ansätze einer gattungsbezogenen Eigenbegrifflichkeit erkennen lässt. Wie es aber im Hebräischen den Begriff ḥokmāh zur Bezeichnung des Phänomens Weisheit gibt, so haben dafür auch die beiden Sprachen Mesopotamiens, das Sumerische und das Akkadische, eine entsprechende Terminologie: Im Sumerischen findet sich neben dem Nomen ĝéštu auch namkù-zu, im Akkadischen neben uznu(m) auch das Nomen nēmequ(m) zur Bezeichnung der Weisheit.
Sumerische Weisheit
Die Anfänge mesopotamischer Weisheit finden sich in Sumer, der ältesten, nichtsemitischen Kultur des Zweistromlandes. Zahlreiche Verbindungen und literarische Traditionslinien weisen darauf hin, dass auch die späteren Weisheitsliteraturen der Babylonier und Assyrer, die in akkadischer Sprache überliefert sind, sumerischen Geist atmen. Das ist insofern bemerkenswert, als die sumerische Sprache sich vollkommen von den semitischen Sprachen unterscheidet. Während das Babylonische und das Assyrische enge Verbindungen aufweisen und auch das westsemitische Ugaritische, Phönizische, Hebräische und Aramäische ihre Verwandtschaft untereinander und mit dem Akkadischen deutlich erkennen lassen, liegt mit dem Sumerischen eine Sprache eigenen Typs vor, so dass man – wenn sich Einflüsse sumerischer Weisheit auf die akkadische Weisheit finden – mit einer Übersetzungsleistung im eigentlichen Sinn rechnen muss: Jede Übersetzung von einer Sprache in eine andere ist eine Transformationsleistung, und je weiter die Sprachen voneinander entfernt sind, desto mehr sind dieser Transformationsleistung Wesenszüge der Interpretation und Deutung inhärent. Dieser hinter der Übersetzung stehende Deutungs- und Interpretationsprozess, der sich im alten Zweistromland des 3. Jt. v. Chr. abgespielt haben muss, zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit weisheitlichen Themen, Fragen und Problemen.
Listenwissenschaft
Die Sumerer haben neben Spruchsammlungen, die den persönlichen, sozialen und religiösen Bereich betreffen und möglicherweise Produkte aus sumerischen Schreiberschulen sind, die später dann ins Akkadische übertragen wurden, vor allem Listen geschaffen, mit denen sie die Ordnung der Welt durch Zusammenstellung ihrer einzelnen Elemente durchschaubar zu machen versuchten. Bei einer Sprache wie dem Sumerischen, in der ein Schriftzeichen einem Wort entspricht, waren diese Listen zunächst (Wort) Sammlungen, die in Schreiberschulen verwendet wurden und gewissermaßen als Unterrichtsmaterial dienten. Diese Wortzusammenstellungen waren aber zugleich auch Sachregister, die nach bestimmten Ordnungskriterien angelegt wurden. Es handelt sich bei den sumerischen Listen bzw. bei der sogenannten sumerischen ,Listenwissenschaft‘ um erste Versuche einer systematisierenden Durchdringung der Welt, die eng mit der Erfindung der Schrift zusammenhängt, da erst die Schriftlichkeit eine derartige Erfassung umfangreicher Datenbestände ermöglicht hat; erst mit Hilfe der Schrift lassen sich Datenmengen speichern, die das Fassungsvermögen des menschlichen Gedächtnisses übersteigen. Schrift ist damit das erste externe Speichermedium der Menschheitsgeschichte.
Die sumerischen ,Sprichwörter‘-Sammlungen, die möglicherweise in Babylonien zur rhetorischen Ausbildung der Sumerisch-Schüler verwendet wurden, sind vielfach nicht mehr verständlich, an einigen Stellen geben sie aber Erfahrungen wieder, die bis heute Geltung haben:
„Wer schwer ißt, wird deswegen nicht schlafen (können). […]
Das Herz hat keine Gesinnung des Hasses erzeugt: der Mund hat eine
Gesinnung des Hasses erzeugt!“27
Neben derartigen Sprichwörtern finden sich bereits in der sumerischen Literatur kleinere Fabeln und Rätsel, die sich dem heutigen Leser aber oft nur mit Mühe erschließen28.
Lob der Schreibkunst
Darüber hinaus sind auch belehrende Texte aus dem Sumerischen überliefert. Im Lob der Schreibkunst wird der ökonomische Nutzen der Mühen des Schreiben-Lernens dargestellt:
„Die Schreibkunst (ist) ein gutes Los, Reichtum und überreichliche Fülle!“29
Rat des Schuruppag
Im Rat des Schuruppag gibt der Vater Schuruppag seinem Sohn Ziusudra Anweisungen für das Leben30; es handelt sich um einen relativ umfangreichen Text, der durch einen Rahmen, in den die einzelnen Anweisungen eingebettet sind, strukturiert wird. Einen besonderen literarischen Schatz stellen die sumerischen Schulsatiren dar, die das Schul- und Schreiberwesen mit seinen Eigenheiten in humoristischer Weise darstellen. In der Satire vom Sohn des Tafelhauses etwa wird von einem faulen Schüler berichtet, dessen Vater den Lehrer nach Hause einlädt, gut bewirtet und beschenkt – und am Ende einen weisen Musterschüler zum Sohn hat, weil der Lehrer Bewirtung und Geschenke zu schätzen weiß31. Einen Einblick in das Leben im Tafelhaus geben die Diskussionen zwischen Schülern des Tafelhauses, die Streitgespräche darstellen, die wohl gezielt geführt wurden, um sich gegenseitig den aktuellen Wissensstand zu demonstrieren32.
Sumerischer Hiob
Im Sumerischen findet sich auch ein Text, in dem ein leidender und klagender Mensch sich an seinen persönlichen Gott richtet. Man spricht mit Blick auf diesen Text häufig auch vom Sumerischen Hiob33. Dem im Text zitierten jungen Mann begegnen seine Mitmenschen in feindseliger Absicht, er klagt über sein Unglück – und bekennt seinem Gott seine Sünden, die dieser vergibt und die Feinde des jungen Mannes zerschlägt. Es handelt sich, vor allem gegen Ende, eigentlich mehr um ein Klagegebet; wegen der Hervorhebung des Wissens des Beters trägt dieses Gebet aber Züge der sumerischen Weisheit.
Akkadische Weisheitsliteratur
Die akkadische Weisheitsliteratur erlebte ihre Blüte ab dem ausgehenden 2. Jt. v. Chr. und steht damit der hebräischen Literatur zeitlich weitaus näher als die sumerischen Texte. Formale Parallelen zu den sumerischen Sprichwortsammlungen finden sich in akkadischen Ratschlägen und Warnungen, die zu Sammlungen zusammengestellt und der Autorität großer Vorzeithelden zugeordnet wurden. So ist etwa eine Sammlung überliefert, die dem babylonischen Sintfluthelden Ut-napuschti/Ut-napischtim aus der Stadt Schuruppak zugeschrieben wird34, was an den sumerischen Rat des Schuruppag erinnert – allerdings wird hier aus dem sumerischen Vater eine Stadt gemacht und damit der Personenname in einen Ortsnamen umgewandelt.
Streitgespräch zwischen Tamariske und Dattelpalme
Ebenso wie im Sumerischen finden sich auch in akkadischer Sprache Fabeln, also Geschichten, in denen Tiere und Pflanzen sprechen; in diesen Bereich gehört wohl auch das Streitgespräch zwischen Tamariske und Dattelpalme, in dem sich beide Bäume ihre jeweilige Überlegenheit vorhalten35.
Im neuassyrischen Akkadisch sind zudem Kurzgeschichten belegt, die paradigmatisch Lehrhaftes bieten:
„Eine Spinne spann ihr Netz für eine Fliege. Eine Eidechse schlängelte sich gegen das Netz heran zu(m Fang) der Spinne.“36
Die Moral dieser Geschichte lässt sich wohl ungefähr so erfassen: Wer den Tod und den Untergang eines anderen, kleineren plant, muss aufpassen, dass er unterdessen nicht den eigenen Feind übersieht und beim Planen des Unglücks selber zum Unglücksopfer wird.
ludlul bēl nēmeqi
Von herausragender Bedeutung für die akkadische Literaturgeschichte ist die Dichtung ludlul bēl nēmeqi, die nach ihren Anfangsworten ,Ich will preisen den Herrn der Weisheit‘ benannt ist und das Problem des leidenden Gerechten reflektiert. Die Dichtung stammt aus dem 12. Jh. v. Chr. und verteilt sich auf insgesamt IV Tafeln zu je 120 Versen. Der Name des Protagonisten lautet Schubschi-meschre-schakkan (,Bewirke Reichtum für mich, Schakkan‘); dieser war ein hoher königlicher Beamter. TafelI berichtet nach einem Hymnus auf Marduk, der als Herr der Weisheit gepriesen wird, dass dieser Schubschi-meschre-schakkan offensichtlich verlassen hat und ihm zürnt. Über Schubschi-meschre-schakkan bricht nun das Unglück mit geballter Kraft herein. Psychische und wohl auch physische Leiden haben die soziale Stigmatisierung zur Folge, Schubschi-meschre-schakkan verliert seine hohe berufliche Position, seine Familie wendet sich von ihm ab, seine körperliche Kraft ist dahin. Tafel II bringt das Unverständnis des Leidenden über sein Unglück zum Ausdruck, denn Gebet und Opfer waren seine Freude; insbesondere der Abschnitt II 33–48 weist ein eindrucksvolles Reflexionsniveau auf:
„Wüßte ich doch (gewiß), daß hiermit der Gott einverstanden ist! […]
Wer kann den Willen der Götter im Himmel erfahren? Wer begreift den Ratschluß des Anzanunzu? Wo je erfahren den Weg des Gottes die Umwölkten? […] Über dieses (alles) dachte ich nach, konnte den Sinn davon aber nicht ergründen!“37
Die zweite Hälfte von Tafel II berichtet in allen Details von den Leiden Schubschi-meschre-schakkans und schildert am Ende bereits den Abschluss der Vorbereitungen für seine Grablegung. Die stark beschädigten Tafeln III und IV schildern die Wende: Marduk wendet sich Schubschi-meschreschakkan wieder zu, seine Krankheiten weichen von ihm:
„Im Tor der Sündenlösung ward meine Schuld gelöst; im Tor des Lobpreises beriet sich mein Mund.“38
Am Ende steht Schubschi-meschre-schakkan wieder in vollem Glanz da und die Dichtung schließt mit einem Lob der Macht Marduks und seiner Göttin Zarpanitu:
„Außer Marduk hätte wer seinen Todeszustand in Leben verwandeln können; außer Zarpanitu hätte welche Göttin ihm Leben schenken können? Marduk vermag aus dem Grabe ins Leben zu rufen; Zarpanitu versteht es, vor der Katastrophe zu verschonen.“39
Der Text ähnelt dem alttestamentlichen Hiobbuch; hier wie da gerät ein gerechter und frommer Mann ins Unglück und versteht die Welt und seinen Gott nicht mehr. Trotz seiner Gebete und Opfer, und das heißt trotz seines untadeligen Wandels, bleibt er nicht verschont, sondern muss das Unglück in heftigster Form über sich ergehen lassen. Dass Marduk Schubschi-meschre-schakkan am Ende wieder genesen lässt und der Dichtung zufolge dafür Lob und Preis verdient, kann angesichts der theologischen Abgründigkeit nur ein schwacher Trost sein.
Babylonische Theodizee
Ein anderer akkadischer Text aus der Zeit um 800 v. Chr. wird häufig als Babylonische Theodizee bezeichnet und ist formal ein Streitgespräch zwischen einem an seinem Unglück leidenden Priester und einem gelehrten Theologen über die Gerechtigkeit Gottes und die Ungerechtigkeit der Welt. Der Priester entfernt sich immer mehr von seinen Pflichten und will am Ende sogar alles aufgeben, seinen Besitz, seine kultischen Aufgaben, und als Landstreicher herumziehen. Der Theologe ruft den Priester zur Vernunft und appelliert an seinen Verstand, die Gottheit nicht zu verlassen:
„Wer das Joch Gottes zieht, der mag mager bleiben, hat aber doch regelmäßig zu essen. Den guten Hauch der Götter suche immer wieder, dann wirst du, was du in diesem Jahr verlorst, sehr bald ersetzen können.“
Darauf der leidende Priester:
„Wenn ich mich vor den Göttern demütige, was gewinne ich (dabei)?“
Worauf der Theologe antwortet:
„Tüchtiger, Kenntnisreicher, der über Einsicht verfügt! Ganz böse ist dein Herz, den Gott drangsalierst du. Der Sinn des Gottes ist wie das Innere des Himmels uns fern, seine Klugheit ist schwer zu erfassen, daher begreifen die Menschen (sie) nicht.“40
Man hat hier ein aus der Seelsorge erwachsendes theologisches Streitgespräch vor sich, in dem die Position des Rebellen und die des Verteidigers der göttlichen Ordnung auf zwei Personen verteilt werden. Diese Konstellation findet sich in erweiterter Form auch im Hiobbuch, wenn Hiob mit seinen drei Freunden die Gründe für sein Leid erörtert.
Pessimistischer Dialog
Aus dem 8./7. Jh. v. Chr., also der Zeit des neuassyrischen Großreiches, stammt ein Text, der als Pessimistischer Dialog bezeichnet wird und das Gespräch zwischen einem etwas einfältigen Herrn und seinem sehr klugen Sklaven wiedergibt. Der Herr verlangt zunächst immer, dass sein Sklave ihm zustimmt; dann teilt er mit, was er zu tun gedenkt, worauf der Sklave ihn unterstützt; daraufhin fasst der Herr nun das Gegenteil des eben noch Geplanten ins Auge, und auch hierbei unterstützt ihn sein Sklave. Als der Herr am Ende den Sklaven umbringen will, antwortet dieser schlagfertig:
„Aber (für) meinen Herrn seien es nur noch drei Tage, die er nach mir zu leben hat!“41
Der Text muss insgesamt wohl als eine Satire aufgefasst werden, die die Sinnlosigkeit und Absurdität des Tuns des Herrn vor Augen führen will. Der Text bleibt in letzter Konsequenz jedoch rätselhaft, weil das eigentliche Thema nicht klar erkennbar ist. Der Text wurde allerdings mehrfach abgeschrieben und demnach auch in breiteren Kreisen rezipiert, so dass es sich bei diesem Dialog wohl nicht nur um die Äußerungen eines literarischen Einzelgängers handelt.
Es zeigt sich an den vorgestellten Texten, dass die mesopotamische Literatur neben den klassischen Formen des Sprichwortes, also der einzelnen Sentenz, vor allem Texte hervorgebracht hat, die reflektieren, hinterfragen und problematisieren – und die dabei die überlieferten Formen hinter sich lassen und neue literarische Ausdrucksmittel suchen, die über den Einzelspruch, die kurze Fabel oder das Rätsel hinausgehen. Bemerkenswert sind die satirischen Elemente, die sich sowohl in den sumerischen Schülergeschichten als auch in dem akkadischen Dialog zwischen dem Herrn und seinem Sklaven zeigen. Der Zusammenhang zwischen Weisheit und Humor, zwischen tiefgründiger Reflexion und komischer Distanz wirkt wegen der selbstironischen Anklänge auch heute noch befreiend.