Читать книгу Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur - Markus Saur - Страница 6
I. Einführung 1. Was ist Weisheit? Der Standort der Weisheit
ОглавлениеDie Weisheit ist eine Angelegenheit des öffentlichen Raumes und hat ihren Ort nicht hinter verschlossenen Türen in der Abgeschiedenheit gelehrter Studierstuben. So ist in Spr 1,20f zu lesen:
20 Die Weisheit ruft auf der Straße,
auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme.
21 Im größten Lärm ruft sie,
am Eingang der Stadttore spricht sie ihre Worte.1
Welche Worte aber spricht die Weisheit? Womit hat es die Weisheit im antiken Israel zu tun? Und in welcher Form wird die Weisheit überliefert? Diesen Fragen soll in der folgenden Darstellung nachgegangen werden.
Erfahrungswissen
„Kein Mensch würde auch nur einen Tag leben können, ohne empfindlichen Schaden zu nehmen, wenn er sich nicht von einem ausgebreiteten Erfahrungswissen steuern lassen könnte.“2 Mit diesen Worten eröffnet Gerhard von Rad seine Studie „Weisheit in Israel“, die einen Meilenstein in der Auslegungsgeschichte der alttestamentlichen Weisheitsliteratur darstellt, weil sie nicht nur die literarischen Befunde bündelt, sondern das weisheitliche Denken selber theologisch durchdringt und zu verstehen lehrt. Entscheidend ist an von Rads einführendem Satz der Begriff der Erfahrung, der mit dem der Weisheit eng verbunden ist: Als Weisheit wird gemeinhin die Fähigkeit bezeichnet, aufgrund eigener oder fremder Erfahrungen ein gelingendes, mindestens aber doch ein zufriedenstellendes Leben führen zu können. Weisheit hat demnach etwas mit Lebenskunst zu tun, und das heißt mit der Fähigkeit, das Leben bewältigen und seinen Herausforderungen gerecht werden zu können. Wie das antike Israel sich diesen Herausforderungen stellte, zeigt die alttestamentliche Weisheitsliteratur.
Die Hebräische Bibel gliedert sich in drei große Teile: die Tora, die Prophetenbücher und die Schriften. Zu diesen Schriften, hebräisch ketubim, gehören neben den Chronikbüchern und dem Esra-Nehemiabuch der Psalter, das Sprüchebuch, das Buch des Predigers Salomo bzw. Kohelet, das Buch Hiob und weitere kleinere Texte wie das Hohelied, die Sammlung der Klagelieder, aber auch das Ester- und das Rutbuch sowie das Buch Daniel. Dass diese Texte am Ende der Hebräischen Bibel stehen, hat sowohl mit ihrer Entstehungszeit als auch mit ihrem Inhalt zu tun. Es handelt sich bei den Schriften aber keineswegs um randständige Textsammlungen, sondern um hebräische Literatur ersten Ranges. Das lässt sich etwa anhand des Psalters zeigen, der nichts weniger ist als das Gebets- und Meditationsbuch der nachexilischen Gemeinde und damit eine unersetzliche Quelle für die Rekonstruktion der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte Israels. Aber auch die anderen Schriften gewähren Einblicke in die Geistesgeschichte Israels, die die Tora oder die Prophetenbücher in dieser Form und Dichte nicht bieten. So lässt sich etwa anhand des Hoheliedes ein Eindruck der althebräischen Liebeslyrik gewinnen. Aber auch das Sprüchebuch, das Hiobbuch und das Buch des Predigers eröffnen Horizonte althebräischen Geisteslebens, die sich aus anderen Textbereichen nur sehr fragmentarisch erschließen lassen: Im Sprüchebuch geht es um das in Kürzestform gebrachte Erfahrungswissen des alten Israel, im Hiobbuch um den vielschichtigen Kampf Hiobs mit Gott und Welt und im Predigerbuch um eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im Lichte der Flüchtigkeit des Seins. In der alttestamentlichen Wissenschaft fasst man diese drei Bücher zusammen und spricht von ihnen als der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, allerdings nicht ohne sich mehr und mehr darüber Rechenschaft abzulegen, dass auch viele andere Textbereiche der Hebräischen Bibel von weisheitlichem Denken durchdrungen sind und somit der Weisheitsliteratur zugerechnet werden müssen3.