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3. Die Geschichte der Erforschung der alttestamentlichen Weisheit Die Weisheitsforschung am Anfang des 20. Jh.
ОглавлениеHermann Gunkel
Die Erforschung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur steht zu Beginn der historischen Erforschung des Alten Testaments im Schatten der Arbeit am Pentateuch, an den Propheten und am Psalter. Dennoch haben die Weisheitsschriften, allen voran das Hiobbuch, schon früh das Interesse auf sich gezogen. In der ersten Auflage des großen Lexikons „Religion in Geschichte und Gegenwart“ von 1913 hat Hermann Gunkel den Artikel „Weisheitsdichtung im AT“ verfasst. Es ist nicht überraschend, dass Gunkels Artikel nach den ältesten Gattungen der Weisheit und ihrem ,Sitz im Leben‘ fragt, denn diesen formgeschichtlichen Fragehorizont erschloss Gunkel in gleicher Weise für die Propheten- und Psalmenauslegung. Als älteste weisheitliche Gattungen bestimmt Gunkel die Sprüche, wie sie in den Sammlungen des Sprüchebuches überliefert sind. Die Vorgeschichte dieser Sprüche sieht Gunkel im mündlichen Vortrag, wobei die ursprüngliche Einheit nach seiner Einschätzung der Einzelspruch ist, der eine metrische Zeile umfasst. Erst allmählich seien daraus größere Einheiten geworden, die immer mehr „zu den langatmigen, große Perioden bildenden Reden“68 geworden seien. Der ,Sitz im Leben‘ der Sprüche ist nach Gunkel in der Unterweisung des Unerfahrenen durch den Erfahrenen, in der Regel also der Belehrung des Jüngeren durch den Älteren zu suchen: „Solche Szene der Versammlung der Weisen ist zu denken auf der Gasse, auf den freien Plätzen, an der Straßenecke, im Tore“69 – selbst ein ,Lehrhaus‘ hält Gunkel für vorstellbar. Gunkel weist auf den internationalen Charakter der Weisheit hin und nimmt vor allem Ägypten als Herkunftsort zahlreicher Weisheitstraditionen an: „Dafür spricht besonders der internationale Ton, den die W. auch bei den Hebräern hat: hier tritt das eigentümlich Israelitische stark zurück, Hiob und die Sprüche reden niemals von Israel, und Hiob vermeidet es selbst, den Jahve-Namen zu nennen.“70 Interessant ist, dass Gunkel zwar Beziehungen zwischen der Weisheit und den Psalmen erkennt, mit Blick auf die Propheten und die Tora allerdings äußerst zurückhaltend urteilt und keine Einflüsse annehmen möchte.
Otto Eißfeldt
Im selben Jahr wie der Artikel Gunkels erscheint eine wichtige Arbeit, die in das Umfeld der Weisheitsforschung gehört: Unter dem Titel „Der Maschal im Alten Testament. Eine wortgeschichtliche Untersuchung nebst einer literargeschichtlichen Untersuchung der משל genannten Gattungen ,Volkssprichwort‘ und ,Spottlied‘“ legt Otto Eißfeldt eine Studie vor, die sich zum einen dem Lexem māšāl widmet, die zum anderen aber auch das ,Volkssprichwort‘ in den Blick nimmt. Besondere Beachtung verdient Eißfeldts These zur Entstehung der Sprüche: „Denn die Meschalim des Proverbienbuches und des Jesus Sirach sind offenbar zum großen Teil so entstanden, daß alte Volkssprichwörter durch einen antithetischen Gedanken, durch ein den Gedanken illustrierendes Bild oder auf andere Weise erweitert wurden und so die den späteren Meschalim charakteristische Form erhielten.“71 Eißfeldt versucht dementsprechend, noch hinter die vorliegende literarische Form der Sprüche hinaus zu gelangen, und hält die überlieferte schriftliche Form nicht für das ältest Erreichbare. Dabei nimmt er die Ursprünge der Sprüche nicht nur im Bereich der Mündlichkeit an, sondern umreißt auch genauer, was möglicherweise mündlich weitergegeben wurde, wie also genau ein althebräisches Sprichwort gelautet haben könnte. Damit sind Grundprobleme angerissen, die die Erforschung des Sprüchebuches bis heute beschäftigen.
Paul Humbert
In der zweiten Auflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ von 1931 verfasst Paul Humbert den Artikel „Weisheitsdichtung“. Bemerkenswert ist an diesem Beitrag die Einordnung der Trägergruppen der Weisheit: „Trotz der sehr dürftigen Angaben des A. T.s stellt sich klar heraus, daß es schon am Ende des 8. (Jes 29,14) und im 7. Jhd. (Jerem 8,9; 18,18) in Israel ,Weise‘ (ḥakāmim) gab, die eine scharf abgesonderte Klasse bildeten, gleich wie Priester und Propheten; ihre ihrem Charakter nach klassische Weisheit hatte autoritative Geltung.“72 Den Ursprung dieser Klasse von Weisen sieht Humbert in den königlichen Schreibern, für deren Ausbildung er von einer Schreiberschule ausgeht: „[G]leich wie in Aegypten ist somit der Ursprung der israelitischen W. an die Entstehung des Beamtentums gebunden.“73
Dass Ägypten bei Humbert eine bedeutende Rolle spielt, hängt neben anderen ägyptischen Texten vor allem mit der bereits erwähnten ,Lehre des Amen-em-ope‘ zusammen, deren Verhältnis zum Sprüchebuch zum einen der Ägyptologe Adolf Erman, zum anderen der Alttestamentler Hugo Greßmann 1924 ausführlich erörtert hatte74. Während Erman der Meinung war, der ägyptische Text sei mehr oder weniger ohne weitere Änderungen ins Hebräische übersetzt worden, stellte Greßmann heraus, dass in Spr 22,17–24,22 weniger eine Übersetzung, sondern eher eine Umarbeitung und Übertragung des ägyptischen Weisheitstextes vorliege.
1933 erscheinen dann zwei wichtige Arbeiten zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur. Zum einen legt Johannes Fichtner eine Monographie unter dem Titel „Die altorientalische Weisheit in ihrer israelitisch-jüdischen Ausprägung. Eine Studie zur Nationalisierung der Weisheit in Israel“ vor, zum anderen veröffentlicht Walther Zimmerli seinen Aufsatz „Zur Struktur der alttestamentlichen Weisheit“.
Johannes Fichtner
Fichtner gliedert seine Arbeit, für die er weite Teile des seinerzeit bekannten ägyptischen Vergleichsmaterials heranzieht, in drei Teile: In einem ersten Teil, in dem er sich den Inhalten der Weisheitslehre widmet, nimmt er die Weisheitslehre unter den Aspekten Lebensklugheit, Sittlichkeit und Frömmigkeit in den Blick. Die mit Lebensklugheit und Lebenserfahrung zusammenhängenden Weisheitstexte sieht Fichtner in enger Verbindung mit älteren ägyptischen Texten und hält daher die entsprechenden alttestamentlichen Texte, seiner Meinung nach Spr 25–27, für das älteste weisheitliche Material. Im Bereich der Sittlichkeit sieht Fichtner die Parallelen zwischen den ethischen Maximen der Weisheit und den Anforderungen prophetischer Texte oder der Tora, führt die Herkunft der ethischen Texte der alttestamentlichen Weisheit aber dennoch auf ägyptische Grundhaltungen zurück. Mit Blick auf das Glaubensleben weist Fichtner darauf hin, dass der Kult in der alttestamentlichen Weisheit keine bedeutende Rolle spiele, dass dagegen die Gottesfurcht in enger Verbindung mit der Weisheit stehe und die Weisheit daher ihrem Wesen nach zwar nicht kultisch sei, aber die geforderte Furcht und Demut Jahwe gegenüber sehr wohl eine theologisch-frömmigkeitsbezogene Dimension der Weisheit aufscheinen lasse. Die Bedeutung der Religion für die Weisheit hat Israel nach Fichtner bereits früh erkannt und expliziert, und dass Weisheit letztlich Religion ist, zeigt sich für Fichtner in besonderer Weise am Buch Hiob, in dem sich die rechte Weisheit in der richtigen Stellungnahme zu Gott zeige. In einem zweiten Teil fragt Fichtner in seiner Monographie nach Ziel, Motiv und Norm des weisen Handelns. Ziel weisen Handelns sei das Glück des Menschen: „Handeln und Erfolg stehen im Verhältnis von Ursache und Wirkung.“75 Daraus ergibt sich für Fichtner das Motiv weisen Handelns, das sich vom Endergebnis des Handelns her bestimmen lasse: Beweggrund weisen Handelns ist demnach der am Ende stehende Erfolg. Mit Blick auf die Norm weisen Handelns bestimmt Fichtner die Erfahrung und die eigene Einsicht in die Folgen des Tuns als leitende Größen; in religiös durchdrungenen Weisheitstexten werde aber mehr und mehr auch der Wille Gottes als Norm weisen Verhaltens benannt. Für Israel gehe mit dieser Entwicklung auch eine Vergesetzlichung einher, die letztlich Größen wie Jahwes Wohlgefallen und Jahwes Gesetz identifiziere76. Den dritten Teil seiner Studie widmet Fichtner der Gottesanschauung der Weisen. Aufgrund einer Analyse der Gottesbezeichnungen innerhalb der Weisheitsliteratur, die die allgemeinen Termini für Gott gegenüber dem Gottesnamen Jahwe vorziehe, kommt Fichtner zu einem ersten wichtigen Ergebnis: „Die nationale Eigenart und die spezifischen Eigentümlichkeiten der Einzelgötter treten hinter den allgemeinen Merkmalen des Göttlichen schlechthin zurück; man fühlt sich versucht, von monotheistischen Tendenzen, besser vielleicht von Ansätzen zu einem praktischen Monotheismus in der Wshtsfrömmigkeit des alten Orient zu reden.“77 Mit Blick auf das Gottesbild der Weisheitsliteratur erkennt Fichtner Parallelen zwischen den alttestamentlichen und den altorientalischen Konzeptionen: „[D]ie Geistigkeit und Transzendenz der Gottheit ist als selbstverständlich vorausgesetzt. Ebenso deutlich und allgemein anerkannt ist aber, daß dieser transzendente Gott das immanente Sein entscheidend bestimmt; denn Gott ist für den Weisen in erster Linie der vergeltende Gott, der Bürge für die Durchführung der Vergeltung, an die er glaubt.“78 Die Gerechtigkeit Gottes ist nach Fichtners Ansicht das Zentraldogma der lehrhaften israelitisch-jüdischen Weisheit. Genau dieses Gotteskonzept werde dann im Hiob- und im Predigerbuch problematisiert, da sich das Theodizeeproblem für Israel aufgrund seines Monotheismus schärfer stelle als für die Nachbarkulturen, in denen verschiedene Erfahrungen des Menschen mit dem Göttlichen auf das Agieren mehrerer Götter verteilt werden könnten, während in einem monotheistischen Gotteskonzept alle menschlichen Erfahrungen mit einem einzigen Gott verknüpft werden müssten. Es komme daher in späteren Weisheitstexten zu einer Erweiterung des Konzepts der Gerechtigkeit Gottes um die Barmherzigkeit und Milde Gottes. Am Ende seiner Studie betont Fichtner die eigenständige Rezeption weisheitlicher Konzepte des Alten Orients durch das antike Israel und erkennt darin „die gewaltige Assimilations- und Dissimilationskraft der Jahvereligion […], die in erstaunlich starkem Maße imstande war, fremde Stoffe in ihrem Sinn und Geist umzuprägen, oder, wenn sie sich einer solchen Umprägung widersetzten, sie abzustoßen.“79 Es ist das Verdienst Fichtners, als einer der Ersten eine umfangreiche vergleichende Untersuchung der altorientalischen und der alttestamentlichen Weisheit vorgenommen und dabei ein wesentliches Grundelement alttestamentlicher Weisheitsliteratur herausgearbeitet zu haben: Neben aller Verbundenheit der alttestamentlichen Weisheitstradition mit der altorientalischen Weisheit kann auf Grundlage eines Vergleichs der einzelnen Formen und Inhalte nicht übersehen werden, dass die Rezeption eigenständig erfolgte und von bestimmten Grundgegebenheiten der Religion des antiken Israel durchdrungen wurde.
Walther Zimmerli
Zimmerlis Beitrag aus demselben Jahr ist zwar kürzer, aber nicht weniger wegweisend als Fichtners Arbeit. Wenn Zimmerli nach der Struktur der alttestamentlichen Weisheit fragt, so hat er dabei zunächst und in erster Linie das Sprüchebuch im Blick, in dem er die „Normalform der Weisheitslehre“80 repräsentiert sieht. Zimmerli erkennt daneben in Formulierungen wie Pred 1,3a Grundfragen der Weisheit:
Welchen Gewinn/Welches Ergebnis/Welchen Vorteil81 hat der Mensch
bei aller seiner Mühe, mit der er sich müht unter der Sonne?
Hier werde eine anthropologische oder gar anthropozentrische Grundlinie greifbar. Zimmerli prüft nun, ob diese anthropozentrische Grundstruktur von einem Wissen um eine letzte Bindung des Menschen an seinen Schöpfer geprägt ist oder ob es hier um eine „vom einzelnen Menschen ausgehende, letztlich an ihm allein orientierte Frage“82 geht. Zentral ist für Zimmerli dabei Folgendes: Ist die alttestamentliche Weisheit theonom rückgebunden oder handelt es sich bei ihr um ein vollkommen selbstständiges Phänomen? Zunächst unterscheidet Zimmerli innerhalb des Sprüchebuches die Form des Mahnwortes mit direkter Anrede an den Menschen von einem reinen Aussagewort. Die Mahnworte mit ihrer direkten Wendung ad hominem hält Zimmerli für eine spätere Stufe, die sich aus den älteren Aussageworten entwickelt habe, denen in den meisten Fällen eine unausgesprochene Mahnung innewohne, die in den vorliegenden Mahnworten lediglich expliziert werde. Daraus zieht Zimmerli einen gewichtigen Schluss: „Von Weisheitsgebot im strengen Sinn kann nicht geredet werden. Der autoritäre Charakter fehlt der Weisheitsmahnung, ihre Legitimation geschieht nicht durch Berufung auf irgendeine Autorität.“83 Während im Gebot der unbedingte Gehorsam gefordert werde, gebe die Weisheit Rat(schläge): „Hier zielt alles darauf ab, daß der Mensch in Freiheit die Beziehung zum inneren Sinn des ,Gebotes‘ findet.“84 Nach Zimmerlis Auffassung wird in der Weisheit das konkrete Handeln letztlich freigegeben. Als Beispiel verweist er dabei auf Spr 26,4 und Spr 26,5:
4 Antworte dem Dummen nicht nach seiner Torheit,
damit du nicht wirst wie er.
5 Antworte dem Dummen nach seiner Torheit,
damit er sich nicht selbst für weise hält.
Letztlich muss der Mensch in der konkreten Situation entscheiden, welchen Ratschlag er befolgen wird. Derartig paradoxe Strukturen weisen letztlich nach Zimmerli auf einen Mangel an Autorität innerhalb des Weisheitsdenkens hin. Im weiteren Verlauf seines Beitrags kommt Zimmerli auf den Tod als einen Grenzpunkt weisheitlichen Denkens zu sprechen. Gerade der Tod ist seiner Meinung nach der Ort, an dem die weisheitliche Frage , Wie sichere ich die Grundlagen meines Lebens?‘ in sich zusammenbricht und die Weisheit folglich keine Antworten mehr geben kann. Problematisiert wird dies im Predigerbuch, dessen Tendenz Zimmerli in seinem Aufsatz als ,resigniert-gebrochen‘ beschreibt85. Die Weisheit des Sprüchebuches lässt nach Zimmerli den Tod nur so weit ins Blickfeld geraten, „als er der Berechnung zugänglich ist. Nur vom ,Wann‘ des Todes redet der Weise, das ,Daß‘ des Todes wird überdeckt.“86 Die große Bedrohung ist und bleibt aber das Unglück, der vorzeitige Tod, denn das menschliche Glück liegt in einem langen Leben begründet. Der bemerkenswerte Gedanke, den Zimmerli in seinem Beitrag auszuführen versucht, ist der einer anthropozentrischen Weisheit, die Gottes Gebot und andere theonome Rückbindungen gewissermaßen außen vor lässt und allein aus sich selbst heraus wirkt. Dass in der vorliegenden Gestalt der alttestamentlichen Weisheitsbücher eine theologisierte Weisheit vorliege, die die Weisung Jahwes in seiner Tora letztlich mit der Weisheit identifiziere, dürfe nicht den Blick dafür verstellen, dass dies nicht von allem Anfang weisheitlichen Denkens an der Fall gewesen sein könnte. Zimmerlis Beitrag ist in diesem Zusammenhang einer der ersten, der diese theologie- und religionsgeschichtliche Frage aufwirft und behandelt.
Gerhard von Rad
Dass Gerhard von Rad in seiner „Theologie des Alten Testaments“ – diese Gesamtdarstellung aus der Mitte des 20. Jh. sei exemplarisch herausgegriffen – andere Schwerpunkte setzen würde, war zu erwarten. Im ersten Band dieses Werkes, der sich eigentlich der Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels widmet, findet sich ein Schlussabschnitt, in dem unter der Überschrift „Israel vor Jahwe (Die Antwort Israels)“ von Rad sowohl die Psalmen als auch die Weisheit Israels behandelt. Mit Blick auf die Erfahrungsweisheit Israels unterscheidet von Rad den zentralen Bereich der Weisheit, nämlich das Alltagsleben, von anderen Lebensbereichen, wie etwa dem des Kultes, in dem Gott, Glaube und Offenbarung eine wichtige Rolle spielen: „Der von der Weisheit Belehrte war Glied der Kultgemeinde, sein Leben stand unter mannigfaltigen kultischen Bindungen, er hörte im Tempel an den großen Wallfahrtsfesten die gebietende oder tröstende Stimme Jahwes; sein Leben in dieser – d.h. in kultischer – Beziehung in Ordnung zu bringen, lag völlig außerhalb der Kompetenz des Weisheitslehrers. Aber da war ja noch ein weites Gebiet, das unausgefüllt blieb, das vom Kultus aus nicht geordnet wurde, ein Gebiet, in dem weder die apodiktischen Gebote in ihrer Eigenschaft als bekenntnishafte Enthaltungsvorschriften und noch viel weniger das konditionale Recht dem Menschen eine Weisung geben konnten, weil ihm überhaupt kein absolutes Gebot helfen konnte (es sei denn eine schauderhafte gesetzliche Kasuistik), und doch mußten in ihm täglich so viele Entscheidungen fallen. Es ist das Gebiet des gewöhnlichsten Alltags, in dem es ja nicht immer um Mord oder Ehebruch oder Diebstahl ging, sondern der randvoll war von Fragen anderer Art. Solche Fragen stellte ja schon der simpelste Umgang mit anderen Menschen, mit klugen und törichten, mit fremden und zudringlichen, und vor allem der mit Frauen. Aber auch mit dem Geld mußte man umzugehen lernen und mit seinem Körper und – wiederum das Schwerste: mit seiner Zunge, die ja Tod und Leben in ihrer Gewalt hat (Spr. 18,21).“87 Der Weisheitslehrer wie auch der Belehrte lebten im Kontext eines vom Kult und von der Heilsgeschichte geprägten Volkes, so dass die Fundierung der Weisheit im Göttlichen letztlich unbezweifelbar sei – und daher undiskutiert bleibe. Die theologisch undurchdrungene Weisheit erkennt von Rad als einen Hinweis auf ein ungebrochenes Verhältnis zum Glaubensleben. Glaubensfragen stünden für die ältere Weisheit am Rand, sie arbeite mit dem gesunden Menschenverstand – aber nicht in Abgrenzung vom Glauben, sondern in dem Wissen um ihren sehr praktischen Radius, in dem sie sich bewege. Erst in späterer Zeit sei die Weisheit von der Tora durchdrungen und mit ihr verbunden worden. Wie problematisch das Verhältnis zwischen Weisheit und Glauben aber werden könne, zeigt sich nach von Rad am Predigerbuch, das vollkommen geschichtslos denke; in ihm „hat die Weisheit die letzte Berührung mit dem alten heilsgeschichtlichen Denken Israels verloren und ist – ganz folgerichtig – in das gemeinorientalische zyklische Denken zurückgefallen, nur daß sich dieses Kreislaufdenken bei Kohelet in völlig säkularer Form ausspricht.“88 Nach von Rad stehen wir hier am äußeren Rand des Jahweglaubens, die Lebenshaltung sei eine tragische: „Des Menschen Leben ist ein Leben, über das verfügt wird, aber der Mensch kann mit der dunklen göttlichen Macht, der er ausgeliefert ist, nicht Schritt halten. Wie er sich auch müht, er kann an dem Versuch, mit dem Walten dieses Gottes in Einklang zu kommen, immer nur scheitern.“89 Das klingt sehr düster, ist aber nicht die letzte Äußerung von Rads zur Weisheit Israels.