Читать книгу Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur - Markus Saur - Страница 9
Die Weisheit im Kontext der Theologie
ОглавлениеDie alttestamentliche Weisheitsliteratur eröffnet nicht mehr als einen kleinen Einblick in ein Phänomen, das sich in vielen Kulturen und Epochen in immer wieder anderer und letztlich doch vergleichbarer Form findet. Was hier im Alten Testament als Literatur vorliegt, ist ein Zeugnis für Entwicklungen der altisraelitischen Geistesgeschichte, das in der Theologie lange Zeit ein Schattendasein gefristet hat.
Religionsgeschichtliche Schule
Im 19. und beginnenden 20. Jh. erlebte die Wissenschaft vom Alten Testament einen großen Aufschwung, als mit den Entdeckungen in Mesopotamien eine außerordentlich bedeutende Kultur der alten Welt wieder zugänglich wurde. Die Entzifferung der Keilschrift, in der die babylonischen und assyrischen Texte aus fast drei Jahrtausenden abgefasst sind, war nach der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen ein insofern einschneidendes Ereignis, als nun für die Einordnung des antiken Israel in seine altorientalische Umwelt nicht mehr allein alttestamentliche und griechisch-römische Zeugen zur Verfügung standen, die in den meisten Fällen überaus tendenziösen Charakter haben und bei denen mehr als zweifelhaft war, ob das von ihnen gezeichnete Bild der mesopotamischen Kultur auch nur ansatzweise den historischen Gegebenheiten entsprach; es war nun vielmehr möglich, einen für die kulturgeschichtlichen Ereignisse in Syrien-Palästina überaus bedeutenden Referenzraum aus seinen eigenen Texten zu erschließen und damit einen für den kulturgeschichtlichen Vergleich methodisch weitaus sichereren Boden zu betreten, als das bisher möglich war. Genau diese Phase gipfelte in der Arbeit der sogenannten ,Religionsgeschichtlichen Schule‘, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. unter dem Eindruck der neuen Entdeckungen, denen sich mit den Texten aus Ugarit seit 1929 weitere Funde hinzugesellten, die Rekonstruktion der Kultur- und Geistesgeschichte des antiken Israel vor dem Hintergrund seiner Einbettung in den Alten Orient zur Aufgabe gemacht hatte.
Dass die alttestamentliche Weisheit aufgrund ihrer augenfälligen Verbindungen zur altorientalischen Kultur dabei ein wichtiges Forschungs- und Aufgabenfeld war, liegt auf der Hand – wenn auch die kulturgeschichtliche Einordnung der Schöpfungstexte oder der Sintflutgeschichte der Genesis, zu denen sich in Mesopotamien Parallelüberlieferungen finden ließen, einen weitaus größeren Raum einnahm und auch höhere Wellen schlug, da es hier um die entscheidenden Grundüberlieferungen ging, die man nicht der historischen Relativierung preisgeben wollte8.
Dialektische Theologie
Zur selben Zeit vollzog sich in der Theologie eine Wende weg vom historischen Denken hin zur Dogmatik, die durch Karl Barths Buch zum Römerbrief 9 eingeleitet und von einer Reihe junger Theologen vorangebracht wurde – man spricht heute mit Blick auf diesen Aufbruch von der ,Dialektischen Theologie‘10. Einer der Impulse dieses Aufbruchs lag in der Betonung des Abstands zwischen Gott und Mensch, in der Hervorhebung der Tatsache, dass Gott der ganz andere sei, der sich menschlichem Zugriff entziehe und grundsätzlich von ihm unterschieden sei.
Karl Barth – Hugo Greßmann
Barths Exegese fand allerdings unter den Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule scharfe Kritiker. So urteilte etwa der Berliner Alttestamentler Hugo Greßmann in einer Streitsituation, die sich 1926 um die Frage nach dem Sündenfall und seiner Historizität entzündet hatte: „Aber wer wie Barth den Römerbrief auslegt, indem er mit Bewußtsein von den religiösen Bedürfnissen des gegenwärtigen Menschen ausgeht und auf die Gegenwart wirken will, der lehrt uns nicht den Paulus kennen, wie er wirklich war, sondern den Paulus, wie er nach Barth hätte sein müssen, der macht aus einem Brief des Paulus an die Römer einen Brief Barths an seine Gemeinde. Diese Art der Auslegung ist, vom Standpunkt der wissenschaftlichen Exegese aus betrachtet, eine Fälschung der Geschichte. Hier ist uns kein Wort zu scharf; hier müssen wir im sittlichen Zorn reden über eine Art von Theologie, die das Wesen der geschichtlichen Wissenschaft völlig verkennt.“11 Die Haltung Barths zu Greßmann ließ an Schärfe nichts vermissen, wie man in einem Privatbrief Barths an Martin Rade nachlesen kann: „Greßmann ist kein Theologe, in keinem Sinn, und mit demselben ,sittlichen Zorn‘, mit dem er sich als bewusst heidnischer Geschichtswissenschaftler über meine Exegese aufregt, bekenne ich, daß ich an seine bona fides, sich Theologe nennen zu dürfen, […] nicht glaube. Es ist eine Lüge, sich Theologe zu nennen und in einer theologischen Fakultät zu sitzen, wenn man wie er für theologische Fragen kein Verständnis und für theologische Aufgaben kein Interesse, sondern seine ganze Liebe als Wissenschaftler nur bei der Geschichtswissenschaft hat. Sunt certi denique fines, und die sind bei Greßmann überschritten.“12 Für Barth war Greßmann ein klassischer Vertreter einer sich im Geschichtlichen erschöpfenden Theologie – man hätte, so Barth in dem Brief an Rade, „ebensogut mit einem Holzpflock diskutieren“ können „wie mit diesem Mann, der über die Frage: Was ist Theologie? noch keine fünf Minuten nachzudenken für nötig gehalten“13 habe.
Trotz dieser Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der älteren Religionsgeschichtlichen Schule und den Repräsentanten der neueren Dialektischen Theologie: Die kategoriale Unterscheidung von Gott und Mensch hat ihre Wirkung auf die exegetischen Disziplinen letztlich nicht verfehlt. Es ging nun nicht mehr um die Frage, wie die biblischen Texte mit ihrer Umwelt verbunden waren, in welcher Weise sie ein Ergebnis kultureller Austauschprozesse darstellen und wie weit das antike Israel eine syropalästinische Kultur neben anderen war – vor allem die dogmatischen Disziplinen entfernten sich deutlich von den Fragestellungen der Religionsgeschichtlichen Schule und suchten nun nach dem Einzigartigen, dem Singulären, gewissermaßen den Alleinstellungsmerkmalen des antiken Israel wie auch des frühen Christentums. Die Konzentration auf die Heilsgeschichte Jahwes mit seinem Volk ließ dabei andere Themen wie etwa die Schöpfung, aber auch die Weisheit in den Hintergrund treten; wo solche Themen weiter bearbeitet wurden, betonte man vor allem die Eigenständigkeit der alttestamentlichen Überlieferung gegenüber den altorientalischen Parallelüberlieferungen. Natürlich haben sich die exegetischen Disziplinen auch unter dem Eindruck der Barth’schen Wort-Gottes-Theologie niemals vom historischen Paradigma und der kritischen Exegese verabschiedet, dennoch mussten bestimmte Themen erst wiederentdeckt werden, als neue Themen auch die Theologie als ganze bestimmten. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die alttestamentliche Weisheit, zunächst die des Sprüchebuches, aber bald auch die des Hiob- und des Predigerbuches, in einer Phase wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde, als Fragen des Dialogs und des Austauschs, aber auch Fragen nach der Ordnung bzw. Unordnung der Welt akut wurden. Man kann bestimmte Entwicklungen der Theologie durchaus aus sich heraus verstehen – in den meisten Fällen ist es aber durchaus so, dass Theologie, Kirche und Gesellschaft in einem sich wechselseitig befruchtenden Prozess stehen, innerhalb dessen keine der Größen sich vollständig abschotten kann. Genau das führt dann dazu, dass bestimmte Moden ihre Einflüsse entfalten können und wohl auch müssen, denn Theologie ereignet sich nicht in einem Biotop, sondern in der gegenwärtigen Welt und Wirklichkeit, und sie muss daher Fragen, die in der Gesellschaft aufbrechen, aufgreifen und zu ihren Themen machen, wenn sie gestaltend in und an der Gesellschaft mitwirken will. Dass die alttestamentliche Weisheitsliteratur für die Theologie eine herausragende Bedeutung hat, steht außer Frage. Worin diese Bedeutung liegt, soll nach einem Durchgang durch die weisheitlichen Schriften des alten Israel am Ende in einem Schlusskapitel erörtert werden.