Читать книгу Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur - Markus Saur - Страница 16
Neue Ansätze der Weisheitsforschung seit 1960
ОглавлениеSpätestens Mitte der 1960er Jahre setzt ein neues Interesse an der Weisheitsliteratur ein, das sich zunächst sehr eng am Sprüchebuch orientiert. An dieser Stelle sollen nur einige Werke exemplarisch herausgegriffen werden.
Hartmut Gese
Bereits 1958 erscheint unter dem Titel „Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit. Studien zu den Sprüchen Salomos und zu dem Buche Hiob“ die Habilitationsschrift von Hartmut Gese. Ganz in den Spuren Fichtners vergleicht Gese die ägyptische Weisheitslehre mit der alten israelitischen Weisheit und kommt zu dem Ergebnis, dass beide gleichermaßen von einem umfassenden Ordnungsdenken bestimmt sind, demzufolge sich Tun und Ergehen entsprechen. Neu ist Geses Aufarbeitung der Hiobthematik, die er vor dem Hintergrund der sumerisch-akkadischen Literatur vornimmt und mit der er das Hiobbuch in die Literaturgeschichte des Alten Orients einordnet.
Hans Heinrich Schmid
Wie Fichtner und Gese arbeitet auch Hans Heinrich Schmid komparatistisch, wenn er 1966 unter dem Titel „Wesen und Geschichte der Weisheit. Eine Untersuchung zur altorientalischen und israelitischen Weisheitsliteratur“ in drei Hauptteilen die ägyptischen Weisheitstexte, die mesopotamische Weisheitsliteratur und die Weisheit Israels bearbeitet und für alle drei Kulturräume gewissermaßen eine Geschichte der Weisheit entwirft. Damit liegt eine Studie vor, die das seinerzeit bekannte Material möglichst umfassend darstellt und strukturiert.
Christa Kayatz
Ebenfalls 1966 erscheint Christa Kayatz’ Dissertation unter dem Titel „Studien zu Proverbien 1–9. Eine form- und motivgeschichtliche Untersuchung unter Einbeziehung ägyptischen Vergleichsmaterials“, in der sie form- und motivgeschichtlich die Parallelen zwischen israelitischer und ägyptischer Weisheit untersucht. Nach Kayatz sind die alttestamentlichen Aussagen über die Weisheit in Spr 1–9 von der ägyptischen macat-Konzeption geprägt: Beide – macat wie ḥokmāh bzw. ḥokmōt – seien präexistent gedacht und würden als Götterkinder dargestellt, beide spendeten Leben und Schutz und beide seien im Regiment des Königs wirksam. Für Kayatz – wie für ihren Lehrer Gerhard von Rad – ist dabei vor allem wichtig, dass sich aufgrund der angenommenen ägyptischen Parallelen zu Spr 1–9 der These widersprechen lässt, die Weisheitsreden des Sprüchebuches seien von griechischem Denken geprägt und daher nachexilisch zu datieren90. Wie von Rad geht auch Kayatz von einer ,salomonischen Aufklärung‘ im 10. Jh. v. Chr. aus, in deren Verlauf es bereits ein rationales Erkenntnisstreben nach den Ordnungsprinzipien des Weltganzen gegeben habe, deren Grundlage der Zusammenhang von Erkenntnis und Gottesfurcht bilde.
Hans-Jürgen Hermisson
Einem weiteren Schüler von Rads, Hans-Jürgen Hermisson, verdankt die Weisheitsforschung die Monographie „Studien zur israelitischen Spruchweisheit“, die Hermisson als Habilitationsschrift vorlegte. Hermisson vertritt in seiner Arbeit die These, dass die Spruchweisheit ihre Entstehung dem Königshof verdankt und seit ihren Anfängen schriftlich vorlag. Er widerspricht damit der Auffassung, die Sprüche entstammten einer allgemeinen volkstümlichen Weisheit, die ihren Ort in den Sippen und Familien gehabt habe; vielmehr sei davon auszugehen, dass im Sprüchebuch eine ,Bildungsweisheit‘ vorliege. Hermisson muss in diesem Zusammenhang annehmen, dass es im antiken Israel ein Schulwesen gab: „Jedenfalls sind die Lehrer und Schüler aus diesem Bereich die Träger der Bildungsweisheit, wie sie sich auch in den Proverbiensammlungen darstellt. Darüber hinaus erklären sich die weisheitlichen Einflüsse in verschiedenen Werken der alttestamentlichen Literatur am besten so, daß die Verfasser dieser Werke in den Weisheitsschulen ausgebildet wurden oder doch in engere Berührung mit der Schule und ihrer Weisheit gekommen sind.“91 Diese Einordnung ist aufgrund ihrer Plastizität und Konkretion bestechend; doch setzt eine derart vorgestellte Weisheitsschule wohl gesellschaftliche Organisationsformen voraus, die vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse zu den politischen und verwaltungstechnischen Verhältnissen im 10. Jh. v. Chr. so nicht denkbar sind92. Das Konzept Hermissons geht – wie auch dasjenige Kayatz’ – zu sehr von einer kulturellen Gesamtsituation im 10. Jh. v. Chr. aus, die sich so nicht mehr annehmen lässt. Die Verhältnisse in Palästina im Allgemeinen und in Jerusalem im Besonderen waren zu dieser Zeit wohl simpler und weniger weit entwickelt, als die sehr viel später entstandenen alttestamentlichen Texte, die von dieser Zeit berichten, glauben machen wollen93.
Gerhard von Rad
Das gilt teilweise auch für das Werk Gerhard von Rads, das er 1970 unter dem Titel „Weisheit in Israel“ vorlegte und in das viele Einsichten seiner Schüler einflossen. Unübertroffen ist allerdings bis heute die sprachliche Kunst von Rads, die seine Darstellung des Stoffes tief durchdringt und den theologischen wie auch den literarischen Meister erkennen lässt. Zu Beginn weist von Rad auf die Besonderheit des Weisheitsdiskurses hin: „Es ist eine Tatsache, daß Israel auch in seinen theoretischen Reflexionen keineswegs mit einem einigermaßen präzisen Begriffsapparat arbeitet. Es war an der Herausarbeitung ordentlich definierter Begriffe erstaunlich wenig interessiert, denn es verfügte über andere Möglichkeiten, eine Aussage zu präzisieren, z.B. den Parallelismus membrorum, der jeden redlichen Begriffsanalytiker zur Verzweiflung bringen kann.“94 Ort und Träger der Lehrüberlieferungen sind für von Rad – im Anschluss an Hermisson – der Königshof und sein Schulwesen. Erkenntnisbindende literarische Formen sind nach von Rad der (Kunst)Spruch, aber auch die Zahlensprüche, mit denen möglicherweise auch das Rätsel als weisheitliche Kunstform zusammenhängt; dazu kommen Lehrdichtungen, Dialoge, Lehrerzählungen und weisheitliche Gebete. Das Ethos der Sprüche bestimmt von Rad als hintergründig theonom, da Jahwe in den Bewegungen der Wirklichkeit ordnend wirkt. Da die Beobachtung der Welt zeige, dass die Phänomene als solche immer mehrdeutig seien, versuche die Weisheit in der Form des Spruches, Ähnliches zusammenzustellen; Kontingenz wird damit in der Weisheit durch Beobachtung eingegrenzt. Trotz dieses Fortschritts in der Bewältigung von Kontingenz bleiben Welt und Wirklichkeit am Ende allerdings unverfügbar – nicht zuletzt wegen der Bindung des Menschen an die Zeit und ihren Verlauf.
Selbstoffenbarung der Schöpfung
Unter der Überschrift „Die Selbstoffenbarung der Schöpfung“95 überschreitet der eigentlich in Kategorien der Heilsgeschichte denkende Theologe von Rad seine bisherigen theologischen Überzeugungen und kommt vor dem Hintergrund der Weisheitsreden des Sprüchebuches, in denen die Weisheit als eine Zeugin der Schöpfung mit göttlicher Autorität zu sich selber ruft, und vor dem Hintergrund der Gottesreden des Hiobbuches, in denen die Schöpfung als Zeuge für Jahwe aufgerufen wird, zu neuen Einsichten: „Die Schöpfung hat nicht nur ein Sein, sie entläßt auch Wahrheit!“96 Hier blitzen Splitter einer Offenbarungstheologie auf, die nicht geschichtlich, sondern schöpfungstheologisch fundiert ist. Bemerkenswert sind die sich aus diesen Einsichten ergebenden Konsequenzen, die von Rad zieht: „Der Adressat dieser Offenbarung ist also nicht das durch ein Bundesverhältnis zu Jahwe gerufene Israel – Israel als eine theologische Größe ist hier nirgends sichtbar –, sondern der Mensch schlechthin (vgl. Prov 8,15f).“97
Gleichermaßen bemerkenswert ist von Rads Bestimmung des Verhältnisses zwischen Weisheit und Kult, das er in seiner „Theologie des Alten Testaments“ noch als ein Nebeneinander verstanden hatte98. Mit Blick auf dieses Verhältnis heißt es nun: „Die Weisen waren der Welt des kultischen Handelns geistig entwachsen.“99 Am Ende seiner Darstellung der Weisheit Israels betrachtet von Rad Hiob und Kohelet als Außenseiter weisheitlichen Denkens. Beide stünden am Rande, so dass die Rede von einer generellen Krise der Weisheit nicht gerechtfertigt sei. Kohelets Denken kreist nach von Rad um drei Grundeinsichten: Erstens führe die rationale Durchforschung des Lebens zu nichts; zweitens bestimme Gott alles; und drittens könne der Mensch Gottes Satzungen nicht erkennen. Die Welt als ein Draußen erschließe sich Kohelet in keiner Weise. Im Gegensatz zu den Außenseitern Hiob und Kohelet vermittele Jesus Sirach um 180 v. Chr. in seinem Buch zwischen Weisheit und Tora, indem er beide miteinander verbinde; Glaube werde hier als ein Teil der Bildung verstanden.
In seiner Schlussbetrachtung kommt von Rad auf die Schöpfung zurück: „Die Schöpfung – der Überzeugung waren die Lehrer – hat für den Menschen eine Aussage. Es ist durchaus nicht unmöglich, in ihren Spuren zu lesen.“100
In den weisheitlichen Texten erkennt von Rad grundsätzlich einen Humanisierungswillen der Weisheitslehrer, die überaus pragmatisch eingestellt gewesen seien. In dem Anruf der Weisheit aus Spr8 gehe es dagegen um den ganzen Menschen: „Die Stimme, die so redete, war auch nicht die irgendeines Lehrers; es war die Stimme der Weltordnung selbst, die den Menschen zu sich ruft und ihm alle erdenklichen Erfüllungen anbietet.“101
Von Rads Weisheitsbuch hat etwas ganz und gar betörend und verführerisch Suggestives, dem man sich kaum entziehen kann. Man spürt jeder Zeile ab, dass hier ein Kenner der Materie am Ende seines Lebens tastend etwas Neues sucht. Doch bei aller Faszination, die von Rads dezente Wende von der Heilsgeschichte hin zur Schöpfungstheologie auslöst, darf man nicht übersehen, wie weit von Rad sich von jeder literarischen Rekonstruktion der Weisheitsschriften dispensiert und vieles nebeneinander stellt, das nicht unbedingt zueinander gehört; die systematisch-theologische Durchdringung erfolgt an mancher Stelle zu Lasten der historischen Verortung der Texte, die möglicherweise doch Konkreteres zum Ausdruck bringen, als es von Rads Darstellung vermuten lässt.
Bernhard Lang
Mit Blick auf die Weisheitsreden des Sprüchebuches hat Bernhard Lang mit seiner 1975 erschienenen Dissertation „Frau Weisheit. Deutung einer biblischen Gestalt“ exegetisches Neuland betreten. Wie Hermisson geht auch Lang von der Existenz eines israelitischen Schulwesens aus und deutet die Weisheitsfigur aus Spr 1–9 in diesem Kontext. Lang verweist darauf, dass in der Antike überragende Menschen als Gott bezeichnet werden konnten; so wird seiner Meinung nach auch die Weisheit in Spr8 mit göttlichen Attributen gezeichnet, ohne dabei allerdings jemals zu einer Göttin im eigentlichen Sinn zu werden. Die Einordnung der Weisheit als einer quasi-göttlichen Gestalt ist nach Lang vielmehr eine didaktische Hilfskonstruktion, ein Requisit didaktischer Poesie innerhalb des israelitischen Bildungswesens102.
Claus Westermann und Friedemann Golka
Die Deutung der Sprüche vor dem Hintergrund einer vermuteten israelitischen Bildungsweisheit hat bereits nach Erscheinen der Arbeit Hermissons Widerspruch hervorgerufen. Am deutlichsten ist das bei Claus Westermann und seinem Schüler Friedemann Golka zu greifen. Westermann hat seine Position bereits 1971 in einem Aufsatz „Weisheit im Sprichwort“ skizziert und dann 1990 in einer Monographie unter dem Titel „Wurzeln der Weisheit. Die ältesten Sprüche Israels und anderer Völker“ entfaltet, wobei er dabei auf die Arbeiten Golkas zurückgreifen konnte, der 1983 den Aufsatz „Die israelitische Weisheitsschule oder ,Des Kaisers neue Kleider‘“ und 1986 den Aufsatz „Die Königs- und Hofsprüche und der Ursprung der israelitischen Weisheit“ vorlegte. Die Grundposition Westermanns ist bereits in dem Beitrag von 1971 greifbar: „Das Sprichwort hat seinen Ort je in der Situation, aus der es geprägt, in die hinein es gesagt wird; es kann also ursprünglich nur als einzelnes, als je ein Wort gesprochen werden. Wo es in der Mehrzahl, wo es in Sammlungen begegnet, hat das Sprichwort seinen ursprünglichen Ort, seinen ursprünglichen Sitz im Leben nicht mehr.“103 Das Phänomen der Sammlung von Sprichwörtern sei ein sekundäres, dem die primäre Entstehung und Tradierung eines Sprichwortes vorausgehen, die ihren Ort am ehesten in schriftlosen Kreisen haben. Bemerkenswert ist, dass Westermann als Vergleichsmaterial afrikanische Stammessprichwörter anführt, die er mit den von ihm angenommenen Grundsammlungen des Sprüchebuches vergleicht, und damit die These begründet, der Grundstock der Sprüche reiche zurück „bis in die Vorgeschichte und Frühgeschichte der Stämme. Von dieser vorpolitischen und vorgeschichtlichen Frühzeit her haben sie in der primären Traditionsstufe mündlich in den kleinen Gemeinschaften von Generation zur Generation weitergelebt.“104 Nach Westermann sind diese frühen Formen weisheitlicher Bemühung letztlich nicht theologisch interessiert, sie bilden vielmehr Vorläufer dessen, was späteres wissenschaftliches, vor allem empirisches Arbeiten des Menschen ausmache, nämlich Beobachten, Zusammenfassen und Einordnen. Golka setzt sich in seinem Aufsatz von 1983 mit der Frage nach einer israelitischen Weisheitsschule auseinander und verweist auf die durchgängig fehlenden Belege, sowohl in literarischer als auch in archäologischer Hinsicht. Golka geht aufgrund dieser Quellenlage davon aus, dass Bildung im antiken Israel in einem ,Famulussystem‘ weitergegeben wurde, das einem Meister-Lehrling-Verhältnis entspreche und seinen Ort nicht in festen Bildungsinstitutionen gehabt habe105. Bemerkenswert sind die polemischen Schlussüberlegungen Golkas, der Hermisson und von Rad vorwirft, sie seien aufgrund ihres (groß)bürgerlichen Hintergrundes nicht einmal bereit, sich vorzustellen, dass so etwas wie Weisheit auch im Volk gepflegt worden sein könne106. 1986 befasst sich Golka dann mit der Frage der Herkunft der Spruchweisheit; er bestreitet dabei nicht, dass die Sammlung und Weiterentwicklung der Sprüche ihren Ort am Hof hatten – damit sei aber die Frage des Ursprungs noch nicht geklärt. Wie Westermann zitiert auch Golka afrikanisches Vergleichsmaterial, vor allem königs- und hofkritische Sprüche, und schließt mit Blick auf ähnliche Sprichwörter aus dem Sprüchebuch: „[D]ie Perspektive der Sprüche ist die des kleinen Mannes, und nicht die der Höflinge.“107 Golka zieht daraus weitere Konsequenzen, wenn er fragt: „Sind in Prov. nur die Erfahrungen der Schöngeister einer bürgerlichen Oberschicht oder des Hofes (Bildungselite) rezipiert worden, oder spricht das Buch auch von der Gottes- und Lebenserfahrung kleiner Leute? Hat auch diese Schicht sich in den Kanon der hebräischen Bibel einbringen können, wenn vielleicht auch nur – aber doch wohl bewußt! – unter dem Schutz salomonischer Pseudonymität?“108 Damit wird eines der Grundprobleme exegetischer Arbeit aufgeworfen, denn dass die überlieferten Texte innerhalb des Kanons letztlich von bestimmten Herrschaftsklassen autorisierte Literatur sind, kann man nicht ausblenden; es ist aber doch gerade anhand des Sprüchebuches gut denkbar, dass hinter dieser Literatur konkrete Alltagserfahrungen stecken, die nicht nur und nicht in erster Linie in gewissen Bildungszirkeln gemacht wurden, sondern die ihren ursprünglichen Sitz im Erfahrungsschatz des Volkes hatten. Die sozialgeschichtliche Exegese macht darauf seit einigen Jahrzehnten an verschiedenen Textbereichen aufmerksam109. Golka wie auch Westermann haben diesen Ansatz auf die Erforschung der ältesten Weisheit Israels übertragen und damit nachdrücklich auf das Problem der sozialgeschichtlichen Verankerung der alttestamentlichen Weisheit aufmerksam gemacht110.