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DIE KUNST ZU GENIESSEN ODER:
WOVON IST DIE REDE?

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Können wir noch genießen? Das ist eine höchstpersönliche Frage. Denn ob geistig, körperlich oder kulinarisch – genießen ist immer individuell. Für jeden bedeutet es etwas anderes und jeder braucht etwas anderes. Erlebt der eine Glücksgefühle, wenn er auf das Meer schaut und ein Glas Wein trinkt, ist für den Anderen ein zwei-Stunden-Lauf pure Freude oder für den nächsten stundenlanges Zeitunglesen oder nur für eine Minute die Sonnenstrahlen auf der Haut spüren. Manche holen sich aus dem Alltag die Kleinigkeiten heraus und andere laufen an ihnen vorbei. Ist die Fähigkeit für das bewusste Wahrnehmen und Innehalten angeboren? Oder können wir sie trainieren? Müssen wir sie gar trainieren? Nur an den Genen kann es nicht liegen. Es gibt Kinder, die als kleine Feinspitze auf die Welt kommen und deren Geschwister eher nach dem Motto »Hauptsache von überall viel« leben. Die Forschung ist sich noch nicht ganz im Klaren, ob und welche Prägung darüber entscheidet. Dagegen sorgt das Savoir-vivre eines Landes jedenfalls für eine entsprechende Grundtönung.

Savoir-vivre, wörtlich, das »Verstehen zu leben«, wird in Frankreich zwar nur für »gute Umgangsformen« verwendet, im Deutschen ist es die Lebenskunst. Und die beschäftigte schon in der Antike die großen Philosophen, galt damals doch die Philosophie als der Ratgeber für das alltägliche Leben. Sokrates setzte die Philosophie gar mit der Lebenskunst (ars vivendi) gleich, sein Schüler Platon bezeichnete sie als die»Fürsorge für die Seele«. Marc Aurel (121-180) sammelte in den »Selbstbetrachtungen« seine Reflexionen zu einem guten Leben. Auch Michel de Montaigne schrieb im 16. Jahrhundert zur Lebenskunst. Geboren in der Trüffel-Hochburg Perigord, als Urenkel von Ramon Felipe Eyquem, war ihm das wohl in die Wiege gelegt worden. (Der Urgroßvater war zuerst als Wein-, Fisch- und Indigohändler in Bordeaux reich geworden und erwarb schließlich das Château d’Yquem, mittlerweile eines der berühmtesten Weingüter weltweit.)

Über die Jahrhunderte war die Frage danach, wie wir gut leben sollen, eng mit traditionellen Werten verknüpft – Fleiß, Tugend, Askese. Nur Spaß zu haben ist zu wenig. Heute sagt der Wirtschaftsprofessor und Glücksforscher Matthias Bindwanger in einem Interview mit dem UBS-Magazin: »Wir beschäftigen uns in unserer Gesellschaft intensiv damit, wie wir Geld verdienen können. Aber wir lernen sehr wenig darüber, wie wir gut leben und unser Geld intelligent ausgeben können. Der Verlust an Savoir-vivre ist teilweise der Preis für unseren Wohlstand. Wir sind völlig verplant durch unseren Lebensstil und dadurch oft nicht mehr in der Lage, spontan zu handeln«. Ganz grundlegend lässt sich also die Frage stellen, wie wir mit der Fülle an Möglichkeiten und an Materiellem umgehen, und welche Filter gewinnbringend sein können. Einige Menschen können durch das Verfeinern ihrer Sinne bewusst Glücksmomente im Alltag erleben und nehmen das als eigene Ressource wahr, mit der sie ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität steigern können. Das muss nicht einmal lange dauern: Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts market im August 2014 reichen für die Mehrheit der Befragten (62 %) für ein genussvolles Erlebnis einige Minuten aus, wenn diese wirklich intensiv sind (vgl. Infografik). Aufgrund der eigenen Biographie oder Erkrankungen wie Depressionen tun sich andere durchaus schwer. Genießen können fällt nicht allen in den Schoß – aber es ist erlernbar. Wer gedankenverloren und wenig achtsam durch den Alltag geht oder seine Zeit komplett verplant, ohne Zeitpolster, um für sich selbst Platz einzuräumen, muss wahrscheinlich intensiver üben. Trainieren müssen aber auch die Profis – ähnlich wie im Spitzensport. Auch sie können immer wieder Neues erfahren und die Intensität steigern.


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