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DIE EDDAS

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Unser Verständnis der altnordischen Mythologie wäre ohne das Traditionsbewusstsein des herausragenden Isländers Snorri Sturluson sehr beschränkt. 1178 oder 1179 wurde er in eine der mächtigsten Familien Islands hineingeboren, deren Abstammungslinie wir bis zu den Norwegern, die ihr Heimatland aufgrund ihrer Ablehnung des Königtums verließen und Island seit den 870er Jahren besiedelten, verfolgen können. Snorris Lebenslauf steht sinnbildlich für die Komplexität und die Widersprüche seiner Zeit. Zweimal in das höchste Amt des Landes, das des Rechtsprechers im Althing (dem isländischen Parlament) gewählt und am norwegischen Königshof hochgeehrt, verhalfen ihm seine politischen Ambitionen zu gewaltigen Besitztümern und größerem Wohlstand als den meisten anderen seiner Landsmänner. Dieselben Ambitionen brachten ihm aber auch den Tod durch die Hände von Schergen des von 1217 bis 1263 regierenden norwegischen Königs Hakon Hakonarson, dessen Interessen in Island zu vertreten, Snorri geschworen hatte. Snorri hatte Hakon nicht nur enttäuscht, sondern war aus dessen Sicht treubrüchig und schließlich aufsässig gegen seinen König geworden. So kam es, in der Nacht des 22. September 1241, dass ein Trupp von 70 bewaffneten Männern im Auftrag des Königs, darunter zwei seiner früheren Schwiegersöhne, Snorris großes Anwesen in Reykholt stürmte. Fünf der Angreifer verfolgten ihren wehrlosen Stammesfürsten bis in sein Versteck im Keller und schlugen ihn dort tot. Es heißt, seine letzten Worte seien „Eigi skal höggva!“ („Erschlagt mich doch nicht!“)1 gewesen.


Snorri Sturluson

Wie Snorris grausames Ende zeigt, war das Island des dreizehnten Jahrhunderts ein Ort großer Unruhe, wo Gier und Eigennutz herrschten und schließlich zum Bürgerkrieg führten – ein Zustand, an welchem der norwegische König großen Anteil hatte. Snorri trug, als Schlüsselfigur in der Machtpolitik jener Tage, durch sein Handeln kaum zu einer Verbesserung der Gewaltsituation bei. Island war eine 250 Jahre alte oligarchische Republik, wie sie im übrigen Europa unbekannt war. Etwa zwanzig Jahre nach Snorris Tod war die Unabhängigkeit Islands nicht länger aufrecht zu erhalten, und das isländische Parlament ordnete sich bereitwillig der norwegischen Monarchie unter. Noch im selben Jahrhundert begann in Island eine Literatur zu wachsen, die noch heute weltweit als eine der größten kulturellen Leistungen aller Zeiten gilt. Eine zentrale Bedeutung kam dabei Snorri zu.2

Was das Schicksal Snorri an freier Zeit beschert hatte, war niemals verschwendet. Drei Meisterwerke mittelalterlicher Literatur sind ihm zu verdanken: die Heimskringla, eine umfangreiche Geschichte der norwegischen Könige, die Egils saga, eine fesselnde Erzählung von Snorris Krieger- und Dichtervorfahren aus dem zehnten Jahrhundert, und die Prosa-Edda (in diesem Fall bezeichnet der Begriff „Edda“ eine Erklärung der altnordischen Mythologie und der mit dieser verbundenen traditionellen Dichtung). In diesem späten, in den 1220er Jahren entstandenen Werk, wird die altnordische Götterwelt klarer beschrieben als in sämtlichen anderen mittelalterlichen Quellen. Niedergeschrieben in einem Stil, der den Aufbau des europäischen Volksmärchens, Motive aus der griechisch-römischen Literatur und gelehrte christliche Kommentare miteinander vereinigt, ist Snorris Gestaltungsform sowohl für den verfeinerten als auch für den volkstümlichen Geschmack seines zeitgenössischen Publikums bezeichnend. Die Prosa-Edda ist dennoch nicht als Werbung für das Heidentum verfasst, zumindest nicht in einem ideologischen Sinne. Im Gegenteil, er ermahnt seine Leser ausdrücklich, dass „Christenmenschen weder an heidnische Götter glauben sollen, noch an die Wahrheit dieser Darstellung … “3

Obwohl Island zu den letzten Ländern Europas gehörte, die das Christentum annahmen – im Jahre 1000 unserer Zeitrechnung – war es bereits im dreizehnten Jahrhundert völlig in die isländische Kultur integriert, auch wenn unter vielen Amtsträgern Groll über den fremden Druck herrschte, der die Unabhängigkeit des isländischen Kirchen- und Steuerwesens bedrohte. Unter den Verteidigern der Autonomie der isländischen Kirche galt dies nicht zuletzt für den Ziehvater Snorris, Jon Loftsson (gest. 1197), einen einflussreichen Goden und Kirchendiakon. So wie Snorris Erziehung zweifellos von christlichen Lehren und Werten geprägt war, steht es ebenso außer Zweifel, dass ihn der Chauvinismus seines Ziehvaters stark beeinflusste. Stolz auf Tradition und Kultur Islands war mit dem zeitgenössischen christlichen Glauben nicht immer leicht vereinbar, vor allem wenn dieser Stolz sich auch auf die Weltanschauung vorchristlicher Isländer erweiterte. Snorri musste sich in der Prosa-Edda sehr darum bemühen, diesen potentiellen Interessenkonflikt auszugleichen.

Die Prosa-Edda ist unterteilt in drei Hauptabschnitte: ‚Gylfaginning’ (Gylfis Täuschung), ‚Skáldskaparmál’ (Die Lehre von der Dichtersprache) und ‚Háttatal’ (das Verzeichnis der Vers-Arten), denen der Prolog vorangeht. Am eindeutigsten wurde ein christlicher Blickwinkel auf das altnordische Heidentum im Prolog eingenommen, der im Sinne des Euhemerismus davon ausgeht, dass einstmals sterbliche Herrscher später als unsterbliche Götter verehrt wurden. Auf diese Weise deutet Snorri den Irrtum heidnischen Glaubens rationalistisch als eine Konsequenz skandinavischer Ehrerbietung gegenüber Nachfahren hellenischer Krieger, die nach dem Trojanischen Krieg um 1200 vor unserer Zeitrechnung den hohen Norden eroberten und sich dort ansiedelten. Daher leitet Snorri den gemeinsamen Namen für die Götter – die ‚Asen’ – von ‚Männer aus Asien’ her, eine euhemeristische Behauptung, die er an anderen Stellen wiederholt, zum Beispiel mit seiner Äußerung, „Thor“ sei eine verfälschte Form von „Hektor“, des Namens des trojanischen Helden. Indem Snorri die Ursprünge der Mythologie als eine Folge von Missverständnissen und Unwissen beschreibt, bleibt es ihm unbenommen zu erzählen, wohin diese Phantasien führen. Allerdings bleibt er auf eine distanzierte Haltung bedacht und vermeidet jede bekräftigende Aussage. In der ‚Gylfaginning’ ersinnt er einen schwedischen König Gylfi, der den Namen Gangleri annimmt (was etwa ‚der vom Gehen Müde’ bedeutet) und sich auf die Suche nach den Göttern macht, um sie nach der Natur der Dinge zu befragen. Am Ende wird er in seinem Irrglauben, bei den Befragten handele es sich um göttliche Wesen, alleingelassen, während dem Leser einleuchten soll, dass es sich um Betrüger handelt.

Die beiden weiteren Abschnitte sind in der Form zahlreicher technischer Anmerkungen über die mythologischen Bedeutungen gehalten, die hinter den traditionellen dichterischen Zusammenstellungen stehen. Der letzte Abschnitt besteht aus einer kommentierten dichterischen Lobpreisung König Hakons und seines Onkels Jarl Skuli, der zugleich sein Regent war. Mit diesen Methoden, sowie mit eindrucksvoller Ausdruckskraft und unnachahmlichem Witz, ist Snorri eine umfangreiche Darstellung der altnordischen Mythologie gelungen. Genau an jenem Punkt der Geschichte, an dem die Erinnerungen an den alten Glauben zu verblassen begannen und in Fragmente zerfielen, war es – nichtsdestotrotz – gerade Snorris Verdienst, sie zu retten und wieder zusammenzufügen. Während dieser Zeit schrieb er in mühsamer Kleinarbeit zahlreiche Auszüge mündlich überlieferter heiliger Texte des altnordischen Heidentums nieder. Wie bereits bemerkt, war es nicht Snorris Sache, seinen Standpunkt durchzusetzen und Streitigkeiten über Glaubenssätze herauszufordern; eher wurde er von einem innigen Wunsch angetrieben, eine Dichtung vor ihrer Auslöschung zu bewahren. Die Prosa-Edda kann als kulturelles Bindeglied zwischen heidnischer Vergangenheit und christlicher Gegenwart betrachtet werden, als ein Band, das zerschnitten wurde, als Island die alten Pfade verlassen und sich der Religion des übrigen Europa angeschlossen hat. In diesem Sinne zählt Snorris Werk zu den frühesten Zeugnissen einer kulturellen Identität des Nordens. Vieles, wovon er berichtet, kann nicht nur anhand von Handschriften belegt werden, die möglicherweise seine Quellen gewesen sind, sondern auch durch archäologische Funde, die Jahrhunderte älter sind als Snorris Edda: etwa in Schweden und Dänemark gefundene Darstellungen, die Thor bei der Bezwingung der ungeheuren Midgardschlange zeigen – genau, wie Snorri es beschrieben hat.

Bei allem, was Snorri geleistet hat, sollten wir bedenken, dass die altnordischen Mythen nicht immer zusammenhängend erzählt wurden und bereits zu Lebzeiten Snorris schon vieles verloren gegangen oder einfach nicht mehr verständlich war. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass es während der Jahrhunderte, in welchen die Mythen sich entwickelten, so viele unterschiedliche Erzählweisen wie auch religiöse Praktiken gegeben hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Snorri sehr daran gelegen, Ungereimtheiten, Widersprüche, Unklarheiten über die Arten von Lebewesen und über die ursprüngliche Aufgabe der Götter zu berichtigen, soweit es ihm möglich war. Während wir einräumen, nicht genau zu wissen, wie viel wir Snorri verdanken, gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass er keinen vollständigen Bericht über all seine Quellen hinterlassen hat. Das von Snorri behandelte Material und seine Vorgehensweise sind so komplex, dass er bei seinen Betrachtungen der Mythen mit denselben Schwierigkeiten wie jene ringen musste, die vor ihm die Mythen nach ihrem eigentlichen Bedeutungsgehalt befragt hatten.

In der Prosa-Edda zitiert Snorri Textstellen in zwei Versmaßen: im eddischen und im skaldischen. Viele Eddalieder sind bereits vor der Christianisierung des Nordens entstanden und wurden möglicherweise in irgendeiner Form schon viele Jahrhunderte vor der Bekehrung vorgetragen. Andere wiederum entwickelten sich erst später aus den Sammlungen mythischer Legenden, da sie in ihrer ursprünglichen Form verloren gegangen waren. In Eddaliedern werden mehrere unterschiedliche Formen des Stabreims verwendet, und ihr Hauptthema sind, vereinfacht gesagt, die Ränkespiele der altnordischen Götter oder menschlicher Helden mit außergewöhnlichen Eigenschaften, die – oft im Einklang mit großen göttlichen Plänen – nach der Erfüllung ihres Schicksals streben. Das Legendenmaterial umfasst eine Anzahl von Liedern, die die skandinavisch-germanischen Herrschergeschlechter der Niflungen und der Völsungen sowie die vom Unglück begleitete Dreiecksgeschichte um Sigurd Fafnisbani, den Töter des (Drachens) Fafnir, die ausgestoßene Walküre Brynhild und die Prinzessin Gudrun von Burgund betreffen. Diese Lieder und die davon abgeleiteten Sagas nehmen einen zentralen Platz in Kunst und Literatur im Europa des 19. Jahrhunderts ein. Eddaverse sind oft sehr lang, dennoch relativ einfach zu lesen, obwohl sie viele Szenen und Vorstellungen beinhalten, die uns rätselhaft anmuten.

Das skaldische Versmaß ist vergleichsweise kürzer, aber schwieriger zu entschlüsseln, da sein Aufbau viele scharf umrissene ‚Kenningar’ enthält. Kenningar sind als Umschreibung verwendete Wortverbindungen, deren Ausdruck von metaphorischer Bedeutung ist. Ein Krieger könnte zum Beispiel als ‚Helmbaum’ beschrieben werden, eine Schlacht als ‚Pfeilregen’, Blut als ‚Tau der Wunden’ und ein Prinz als ‚Röter der Schwerter’. Namen werden ebenso durch Kenningar ersetzt. Eine Kenning für Thor ist beispielsweise ‚Brecher der Riesenschädel’. Skaldenverse werden meist im selben Stil abgefasst, den wir bei Preisgedichten zu Ehren bekannter Heiliger finden. Wie in Snorris historischem Werk Heimskringla ersichtlich, waren die Isländer oft anerkannte Meister der Skaldendichtung, deren Künste an Königshäusern in ganz Skandinavien gefragt waren. Trotz ihrer metrischen Komplexität und der faktischen Unmöglichkeit, die Form zu ändern, ohne ihre Struktur zu zerstören, sind viele Skaldenverse durch mündliche Überlieferung aus dem neunten und zehnten Jahrhundert in intakter Form erhalten geblieben. Skaldische Verschlüsselungen und Umschreibungen bergen eine wahre Fundgrube an Informationen über mythologische Themen. Außerdem können, anders als bei den anonymen Eddaliedern, die Verfasser der Skaldenverse oft sicher identifiziert werden.

Wie bereits erwähnt, ist nicht in allen Fällen genau zu ermitteln, auf welche Quellen und Informanten Snorri sich stützt, wenngleich manche Zitate eddischer und skaldischer Verse in Werken des zwölften Jahrhunderts sowie seine Kenntnisse mündlicher Traditionen zweifellos erkennbar sind. Es ist ziemlich sicher, dass Snorri Texte zugänglich waren, die nicht erhalten geblieben sind. Einiges von Snorris Quellen kam 1643 ans Licht, als in einem isländischen Bauernhaus ein Bündel anonymer Handschriften mit 34 Eddaversen entdeckt und dem isländischen Bischof Brynjólfur Sveinsson (1605 - 75) übergeben wurde. Im Jahre 1662 übereignete der Bischof das Manuskript dem König Frederick III. von Dänemark und Norwegen, worauf der Name Codex Regius (‚das königliche Buch’) zurückgeht, unter welchem die Sammlung noch heute bekannt ist. Der Codex Regius selbst kann nicht Snorris Quelle gewesen sein, da die in ihm enthaltenen Eddaverse offensichtlich im späten dreizehnten Jahrhundert und damit einige Zeit nach Snorris Tod niedergeschrieben worden sind. Trotzdem gibt es exakte Übereinstimmungen zwischen den Liedern des Codex und einigen Niederschriften Snorris. Diese Sammlung, ergänzt durch andere erhaltene Eddaverse, ist heute bekannt als die Lieder-Edda. Zusammen gewähren die Prosa-Edda und Lieder-Edda einen aufschlussreichen Einblick in die Welt des altnordischen Heidentums. So betrachtet, sind sie der unumgängliche Anfangspunkt für die Suche nach dem Thor der Mythologie.

Thor

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