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THORS PLATZ IN DEN ALTNORDISCHEN MYTHEN
ОглавлениеDer Ursprung der altnordischen Mythen
Seit den letzten Dekaden des achtzehnten Jahrhunderts galt die gesteigerte Aufmerksamkeit der Mythenforscher den auffallenden Parallelen zwischen der griechisch-römischen, keltischen, indischen, iranischen, slawischen und der altnordischen Mythologie. Es hat mehrere solcher Phasen gegeben, von denen viele noch in den späteren Kapiteln, welche die nachmittelalterliche Auffassung von Thor behandeln, zur Sprache kommen werden. Zusammengefasst, entdeckten die Wissenschaftler zunächst die übergreifende etymologische Verwandtschaft zwischen einzelnen Worten bestimmter Sprachen, die daraufhin als die indoeuropäische Sprachfamilie bezeichnet wurden. Daraus hat sich dann die Disziplin der vergleichenden Sprachwissenschaft entwickelt, für die das Studium der Mythen ein zentrales Forschungsgebiet war. Auf vielen Feldern der Volkskunde, Archäologie und Anthropologie war man bestrebt, die Einheit der indoeuropäischen Sprachgruppen nachzuweisen, und es wurde die Hypothese aufgestellt, dass einst eine urindoeuropäische Sprache existiert habe, die von einer Gruppe von Europäern gesprochen wurde, die sich durch Migration in der frühen Bronzezeit weit nach Osten und Süden ausgebreitet hat. In der späten Bronzezeit gelangten dann Völker des Mittelmeerraumes über Persien bis zum indischen Subkontinent unter ihren Einfluss, sowohl im Hinblick auf die Sprache als auch was die Glaubensvorstellungen betrifft.
Wer genau diese Ur-Indoeuropäer waren, bleibt Gegenstand vieler Diskussionen. Eine interessante, wenn auch viel kritisierte Theorie ist die von der Archäologin Marija Gimbutas (1921 - 1994) aufgestellte Theorie, die als Kurgan-Hypothese bekannt wurde. Diese richtet das Hauptaugenmerk auf die Grabhügel oder Kurgane der frühen Völker Osteuropas bzw. auf die Verbreitung dieser Grabhügel quer über den indoeuropäischen Raum. Die Volksstämme, die diese Kurgane ursprünglich schufen, galten als technologisch fortgeschritten und hatten außergewöhnliche Techniken der Waffenschmiedekunst entwickelt. Außerdem haben sie durch die Zähmung von Pferden und deren Einsatz für kriegerische Aufgaben – etwa zum Ziehen von Streitwagen – einen unerreichbaren Vorsprung gegenüber ihren Nachbarstämmen eingenommen und damit auch die Möglichkeit zur Ausweitung und Verlagerung ihrer Herrschaft, wohin immer sie wollten, erhalten. Am Rande ihrer vergleichenden Untersuchungen der Mythen und Sprachen kam Gimbutas zu der Schlussfolgerung, dass die Migranten der Bronzezeit ihre Urheimat in den Regionen um das Schwarze Meer, den Kaukasus und das westliche Uralgebirge hatten.16
Gimbutas’ Theorie sowie neuere genetische Studien haben die heute diskreditierte ‚arische’ Theorie verdrängt, welche die Idee postulierte, die Ur-Indoeuropäer seien ein germanisches Volk gewesen. Diese Theorie fand in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weite Verbreitung unter den Verfechtern einer Vorherrschaft der weißen Rasse, besonders unter den Ideologen des Nationalsozialismus; das gleiche gilt für die damit verwandte, aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammende Auffassung, dass ein völliges Verstehen urindoeuropäischen Gedankengutes den Schlüssel zu allen Mythologien und damit auch die Antworten auf die komplexesten metaphysischen Fragen bereit hielte. In Wahrheit wird die tatsächliche Identität der Ur-Indoeuropäer wohl nie ganz ergründet werden, abgesehen von der Tatsache, dass die Belege für eine ursprünglich gemeinsame rassische, ebenso wie für eine sprachliche und – wie wir es heute nennen würden – ideologische Identität unter Indoeuropäern mittlerweile weitgehend anerkannt sind.
Das überzeugendste und zweifellos einflussreichste Argument für gemeinsame Ursprünge der Indoeuropäer folgt aus einer Analyse der verschiedenen mythologischen Systeme in Bezug auf ihre Struktur. Der Hauptverfechter dieser Herangehensweise war der französische Philologe Georges Dumézil (1898 - 1986). In seiner Trifunktionalen Hypothese vertritt Dumézil die Auffassung, dass die Götter z. B. der indisch-vedischen, griechischen, römischen und altnordischen Mythologien drei miteinander korrespondierende Rollen oder Funktionen übernommen haben, die sich in den sozialen Hierarchien der jeweiligen Kultur widerspiegeln. Der ersten oder höchsten gesellschaftlichen Schicht obliegen die Führungs- oder Herrschaftsaufgaben, die auch die priesterliche Hoheit wie die gesetzgebende Autorität umfassen und häufig mit einer magischen Kompetenz einhergehen. Der vedische Varuna, der griechische Zeus (römisch: Jupiter/Jove) und der altnordische Odin sind Götter mit solcher Funktion. In der mittleren Schicht findet sich die Kriegerklasse, deren Hauptanliegen die Verteidigung der Gemeinschaft ist, üblicherweise mit Hilfe extremer physischer Gewalt. Der vedische Indra, der griechische Herakles (römisch: Herkules) und der altnordische Thor sind Götter mit dieser Aufgabe.17 Die dritte und niedrigste Aufgabe fällt den Fruchtbarkeitsgöttern zu, die häufig durch Zwillinge in Begleitung einer Göttin vertreten werden. Gruppierungen dieser Art umfassen die vedischen Reiterzwillinge, die Ashvins, und die weibliche Gottheit Saraswati; die griechischen Dioskuren Castor und Pollux (die römischen Gemini-Zwillinge) und deren Schwester Helena, sowie die altnordischen Geschwister Freyr und Freyja und – im Edda-Mythos – deren Vater Njörd (wobei es in anderen, älteren germanischen Überlieferungen Njörds weibliches Gegenstück, die Göttin Nerthus ist). Auf der Grundlage dieser Unterteilung der Funktionen gelingt es Dumézil, ein durchgehendes, detailliertes System von formalen und funktionalen Korrespondenzen quer durch die mythologischen Systeme der indoeuropäischen Völker zu konstruieren. Diese Theorie, so führt Dumézil aus, sollte nicht verwechselt werden mit den Dualismen von Natur versus Kultur, die fundamentale Merkmale der menschlichen Psyche zu beschreiben vorgeben. Stattdessen ist sie eine in historischen Gegebenheiten verankerte analytische Beschreibung der gesellschaftlichen Sitten und Glaubensvorstellungen einer geographisch bestimmten, ethnisch miteinander verbundenen Gruppe. Daher ist die Trifunktionalität in den indoeuropäischen Mythen ein Spiegelbild der in dieser Gruppe etablierten sozialen Strukturen und Klasseneinteilungen.18
Ein Lied der Edda, das den sozialen Klassenaspekt dieser Hypothese glaubwürdig erscheinen lässt, ist die ‚Rígsþula’ (Lied von Rig), das auf die zweite Hälfte des zehnten Jahrhunderts datiert wird und in Dänemark entstanden ist.19 In diesem besucht der geheimnisvolle Rig, dessen Name im Altirischen ‚König’ bedeutet, von dem aber auch angenommen wird, dass es sich um den Gott Heimdall handelt, drei Heimstätten, in denen er jeweils einen Sohn zeugt. In der ersten, einer kleinen Hütte, zeugt er den ärmlichen Knecht Thräl; bei seinem zweiten Besuch, auf einem Bauernhof, zeugt er Karl, den arbeitsamen Bauern und Handwerker, und in der prunkvollen Halle des Dritten zeugt er schließlich den adligen Jarl. Letzterer hat mit seiner Gattin später einen Sohn namens Kon der Junge, was dem altnordischen konungr (König) entspricht. Kon erfüllt sein Schicksal, indem er, nachdem er zum Runenmeister und Magier geworden ist, das Land erobert. Die Dreiteilung der frühen skandinavischen Gesellschaft – Knechte, Bauern und Adel – ist auf diese Weise wiedergegeben und bestätigt.
Thors Platz unter den nordischen Göttern
Die Belange, Werte und Erfahrungen der zweiten Schicht, des Handwerker- und Bauernstandes, sind es, die durch die zweitrangige Positionierung Thors artikuliert werden. Darüber hinaus wird die Geburt einer jeden Figur der drei sozialen Schichten in der ‚Rígsþula’ mit einer besonderen Farbe bezeichnet: weiß steht für den Adel, rot für den Bauernstand und schwarz für den Knecht. Diese Farbgebungen, so beobachtet Dumézil, sind charakteristisch für die Kennzeichnung der Kasten in traditionellen indischen und iranischen Gesellschaften, wobei das Konzept der Kaste synonym mit dem Begriff für Farbe (varna) ist. Die gleichen Farben kennzeichnen ebenso die hierarchische Positionierung von Gottheiten quer durch das breite Spektrum der indoeuropäischen Mythologien.20 Doch während es stimmt, dass Odin in den altnordischen Mythen bisweilen mit der Farbe Weiß identifiziert wird, sind die Belege für eine Assoziation des Knechtsstandes mit Schwarz außerhalb der ‚Rígsþula’ eher dürftig. Nichtsdestoweniger stehen Thors roter Bart und seine feurigen Augen völlig im Einklang mit der Zuordnung der Farbe zu der gesellschaftlichen Schicht, die er in den Eddas repräsentiert.
Frühe historische Unterstützung für den zweitrangigen Status Thors ist einer römischen Quelle aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu entnehmen, in der er sich, in seiner ersten mythologischen Verkörperung, als der germanische Gott Donar findet. Kontakte eher kriegerischer Natur zwischen den germanischen Stämmen und den römischen Legionen sind seit der Zeit Julius Caesars im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung belegt, als die Römer ihr Reich über Gallien hinaus östlich und westlich des Rheines zu erweitern suchten. Trotz der Aufnahme vieler Germanen in die Legionen, von denen einige in hohe Ränge aufstiegen, brachte die römische Zähigkeit bei diesem Bestreben nicht den gewünschten Erfolg – die völlige Vorherrschaft, wie sie die Römer beispielsweise in Britannien und in Gallien erlangten, wurde nicht erreicht. Mehr als einmal stellten riesige Horden germanischer Krieger eine ernsthafte Gefahr für die Sicherheit des Imperiums dar. Schon im ersten Jahrhundert u. Ztr. entwickelte sich unter den Römern eine an Bewunderung grenzende Faszination für die unverwüstlichen, streitbaren Germanen. Diese bringt der römische Historiker Tacitus in der letzten Dekade jenes Jahrhunderts in seiner Studie über die germanischen Stämme, der Germania, gründlich zum Ausdruck. Auch wenn Tacitus’ Ziel eher die Kritik an Defiziten seiner eigenen Landsleute war als Licht über die Germanen aufleuchten zu lassen, gewährt er einen tiefgründigen und einzigartigen Einblick in frühe germanische Sitten und Glaubensvorstellungen. In der Germania finden wir die erste Erwähnung der Verwandtschaftsverhältnisse der germanischen Götter, die Tacitus in Übereinstimmung mit der Vorgehensweise, die als interpretatio Romana bekannt ist, mit den Namen ihrer römischen Äquivalente belegt: ‚Von den Göttern verehren sie am meisten den Merkur, dem sie an bestimmten Tagen auch Menschenopfer darzubringen, für Recht halten. Herkules und Mars versöhnen sie durch zulässige Tieropfer.’21 Merkur, der Gott des Handels, den Julius Caesar in seinem Gallischen Krieg ebenso als den meistverehrten Gott der Germanen erwähnte, korrespondiert hier mit Odins Vorläufer Wotan; Herkules, der Keulen schwingende Gott, der für seine Stärke bekannt ist, entspricht Thors Vorläufer Donar; und Mars, der imperiale Kriegsgott, der einst aber auch ein Fruchtbarkeitsgott gewesen ist, korrespondiert vermutlich mit Tyrs Vorläufer Ziu. Was Odin und Thor betrifft, unterscheidet sich ihr Bild kaum von dem, das wir in den Eddas beschrieben finden.
Doch in schwedischen Überlieferungen, tausend Jahre nach Tacitus’ Darstellung der germanischen Bräuche, scheint Thors Aufgabe die trifunktionalen Grenzen zu durchkreuzen und er in einen Rang über Odin hinaus erhoben zu werden. Etwas davon ist in einer Beschreibung des heidnischen Tempels zu lesen, die der deutsche Chronist Adam von Bremen in der letzten Hälfte des elften Jahrhunderts verfasste:
In diesem Tempel, der ganz mit Gold geschmückt ist, verehrt das Volk die Standbilder von drei Göttern, und zwar so, dass der mächtigste von ihnen, Thor, mitten im Gemach seinen Thron hat; zu beiden Seiten nehmen Wotan [Odin] und Frikko [Freyr] Plätze ein. Die Bedeutung dieser Götter ist folgende: Thor, sagen sie, herrsche in der Luft und gebietet über Donner und Blitz, Wind und Regen, heiteres Wetter und Fruchtbarkeit. Der andere, Wotan, das heißt der Wütende, lenkt die Kriege und verleiht dem Menschen Stärke gegen seine Feinde; der dritte ist Frikko, der Frieden und Freude den Sterblichen spendet.
Sein Bildnis versehen sie auch mit einem gewaltigen männlichen Glied. Den Wotan aber stellen sie bewaffnet dar, wie unser Volk es mit dem Mars zu tun pflegt. Thor mit seinem Zepter verkörpert anscheinend den Jove [Jupiter] …
Für alle ihre Götter haben sie Priester ernannt, die die Opfer für das Volk darbringen. Wenn Seuche und Hungersnot drohen, wird dem Abbild des Thor ein Trankopfer dargebracht; wenn Krieg, dem Wotan; wenn es Hochzeiten zu feiern gibt, dem Frikko.22
Wenn die Informationen Adams weitgehend stimmen, dann ist Thor, wie Jove oder Jupiter, der höchste Gott, ein Himmelsgott, der über Donner und Blitz gebietet; das Zepter, das er in der Hand hält, kann durchaus eine Fehldeutung Mjöllnirs gewesen sein. In dieser Darstellung der religiösen Hierarchie wird die drittrangige Stellung der Fruchtbarkeitsgötter, in der sie in den Eddas gewöhnlich erscheinen, stattdessen als höchste Funktion präsentiert, die zumindest in Teilen durch Thor veranschaulicht wird. Auf eine relativ weit verbreitete Vorstellung von einer Gottheit in der Weise, wie Thor von Adam beschrieben wird, weisen altertümliche Opferrituale der Samen hin. In diesen werden die Vorstellungen von Erde und Donner miteinander vereint, um die Fruchtbarkeit der Viehbestände anzuregen und um Regen für das Gedeihen der Feldfrüchte zu erbitten. Trotzdem, so argumentiert Dumézil strikt, darf Thor nicht als Fruchtbarkeitsgott im selben Sinne wie Freyr oder Freyja gesehen werden; seine vermeintliche Unterstützung bei der Nahrungsmittelproduktion kommt weniger als Ergebnis beabsichtigter Handlungen zustande, die auf die Urbarmachung der Erde abzielen, sondern ist vielmehr ein glückliches Nebenprodukt seiner heftigen kosmischen Aktivitäten.23