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DER MYTHOLOGISCHE ZUSAMMENHANG
ОглавлениеAm nächsten kommen wir einer Chronologie von Geburt, Leben und Untergang der Götter in den 66 Strophen des altertümlichen Eddaliedes ‚Völuspá’ (Der Seherin Gesicht). Dieses Lied berichtet, wie Odin, der oberste der Götter, eine Seherin aufsucht, die ihm vom Ursprung der Götter, von ihren Bedrängnissen, ihrem letztendlichen Niedergang und der darauf folgenden Welt-Erneuerung erzählt. Obwohl manchmal verschleiernd und voller Anspielungen, weisen die Schilderungen in der ‚Völuspa’ eine lineare Struktur auf, die sich von der Schöpfung bis hin zur Götterdämmerung, der Ragnarök, zieht. In diesem Sinne kann die ‚Völuspá’ als das Rückgrat betrachtet werden, um das sich alle anderen mythologischen Lieder anordnen, und als Ausgangspunkt für Snorris vor allem in der ‚Gylfaginning’ vorgenommenen Versuch, die gesamte Mythologie zu systematisieren.
Der Kosmos der altnordischen Mythologie umfasst zehn Welten, von denen neun auf drei Ebenen der Existenz angeordnet sind. Diese Ebenen werden von den Wurzeln des heiligen Baumes Yggdrasil zusammengehalten, des Weltenbaumes, dessen Geäst verschiedene Tiere beheimatet. Um den Baum herum sitzen die drei Nornen, geheimnisvolle weibliche Gottheiten, die webend das Schicksal aller Lebenden bestimmen. Auf der höchsten der drei Ebenen, der Oberwelt, befinden sich: Asgard, der Sitz des Kriegsgöttergeschlechts, der Asen; Wanaheim, die Heimat des Geschlechtes der Fruchtbarkeitsgötter, der Wanen, und Liusalfheim, das Land der Lichtalben. Ebenfalls auf der Oberwelt angesiedelt ist Walhall, die Halle der im Kampf gestorbenen Helden, die sich dort als auserwählte Armee Odins auf Ragnarök vorbereiten. Auf der mittleren Ebene finden wir Jötunheim, das Land der Riesen; Nidavellir, die Heimat der Zwerge; Svartalfheim, wo die Schwarzalben wohnen, und Midgard, die Welt der Menschen. In den Meeren, die diese Ebene umgeben, lebt die gigantische giftige Schlange Jörmungand, die auch als Midgardschlange bekannt ist und ganz Midgard umspannt. Die mittlere und die obere Ebene werden durch die Regenbogenbrücke Bifröst verbunden. Sie wird von dem Gott Heimdall mit seinem Horn bewacht, dessen Klang vor den ungeheuren Gewalten warnt, die den Untergang der Götter und der Welt herbeiführen, wenn Ragnarök anbricht.
Auf der unteren Ebene, an den entferntesten Wurzeln Yggdrasils, sitzt die schreckliche Göttin Hel, die über Helheim und Niflheim gebietet, das Land der Toten, die nicht im Kampf gefallen sind. Dieses Reich wird von Nidhögg (dem ‚Leichenkauer’) heimgesucht, einem furchterregenden Drachen, der die Toten verzehrt und an den Wurzeln des Weltenbaumes nagt. Über den Abgrund zwischen Hel und Midgard spannt sich die Brücke Gjallabrú, die von der Riesin Modgud bewacht wird, deren Aufgabe es ist, diejenigen aufzuhalten, die versuchen, die Brücke zu überqueren und in die eisige Finsternis Hels oder aus dieser hinaus zu gelangen. Im Süden der Ebene wird Muspelheim verortet, das Feuerreich, in dem der Riese Surt herrscht, der letztlich den Weltenbrand der Ragnarök entfachen wird. Sowohl Götter als auch Riesen bewegen sich frei zwischen der mittleren und der oberen Welt, doch einzig von dem Gott Hermod wird berichtet, dass er – bei dem missglückten Versuch, seinen Bruder Baldur zu befreien – die Unterwelt bereist und wieder von dort zurückkehrt (siehe im Abschnitt ‚Baldurs Tod’ dieses Kapitels).
Wie die Seherin Odin erzählt, sei dieser verschlungene Kosmos das Ergebnis evolutionärer Gewalten, angefangen von der Erschaffung der Welt aus dem Körper des Eisriesen Ymir und der allmählichen Entstehung der verschiedenen Rassen aus Teilen seines Leichnams. Weil deshalb die Welt in ihrem Wesen schlecht ist, sei ihren Bewohnern ein Schicksal von Chaos und Kampf vorherbestimmt. Der erste Krieg, der aufkommt, ist der zwischen Asen und Wanen, den Kriegs- und den Fruchtbarkeitsgöttern. Er endet mit dem Triumph der Asen und schließlich der Vereinigung aller Götter unter ihrer Ägide. Danach eskaliert zunehmend die kalte und unerbittliche Feindschaft zwischen Göttern und Riesen. Am Ende enthüllt die Seherin die Zukunft in ihrer düsteren Vision der Ragnarök und der anschließenden Erneuerung der Götter, die daraufhin scheinbar erneut in Streit und Zerstörung verfallen. Die geschickten Überlegungen Odins, der heldenhafte Kampf Thors und die verjüngende Magie der Fruchtbarkeitsgottheiten – besonders die des Freyr und seiner Schwester Freyja – können letztendlich das Schicksal nicht abwenden und ihren Untergang nicht aufhalten. Die Hauptrolle beim Niedergang der Asen kommt Loki zu, der, wenn man Verwandtschaft nach der Vaterschaft bestimmt, riesischer Abkunft ist, aber dennoch zu den Asen gehört. Durch Lokis wahllosen Sexualtrieb und seine verdrehte Intelligenz entstehen jene monströsen Ausgeburten – die Midgardschlange, der apokalyptische Wolf Fenrir und die Göttin Hel – und durch Lokis Bosheit kommt schließlich Baldur zu Tode, der beliebteste unter den Göttern und ihr künftiger Retter. Wenn es einen Mythos in den Eddas gibt, der alle anderen an Wichtigkeit übertrifft, dann ist das die Erzählung von Baldurs Tod, weil sich mit diesem Ereignis das Schicksal der Götter wendet.
Yggdrasill von Voenix
Baldurs Tod
Dieser Mythos wird am ausführlichsten in Snorris ‚Gylfaginning’ erzählt. Baldur wird von Träumen heimgesucht, die nichts Gutes für sein Leben verheißen. Als er den Asen davon erzählt, beschließen diese, ihn unverwundbar zu machen, da er der reinste und verständigste ihrer Art ist. Seine Mutter Frigg, Odins Gattin, fordert alle Pflanzen und alle Elemente auf, einen Eid zu leisten, Baldur niemals zu verletzen. Da er nun vor Verwundungen geschützt ist, machen sich die Asen – anscheinend mit seinem Einverständnis – ein Spiel daraus, ihn bei ihren Versammlungen mit Speeren und Steinen zu traktieren. Doch Loki gefällt es nicht, dass Baldur unverletzt bleibt. Als alte Frau verkleidet, besucht er Frigg und befragt sie über die Unverwundbarkeit Baldurs. Frigg erzählt ihrem Besucher freimütig, dass sie von der Mistel keinen Eid verlangt habe, da sie die Pflanze für harmlos ansehe. Loki geht daraufhin, pflückt einen Zweig der Mistel und macht einen Pfeil daraus, den er mit zur Versammlung nimmt. Hier trifft er auf den blinden Gott Hödur, der aufgrund seiner Beeinträchtigung am Spiel der anderen Götter mit Baldur nicht teilhaben kann. Loki gibt ihm den Pfeil, lenkt seinen Flug, und Baldur wird auf der Stelle getötet. Am heiligen Ort der Versammlung darf keine Vergeltung geübt werden. Die Trauer der Götter, besonders Odins, ist beispiellos. Der Gott Hermod wird zur Hel gesandt, damit er um Baldurs Freigabe ersuche. Diese würde ihm auch gewährt werden, doch nur unter einer Bedingung: dass alle Lebewesen und Dinge um Baldur trauern. Doch eine einzige, in einer Höhle wohnende Riesin verweigert dies, und so scheitert die Mission. Es wird angenommen, dass es sich bei jener Riesin um Loki in anderer Gestalt handelt.
Baldur wird unter Lokis Anleitung von Hödur mit einem Mistelzweig getötet.
Aus einer isländischen Handschrift des 18. Jahrhunderts.
Baldurs Tod markiert den Anfang vom Ende der Götter. Durch das Ableben des einzigen aus ihren Reihen, der ohne Laster war, erscheint ihre Lage hoffnungslos. Loki, der zurückgekehrt war und mit seinen Zankreden (wie im Eddalied ‚Lokasenna’ erzählt) die Götter erzürnt hatte, wurde zur Strafe in Fesseln gelegt, aus welchen er sich jedoch in der Ragnarök befreien wird, um zusammen mit seiner riesischen Sippe seine einstigen Gefährten in Asgard zu belagern. Nach dem Lied ‚Baldrs Draumar’ (Baldurs Traum), in welchem Odin der Tod Baldurs prophezeit wird, nimmt Odins erst einen Tag alter Sohn Vali, der einzig für diese Aufgabe gezeugt zu sein scheint, unnachgiebige Rache an Hödur.4 Neben den kosmischen Auswirkungen der boshaften und gehässigen Taten Lokis treten nun das wahre Gesicht und die riesische Natur dieses größten Unruhestifters unter den Göttern zutage. Obwohl er sich häufig geistreich und erfinderisch zeigt und er Thor auf seinen Reisen gelegentlich sogar als Gehilfe zur Seite steht, wird Loki zum Feind in den eigenen Reihen und, so betrachtet, zu Thors Gegenspieler. In der Tat liegt das dunkle Mysterium Lokis am Grunde der unbeständigen Welt der Mythologie verborgen.
Charakteristische Merkmale der altnordischen Mythen sind die allgegenwärtige Gewalt und die schicksalhaften Verstrickungen. Während die Feinde der Götter eindeutig mit bösartiger, lebensverneinender Negativität behaftet sind, gibt es – mit Ausnahme Baldurs, dessen Tod eine Katastrophe, dessen Rolle im Leben aber eine eher passive ist – keine Schilderung des absolut Guten. Stattdessen wird das moralische Ideal dargestellt als praktischer Verhaltenskodex, der in umfassender Weise im Eddalied ‚Havamal’ (Das Hohe Lied) beschrieben ist. In diesem Gedicht gibt Odin Helden weise Ratschläge zu Themen, die sich von Fragen der Treue und des Vertrauens bis hin zum richtigen Verhalten bei der Ausübung von Vergeltung erstrecken. Nahezu alle Götter, Odin eingeschlossen, bleiben oft hinter diesen Anforderungen zurück und zeigen sich betrügerisch, zügellos, eitel und ungestüm. In der ‚Lokasenna’ zählt Loki, provokant zugespitzt, die schwachen Seiten der einzelnen Götter auf, und als Ragnarök sich nähert, zeigt sich ihre moralische Verworfenheit im Bruch der innigsten sozialen Bindungen. Wie in der ‚Völuspa’ vorausgesagt:
Brüder kämpfen und bringen sich Tod,
Brudersöhne brechen die Sippe;
Arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar,
Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit, bis die Welt vergeht –
nicht einer will des andern schonen.5
Auf der verhängnisvollen Reise von der Schöpfung bis zur Ragnarök ist Thor der einzige der Hauptgötter, der beständig deren Aufgabe erfüllt, jene Gewalten, die auf ihre Auslöschung drängen, zu bezwingen. Unbelastet von emotionaler oder intellektueller Komplexität, kommt Thor zuverlässig seiner Bestimmung nach, Gefahren entgegenzutreten. Er ist gleichsam der Held des Helden, der dem Ideal aggressiver Männlichkeit in autoritären Patriarchaten entspricht.