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THOR IN DEN EDDAS
ОглавлениеThors Familie
In der Aussage, dass Thor, oder Asa-Thor (Thor der Asen) der älteste Sohn Odins ist, stimmen die Eddas überein.6 Sein vielleicht bekanntester Bruder, oder vielmehr Halbbruder, ist der vom Unglück verfolgte Baldur, obwohl auch dem Wächter Heimdall, Baldurs unabsichtlichem Töter Hödur, sowie dem sogenannten ‚schweigsamen Asen’ Vidar wichtige Funktionen zukommen. Thors Mutter ist die Riesin Jörd, von welcher auch als Fjörgyn erzählt wird; beide Namen bezeichnen ‚Erde’ und ‚Land’. Diese Mutterschaft könnte auf eine altertümliche Tradition hinweisen, in der Thor ursprünglich mit einem Fruchtbarkeitskult in Verbindung gebracht wurde. Nach Snorri wird Jörd den Asinnen zugerechnet, den mächtigsten Göttinnen. Ein unklarer Hinweis in der ‚Skáldskaparmál’ spielt darauf an, dass Thor von Vingnir – gemeint ist möglicherweise der gleichnamige Riese – und Hlora aufgezogen wurde, die mit ‚Glora oder Lora’7 verwandt sein könnte, der Ziehmutter, die in Snorris Prolog neben dem Ziehvater Loricus von dem ‚Thraker’ Thor getötet wurde.
Der Name von Thors Gattin ist Sif, was so viel wie ‚Verwandte’ oder ‚Gesippin’ bedeutet.8 Aus einer früheren Verbindung, über die keine Einzelheiten bekannt sind, brachte Sif einen Sohn namens Ullr mit in die Ehe. Ullr ist sportlich, kämpferisch und ein glänzender Bogenschütze, darum ist es stimmig, dass er in Ydalir (Eibental) lebt, wie in dem Eddalied ‚Grímnismál’ (Das Lied von Grimnir) beschrieben. Wie Snorri erzählt, ist Ullr der Gott der Skifahrer und Eisläufer. Auch mit dem Meer, das er auf einem Schild überquert, wird er verbunden; ‚Ullrs Schiff ’ ist auch eine Kenning für Schild. In dem Eddalied ‚Atlakviða’ (Das Atlilied) wird auf Ullrs Ring geschworen. Das Ortband einer Schwertscheide, die in Thorsberg in Schleswig in einem Waffenlager aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gefunden wurde, trägt die Inschrift Wulþuþewaz, was so viel wie ‚Diener des Ullr’ bedeutet.9 In der dänischen Überlieferung, wie die Gesta Danorum (Geschichte der Dänen) des Saxo Grammaticus aus dem zwölften Jahrhundert belegen, setzt Ullr vorübergehend einen in Schande gefallenen Odin ab, der aber später zurückkehrt und ihn tötet. Vieles deutet darauf hin, dass Ullr einmal ein bedeutender altnordischer Gott gewesen ist, dessen Glanz im Laufe der Zeit verblasste.
Auch wenn über Sif wenig bekannt ist, deutet die wahrscheinliche Wichtigkeit Ullrs darauf hin, dass sie selbst ebenfalls eine Göttin von eigenständiger Bedeutung war. ‚Sifs Haar’ lautet eine Kenning für Gold – was einige Gelehrte zu der Mutmaßung veranlasst hat, Sif stehe im Zusammenhang mit reifen Kornfeldern und entstamme daher einem Vegetations- oder Fruchtbarkeitskult.10 Eine Erzählung, nach der Loki Sifs Haar stiehlt und schließlich wieder zurückbringt, taucht ausschließlich bei Snorri auf (siehe auch im Abschnitt ‚Mjöllnir’ dieses Kapitels). Vorausgesetzt, diese Geschichte ist keine Erfindung Snorris, um die Kenning zu erklären, untermauert sie die Annahme, dass Sif kultische Urprünge hat. Ferner ist da noch Lokis geschmacklose Behauptung in der ‚Lokasenna’, er habe Thor zum Hahnrei gemacht, welche aber auch rein provokativ gemeint und daher vernachlässigbar sein kann, auch wenn sie möglicherweise von einer kryptisch verfassten Textstelle im ‚Hárbarðsljóð’ (Harbard-Lied) der Edda gestützt wird, an der Harbard, der in Wahrheit Odin ist, zu Thor sagt: ‚Einen Buhlen hat Sif daheim … ’.11
Thor hat zwei Söhne, Magni (Der Zornige) und Modi (Der Starke), sowie eine Tochter, Thrud (Kraft). Nach Snorri stammt Magni aus der Verbindung Thors mit der Riesin Jarnsaxa, die demnach eine Rivalin Sifs ist, aber es ist unsicher, ob Modi derselben Verbindung entstammt. Je nachdem, wie man die Verbindungen in Bezug auf Sifs Charakterzüge in der ‚Skáldskaparmál’ interpretiert, kann Thrud sowohl die Tochter von Sif als auch die von Jarnsaxa sein, wobei die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass Sif ihre Mutter ist. Alle drei Kinder Thors verkörpern Aspekte seines Wesens und seiner Stärke. Dennoch ist Thrud relativ unbekannt und spielt keine eindeutige Rolle in den erhaltenen Mythen. Gleichwohl taucht sie in dem Eddalied ‚Alvíssmál’ (Lied von Alvíss) auf, in dem sie sich ohne vorherige Zustimmung Thors mit dem Zwerg Alvíss (Allwissender) verlobt. Thor jedoch legt bei der Begegnung mit Alvíss eine für ihn ungewöhnliche Gerissenheit an den Tag: er fragt den Zwerg eine ganze Nacht lang über sein Wissen aus; so lange, bis die Sonne aufgeht und der Zwerg in Stein verwandelt wird. Diese Quelle stammt vermutlich aus dem dreizehnten Jahrhundert, worauf Thors ungewöhnliche Beschreibung schließen lässt, was aber nicht gegen die Wahrscheinlichkeit spricht, dass ein Teil des diesem Gedicht zugrunde liegenden Ursprungsmaterials viel älter ist. Thruds sexuelle Verletzbarkeit wird auch angedeutet in einer Kenning aus dem neunten Jahrhundert, mit der Snorri den Skaldendichter Bragi Boddason zitiert. Die Kenning bezeichnet den Riesen Hrungnir als ‚Räuber der Thrud’, wie auch in einer verloren gegangenen Erzählung, in welcher der Riese Thrud entführt und ihr wohl auch Gewalt antut. Wenn dies so war, wird es ihren Vater umso mehr zum Kampf gegen den Riesen motiviert haben (siehe ‚Hrungnir und Geirröd’ in diesem Kapitel). Thrud war eindeutig eine bedeutende Gestalt und wird, wie Thors Mutter, den wichtigsten Göttinnen, den Asynjur, zugerechnet.
Was Magni und Modi betrifft, berichtet das Eddalied ‚Vafþrúðnismál’ (Wafthrudnirlied), dass sie nach Thors Tod seine Hauptwaffe, den heiligen Hammer Mjöllnir, erben sollen, und dass sie zu den wenigen Überlebenden der Ragnarök gehören werden. Snorri erzählt, wie der dreijährige Magni seinen Vater beim Kampf gegen Hrungnir hilfreich unterstützt. Zum Dank dafür schenkt Thor ihm Gullfaxi, das Pferd seines Widersachers. Odin missbilligt diese Geste, weil Magni der Sohn einer Riesin ist, und weil er meint, das Geschenk selbst mehr verdient zu haben. Außer dieser Erzählung gibt es nur wenige weitere Erwähnungen von Thors Söhnen in den Eddas; anders in relativ gut entschlüsselbaren Kenningar, die gleichwohl bestätigen, dass sie in der heidnischen Periode durchaus bekannt gewesen sein müssen. Einige Verwirrungen bezüglich der Herkunft von Magni und Modi kommen durch Snorris düsteren Prolog auf, in dem der Thraker Thor nordwärts reist und auf eine Seherin namens Sif trifft. Die Nachkommen der beiden werden durch viele Generationen beschrieben; unter ihnen finden, an einem eher entfernten Punkt der Abstammung, Magi und Moda Erwähnung, deren Namen ohne weiteres auf Thors Söhne in den Mythen schließen lassen.
Nach der isländischen Sagaüberlieferung hat Thor feurige Augen, einen dichten roten Bart und wird von seinen Verehrern oft mit dem Namen ‚Rotbart’ angerufen. Thors Reich ist Thrudheim (Kraftheim) oder Thrudvangr (Kraftfeld), und seine Palast heißt Bilskirnir (strahlender Lichtblitz), welcher laut ‚Grímnismál’ über 540 Zimmer verfügt.12 Die Hauptrolle Thors in den Eddas ist die des ‚Feindes und Töters der Riesen und Trollweiber’. Bewaffnet mit Mjöllnir, den er mit eisernen Handschuhen schwingt, und mit seinem Kraftgürtel durchfährt er den Himmel in einem Streitwagen, der von zwei Ziegenböcken gezogen wird, die laut Snorri Tanngrisnir (Zähneknirscher) und Tanngnjostr (Zähneknisterer) heißen. Als Wagenlenker ist Thor auch bekannt unter dem Namen ‚Öku-Thor’ (Fahr-Thor). Als Herr über Donner und Blitz ist Thor nahezu ständig damit beschäftigt, den Sitz der Götter zu verteidigen. Diese Aufgabe verlangt von ihm, Flüsse zu überqueren, um beim Weltenbaum Yggdrasil zu Gericht zu sitzen, oder das Riesenland zu betreten und seine Bewohner kühn herauszufordern, sei es in Wettkämpfen oder durch direkte Angriffe. Wie die altnordischen mythologischen Erzählungen grundsätzlich nahe legen, ist keine Rolle derart lebenswichtig für die Wohnsitze der Götter, deren Fortbestehen von Thors Zielstrebigkeit und seiner Sendung, sie zu schützen und zu sichern, abhängt. Dennoch ist der große mythologische Zusammenhang, in welchem die Mission Thors zu betrachten ist, von Schutz und Sicherung weit entfernt, vielmehr wird der Gott letztendlich von der Erreichung seines Zieles abgehalten. Dieses ist nahezu von Anbeginn des mythologischen Kreislaufes vorherzusehen.
Thor von Arthur Rackham, 1910.
Die Erzählung vom Baumeister
Die Schlachten Thors gegen die Riesen folgen in der Mythologie keiner strikten Chronologie, außer jener, die den eschatologischen Schritt von der Schöpfung zur Ragnarök anzeigt. Manchmal erscheint es im Rückblick, als könnten sich die Mythologie, so wie sie erhalten geblieben ist, und die erzählerische Logik nicht ohne weiteres einander angleichen. Doch wie dem auch immer sei, eine Erzählung, die möglicherweise die erste ist, in der Thor in seiner wichtigen Rolle als Riesentöter erscheint, ist die Geschichte vom Baumeister. In diesem Mythos wird der mutmaßliche Ursprung des Konfliktes zwischen Göttern und Riesen beschrieben. Die einzige vollständige Erzählung dieser Geschichte finden wir in der ‚Gylfaginning’, wo unter dem Vorwand, die Abstammung von Odins Pferd Sleipnir zu erklären, die Verbindung zu Gylfi gezogen wird.
Die Episode findet kurz nach dem Krieg der Asen gegen die Wanen statt, als die Götter beschließen, Asgard zu befestigen. Während Thor gerade unterwegs auf einem seiner Feldzüge gegen die Riesen ist, beauftragen die Götter einen Steinmetz aus dem Lande der Riesen mit den Bauarbeiten. Als Lohn verlangt der Steinmetz die Sonne, den Mond und die Fruchtbarkeitsgöttin Freyja – ein Preis, der das Ende allen Lebens bedeuten würde. Im Glauben, diese Konsequenzen umgehen zu können, setzen die Götter eine Strafklausel in den Vertrag ein, nach der die Bezahlung verwirkt ist, wenn die Befestigung nicht binnen eines Winters fertig gestellt wird. Außerdem soll der Baumeister seine Arbeit ohne jegliche Hilfe verrichten. Loki macht ihm eine Art Zugeständnis, indem er sich damit einverstanden erklärt, dass der Steinmetz ein Pferd einsetzen darf. Die Götter schwören Eide darauf, dass dem Riesen nichts geschehen wird, sollte Thor zurückkommen. Doch das Pferd des Riesen stellt sich als der riesige Hengst Svadilfari heraus, und zum Entsetzen der Götter zeichnet sich ab, dass die Arbeiten doch zur gegebenen Frist vollendet werden können. Die Götter versammeln sich und geben Loki die Schuld an allem. Sie verlangen von ihm unter Androhung von Todesqualen, dass er eine Lösung finden solle. In seiner Verzweiflung verwandelt Loki sich in eine Stute, die den Hengst von seiner Arbeit weglockt, ihn verführt und später das achtbeinige Fohlen Sleipnir gebiert. Dadurch können die Bauarbeiten nicht fertig gestellt werden, und der Baumeister verfällt in eine rasende Wut, die seine wahre Bergriesennatur enthüllt. Seltsamerweise sieht es so aus, als hätten die Götter bis zu diesem Punkt die riesische Identität des Baumeisters nicht wahrgenommen, doch nun erwägen sie, ihre Eide und ihren Vertrag mit ihm für nichtig zu erklären. Daher wird Thor herbeigerufen, der zurückkehrt und den Riesen mit seinem Hammer Mjöllnir erschlägt.
Gelegentlich wird behauptet, die Erzählung vom Baumeister gehe eher auf europäische Wundermärchen zurück als auf die Mythen. Dieses Argument wird durch zwei isländische Saga-Episoden aus dem dreizehnten Jahrhundert gestützt, in denen von Widerspenstigkeiten berichtet wird, die in bäuerlichen Gemeinschaften im Zusammenhang mit der Errichtung von Mauern aufkommen.13 Auch wenn dies vermutlich in mancherlei Hinsicht stimmt, waren mythische Elemente offensichtlich schon vor Snorris Zeit bekannt. In dem seltsamen Gedicht ‚Hyndluljóð’ (Hyndlalied) aus dem zwölften Jahrhundert, welches die sogenannte ‚Kleine Völuspá’ beinhaltet, sich aber zum größten Teil mit einer genealogischen Herleitung beschäftigt, wird erzählt, dass Loki ‚Sleipnir empfing von Svadilfari’. Darüber hinaus wird das Alter des Gedankens, dass die Feindschaft zwischen Göttern und Riesen mit einem gebrochenen Vertrag in Zusammenhang steht, der die Göttin Freyja betrifft, durch Anspielungen in zwei Versen der ‚Völuspá’ bezeugt:
Zum Richtstuhl gingen die Rater alle,
heilige Götter, und hielten Rat,
wer ganz die Luft mit Gift erfüllt,
Ods Braut [Freyja] verraten Riesensöhnen.
Nur Thor schlug zu, zorngeschwollen:
Selten sitzt er, wenn er solches hört;
Da wankten Vertrag, Wort und Treuschwur,
alle Eide, die sie ausgetauscht.14
Hier können wir annehmen, dass sich das ‚sie’ in der letzten Zeile auf die Götter und die Riesen bezieht, und dass der Vertrag mit dem Baumeister Auswirkungen auf sämtliche künftigen Beziehungen zwischen beiden Geschlechtern haben werde. Die Unbesonnenheit der Götter, die Ruchlosigkeit Lokis wie auch Thors Präventivschlag – all das sorgt für Feindschaft für alle Zeiten. Der Vorwand, der in der ‚Gylfaginning’ dieser Erzählung vorausgeschickt wird, ist ebenso wichtig, da bestimmte Bildsteine aus dem achten Jahrhundert, die auf der schwedischen Insel Gotland gefunden wurden, ein achtbeiniges Tier mit Reiter abbilden. Diese Bilder wurden interpretiert als mythisches Symbol eines Sarges, der von vier Männern getragen wird (daher die acht Beine).15 Wenn Odin auf Sleipnir ein Symbol des Todes – besonders seines Todes als Anführer der Götter – ist, dann würde Odins Ende die Auslöschung von allem herbeiführen, was mit ihm verbunden wird.
Sowohl in ‚Baldurs Traum’ wie auch in der ‚Gylfaginning’ wird erwähnt, dass Sleipnir, in dem gescheiterten Bemühen, Baldur zu retten, zu Hel in das Totenreich geritten wird – ein Scheitern, das die hoffnungslose Verwundbarkeit der Götter vor Augen führt. In der Tat finden wir diese Verwundbarkeit auch im Zentrum der Erzählung vom Baumeister symbolisiert, da Asgards Wehrmauer niemals vollendet wird. Diese Idee von einer dauerhaften Bruchstelle in der Befestigung finden wir auch in den Überlieferungen isländischer Volksmärchen, in denen die Baufälligkeit einer Kirchenmauer damit erklärt wird, dass ein gefräßiger Troll, oder sogar der Teufel selbst, in den heiligen Raum eingedrungen sei und, vom für ihn furchtbaren Klang der Kirchenglocken erschreckt, bei seiner Flucht das Mauerwerk beschädigt habe.16 Die Kirche sei deshalb auch weiterhin anfällig für das Eindringen bösartiger, ungebetener Gäste. Was die Götter betrifft, sind ihre Tage langfristig gezählt, denn nicht nur die Riesen arbeiten auf ihre Vernichtung hin, sondern auch ihr Vermögen, sich selbst zu verteidigen, ist begrenzt. Thors Aufgabe ist daher definiert, und in Anbetracht dieser Andeutungen über die Sterblichkeit der Götter kann die Erzählung vom Baumeister als erster Schritt in Richtung Ragnarök gesehen werden.
Mjöllnir
Wenn es möglich wäre, eine vollständige Chronologie von Thors Rolle in der Mythologie zu erstellen, müsste in der Erzählung vom Baumeister eine Sache auf jeden Fall bedacht werden: nämlich, dass Thor sich bereits im Besitz von Mjöllnir befindet, da ein anderer Mythos berichtet, wie er den Hammer erhalten hat und dass dessen Hauptaufgabe darin besteht, Riesen zu bezwingen. Die Geschichte vom Ursprung Mjöllnirs wird ausführlich in Snorris ‚Skáldskaparmál’ erzählt, aber sie wird von den erhaltenen Eddaliedern nicht bestätigt. In einem typischen Anflug von Boshaftigkeit hat Loki Sif das Haar abgeschnitten. Thor gerät daraufhin in mörderische Wut und ist festen Willens, Loki zu erschlagen, bis dieser verspricht, Sif als Ersatz Haare aus purem Gold zu bringen, die wie gewöhnliches Haar wachsen sollen. So kommt es, dass Loki bestimmte Zwergenbrüder beauftragt, die Haare zu schmieden; und die Zwerge schmieden nicht nur diese, sie fertigen auch das magische Schiff Skidbladnir, das groß genug ist, alle Asen unterzubringen, und dennoch so zusammengefaltet werden kann, dass es in eine Tasche passt, und schließlich den Speer Gungnir, der den Ausgang von Schlachten vorherbestimmen kann und später Odin übergeben wird. Loki hingegen verlangt mehr und setzt seinen eigenen Kopf bei einer Wette mit zwei anderen Zwergenbrüdern ein, dass diese nicht im Stande seien, drei noch kostbarere Dinge herzustellen als diese. Die Zwerge akzeptieren diesen Wetteinsatz und fertigen daraufhin den goldenen Ring Draupnir, von dem in jeder neunten Nacht acht gleichermaßen wertvolle Ringe abtropfen, einen Eber mit goldenen Borsten, der später den Gott Freyr durch den Himmel und über das Meer tragen wird, und den Hammer Mjöllnir, eine Waffe von großer Macht, die nach jedem Wurf wieder in die Hand ihres Besitzers zurückkehrt. Doch bei der Fertigung wurde derjenige Bruder, der in den Glutofen blasen musste, von einer lästigen Fliege abgelenkt, weshalb der Griff Mjöllnirs etwas kurz geraten ist. Trotzdem wird der Hammer als schönste aller Waffen angesehen, und die Götter entscheiden, dass nur Thor, der Beschirmer vor den Riesen, sein Besitzer sein solle. Als Loki anschließend versucht, der Begleichung seiner Wettschuld bei den Zwergenbrüdern zu entgehen, kann er zwar seinen Hals retten, aber zur Strafe werden seine Lippen zusammengenäht.
Bei einem kritischen Blick würde sich dieser Mythos in hohem Maße als Erfindung Snorris entlarven. Doch die aufwendigen Details der Erzählung sind bestechend, zum Beispiel, dass dem Werkzeug Namen gegeben werden, und dass Lokis Lippen schließlich mit einem Riemen zusammengenäht werden. Dass der Griff Mjöllnirs zu kurz geraten sei, war eine weit verbreitete Annahme, die auch in einer separaten dänischen Überlieferung zu finden ist, wie bei Saxo Grammaticus, wo der Fehler als Folge einer Schlacht zwischen Göttern und Riesen erklärt wird, bei welcher der Hammer beschädigt wurde. Auch für den Namen ‚Mjöllnir’ werden mehrere Erklärungen geboten: eine ist, dass sich der Name vom altnordischen Wort mjöll ableitet, was ‚Neuschnee’ bedeutet; eine andere, besonders ansprechende Erklärung besagt, dass er eine Verfälschung des altslawischen Wortes mluniji (russisch: molnija) sei, was „Blitz“ bedeutet, einen der wesentlichen Aspekte Mjöllnirs.
Mjöllnir ist Gegenstand noch eines anderen Mythos, in welchem seine heilige, rituelle Funktion beschrieben wird; aber auch hier sind bereits Zweifel an der Authentizität dieses Mythos aufgekommen. In diesem Falle liegt das Problem allerdings genau umgekehrt, da dieser Mythos nur in einem einzigen Eddalied auftritt und bei Snorri keine Erwähnung findet. Die ‚Þrymskviða’ (Thryms Lied) erzählt vom Diebstahl von Thors Hammer durch einen Riesen und von der List, die sich die Götter erdachten, um ihn zurückzuerlangen. Es ist eine ausgesprochen witzige Erzählung, in deren Verlauf Thor tief erniedrigt wird. Diese Respektlosigkeit veranlasste einen Wissenschaftler anzunehmen, dass es sich um die Verballhornung eines altnordischen Mythos durch einen christlichen Verfasser handelt, der möglicherweise auch Snorri selbst gewesen sein könnte.17 Gegen diese Behauptung wurde angeführt, dass das Bild der Götter in heidnischer Zeit nicht zwangsläufig auf den feierlichen Ernst beschränkt war, der für den christlichen Glauben charakteristisch ist; in der Tat wurde das Possenspiel an sich in den altnordischen Mythen durchaus geachtet. Ein komisches, respektloses Verhalten der Götter ist durchaus ein besonderes Merkmal einiger Eddalieder, bei denen man von einer Niederschrift vor der Bekehrung ausgeht.
In der ‚Þrymskviða’ stellt Thor beim Erwachen fest, dass sein Hammer fehlt. Daraufhin borgt sich Loki von der Fruchtbarkeitsgöttin Freyja einen magischen Umhang, der ihn befähigt zu fliegen. Im Land der Riesen trifft er auf Thrym, der zugibt, Mjöllnir gestohlen und acht Meilen unter der Erdoberfläche vergraben zu haben. Thrym will den Hammer nur dann zurückgeben, wenn er Freyja zur Braut bekommt – ein Antrag, den die Göttin bei Lokis Rückkehr erbost zurückweist. Die Götter beratschlagen, was zu tun sei, und Heimdall schlägt vor, Thor als Freyja zu verkleiden, damit er seinen Besitz zurückholen und gebührende Rache nehmen könne. Thor ist wenig begeistert über diesen Vorschlag, aber als Loki ihn daran erinnert, dass ‚bald Riesen im Ratersaal [sitzen], holst du nicht heim den Hammer dir’, gibt er nach.18 Thor, als Freyja verkleidet, macht sich mit Loki, der wie eine Magd gekleidet ist, in seinem Streitwagen auf den Weg. Sie kommen an, begleitet von einer Feuersbrunst und einem die Erde erschütternden Lärm, und der Riese glaubt, es sei seine Braut, die sich nähert. Auf Thryms Hof wird Thor mit einem Festmahl begrüßt, bei dem er einen Appetit zeigt, der dem Riesen etwas merkwürdig erscheint. Nachdem Thrym versichert wurde, dass Freyja tagelang so aufgeregt gewesen sei, dass sie nichts habe essen können, fragt er nach ihren Furcht erregenden, feurigen Augen, worauf ihm wiederum versichert wird, dass Freyja seit längerer Zeit auch nicht geschlafen habe. Thryms Schwester kommt herein und fordert ein Geschenk von der zukünftigen Braut. An diesem Punkt besteht Thrym darauf, Mjöllnir auf Thors Schoß zu legen, um die Ehe zu segnen und damit – vermutlich – der Braut Fruchtbarkeit zu bringen. Thor hingegen hat anderes mit Mjöllnir im Sinn und richtet verheerende Verwüstungen an, wobei er Thrym, dessen Schwester und die ganze Sippe des Riesen tötet.
Obwohl nirgendwo sonst auf diese possenhafte Erzählung Bezug genommen wird, ist die Existenz eines Riesen namens Thrym mit ziemlicher Gewissheit keine Erfindung Snorris, da Thrym in der Namensliste der Riesen in der ‚Skáldskaparmál’ erwähnt wird, und ein Ort namens Thrymheim (‚Thryms Heim’ oder – wörtlicher –‚Haus des Donners’) wird sowohl in der ‚Gylfaginning’ als auch in dem Lied ‚Grímnismál’ genannt, wenngleich es in diesen Fällen heißt, dass er der Wohnsitz eines Riesen namens Thjazi sei. Ein möglicher und spannender Hinweis auf Thrym könnte hinter der Kenning stehen, die der Dichter Bragi Boddason im neunten Jahrhundert verwendete und die Snorri in der ‚Skáldskaparmál’ anführt. In dieser Kenning bezieht sich Bragi auf Thor als den ‚Zerschmetterer der neun Häupter des Thrivaldi’, über den sonst nichts weiter bekannt ist, und beglückwünscht ihn dann dafür, dass er ‚die Rosse gehalten hat mit dem berühmten Riesen-Gelage-Trinker’.19 Falls mit ‚Riesen-Gelage-Trinker’ Thrym gemeint ist – ein Name, der auch ‚Donner’ bedeuten könnte – und damit eine Anlehnung an die Ankunft des Donnergottes auf Thryms Hof, dann verschmelzt Bragi – kaum merklich – Namen, Handlung und Szenen aus der ‚Þrymskviða’ miteinander. Dass dies von einigen für eine kühne Spekulation gehalten wird, dürfte kaum überraschen.
Hrungnir und Geirröd
Zwei Geschichten von Thors Zusammenstößen mit Riesen werden in der ‚Skáldskaparmál’ aufeinanderfolgend erzählt, anscheinend als Erklärung für die Hintergründe bestimmter Kenningar. Beide Mythen gründen auf vorchristlichen Skaldenversen.
Hrungnir
In der ersten Geschichte ist Thor, wie so oft in solchen Fällen, zunächst abwesend und ‚nach Osten gegangen, um Trolle zu erschlagen.’20 Odin wählte diesen Moment, um auf seinem achtbeinigen Ross Sleipnir ins Riesenland zu reiten: Als er am Haus des Riesen Hrungnir ankommt, prahlt er mit seinem Pferd und sorgt damit schnell für Streit. Es folgt eine Verfolgungsjagd, bei der Hrungnir, auf dem Rücken seines Pferdes Gullfaxi, Odin aus dem Riesenland und direkt durch die Tore von Asgard treibt. Die anderen Asen halten es für klug, dem Riesen ein Getränk anzubieten, worauf dieser eine so große Menge an Bier konsumiert, dass er betrunken wird und sich polternd damit brüstet, dass er Walhall ins Riesenland tragen, Asgard zerstören und Freyja und Sif entführen wolle. Beunruhigt rufen die Götter Thor zu Hilfe, der im Nu erscheint. Thor möchte kurzen Prozess mit Hrungnir machen, doch der Riese protestiert, dass er unter Odins Schutz stehe und dass er seine Waffen – seinen Wetzstein und sein Schild – nicht bei sich habe. Stattdessen bietet er Thor einen Zweikampf an den Grenzen des Riesenlandes an. Thor nimmt dies begierig an, denn niemand hat bisher je gewagt, ihn derart herauszufordern.
Weil Hrungnir der schlagkräftigste seiner Art ist, sind sich die Riesen sicher, dass er siegen werde. Aus Lehm formen sie einen enormen Riesen namens Mökkurkalfi (‚Nebelwade’), dem sie Leben verleihen, indem sie ihm das Herz einer Stute einsetzen. Sie stellen ihn neben Hrungnir mit dem steinernen Herzen, der, mit seinem Wetzstein und seinem Schild bewaffnet, auf Thors Ankunft wartet. Doch Thors Diener Thjálfi geht seinem Herrn voraus und teilt Hrungnir mit, dass Thor ihn von unten her angreifen werde, woraufhin Hrungnir sich auf seinen Schild stellt. Doch dies ist eine geschickte Täuschung, denn im richtigen Augenblick kommt Thor, inmitten von Blitz und Donner, vom Himmel herabgebraust und schleudert seinen Hammer gegen den Kopf des Gegners. Während Mökkurkalfi so ängstlich daneben steht, dass, wie erzählt wird, ,er Wasser lassen musste, als er Thor sah’,21 antwortet Hrungnir mit seinem Wetzstein, den er dem Gott entgegenschleudert. Die beiden Wurfgeschosse treffen sich in der Mitte, und der Wetzstein zerbricht in zwei Teile, von denen einer in Thors Kopf einschlägt. Doch Mjöllnir ist nicht vom Kurs abgewichen und fährt mit Wucht in Hrungnirs Schädel, der daraufhin zerspringt. Derweil Thjálfi Mökkurkalfi zerstört, kippt der tote Hrungnir nach vorn; das Bein des Fallenden reißt Thor zu Boden und hält ihn dort fest. Keiner der Götter kann es vom Fleck bewegen, mit Ausnahme von Thors erstaunlichem kleinem Sohn Magni. Sein Vater belohnt Magni, indem er ihm Hrungnirs Pferd zum Geschenk macht, eine Geste, die Odin unangemessen findet, weil Magni der Sohn der Riesin Jarnsaxa ist. In der Zwischenzeit braucht Thor medizinische Hilfe, und die Zauberin Gróa kommt, um den Wetzstein mit Zaubersprüchen aus Thors Schädel zu entfernen. Erfreut über den Fortschritt ihrer Arbeit, erzählt Thor Gróa, dass er jüngst ihrem Gatten Aurvandill geholfen hat, indem er ihn in einem Korb über einen großen Fluss trug; doch einer von Aurvandills Zehen erfror, und Thor brach ihn ab und warf ihn in den Himmel, wo er zu einem Stern wurde. Vor Freude, dass ihr Gatte bald daheim sein wird, vergaß Gróa ihre Zaubersprüche, so dass der Wetzstein in Thors Kopf eingeklemmt bleibt. Laut Snorri ist es deshalb tabu, Wetzsteine zu werfen, weil sich dann der Wetzstein in Thors Kopf bewegt.
Snorris leuchtende Darstellung dieses Mythos folgt seiner offenkundigen Hauptquelle, einem Auszug von Thjodolf or Hvinis Gedicht ‚Haustlöng’ (‚Herbstlange’). Von diesem Gedicht ist bekannt, dass es in Norwegen zwischen dem späten neunten und frühen zehnten Jahrhundert verfasst wurde und deshalb eine von Snorris ältesten noch vorhandenen Quellen ist. Es behandelt Szenen auf einem Schild, der dem Dichter von seinem Mäzen Thorleif dem Weisen zum Geschenk gemacht wurde. Auf jedem Viertel dieses Schildes waren mythische Szenen abgebildet, die den Dichter inspiriert haben, darunter auch Thors Kampf mit Hrungnir. Der Mythos spielt offensichtlich eine zentrale Rolle in den Glaubensvorstellungen um Thor, und Hrungnir wird in fünf weiteren Eddaliedern erwähnt, ebenso wie in Kenningar anderer Skalden auf ihn Bezug genommen wird, wie von Bragi Boddason im frühen neunten Jahrhundert in seiner Anspielung auf Thor als ‚Hrungnirs Schädelspalter’.22 Während jedoch die Bemühungen Gróas, den Wetzstein aus Thors Kopf zu entfernen, im ‚Haustlöng’ wieder auftauchen – wo die Operation als erfolgreich geschildert wird – erscheint die Geschichte, die Thor von Aurvandills Zeh erzählt, einzig bei Snorri. Die richtige Schlußfolgerung ist wahrscheinlich, dass es sich hierbei um Snorris Ausführung handelt, die möglicherweise auf einem mittelalterlichen Volksmärchen gründend, das den Namen eines Sterns namens ‚Aurvandills Zeh’ zu erklären versucht. Das verwandte altenglische Wort earendil, das ‚Lichtstrahl’ bedeutet, unterstützt diese Möglichkeit.23
Geirröd
Der zweite Mythos dieser Folge handelt von Thors Kampf mit dem Riesen Geirröd: Wieder einmal wird er durch Loki in Schwierigkeiten mit den Riesen gebracht. Durch reine Waghalsigkeit ist Loki, in Gestalt eines Falken, in die Gefangenschaft des Riesen geraten, der ihn in eine Kiste gesperrt hat und dort seit drei Monaten ohne Nahrung festhält. Bei einer Art Verhör verhandelt Loki um seine Freiheit, für die er Geirröd im Gegenzug verspricht, Thor ohne seinen Kraftgürtel und ohne Mjöllnir an seinen Hof zu bringen. Wie Loki dies erreicht, wird nicht erzählt, aber auf seiner Reise mit Loki in das Land der Riesen hat Thor das Glück, bei einer hilfsbereiten Riesin namens Grid unterzukommen, der Tochter des Gottes Vidar des Schweigsamen, der selbst ein Sohn des Odin und damit ein Halbbruder Thors ist. Grid berichtet Thor von Geirröds Bosheit und leiht ihm ihren eigenen Kraftgürtel, ein Paar eiserner Handschuhe und ihren Stab Griðarvölr. Bald kommt Thor an einen großen Fluss namens Wimur. Mit Loki, der unter dem Kraftgürtel verborgen ist, und der Unterstützung von Griðarvölr gelangt er in die Mitte des Flusses und wird beinahe von der reißenden Flut mitgerissen, als er sieht, dass die Ursache für deren Ansteigen Geirröds Tochter Gjalp ist, die in den Fluss uriniert; diese Unflätigkeit wird von einigen Kritiker auch als das Ausscheiden von Menstruationsblut interpretiert. Er schleudert ihr einen großen Stein entgegen und ruft dabei: ‚Am Ausfluss soll der Strom sich stauen.’24
Thor schafft es daraufhin, ans Ufer zu klettern, indem er einen Ebereschenbusch ergreift, welcher danach als ‚Thors Schutz’ bekannt wird. An Geirröds Hof werden Thor und Loki sodann in einem Ziegenschuppen einquartiert. Als Thor sich auf den einzigen Stuhl setzt, wird er emporgehoben und gegen das Dach gedrückt, so dass er zerquetscht zu werden droht. Doch dank Griðarvölr gelingt es ihm, den Stuhl wieder hinunter zu drücken, worauf ein schreckliches Geschrei zu hören ist. Dessen Ursprung, so entdeckt Thor, sind Gjalp und ihre Schwester Greip, die sich unter dem Stuhl befanden und deren Rücken nun zerquetscht sind. Als er Geirröds Saal betritt, schleudert der Riese ihm einen Klumpen geschmolzenen Eisens entgegen, welchen er mit einem von Grids eisernen Handschuhen auffängt und zu seinem Gastgeber zurückschleudert, der sich hinter einer eisernen Säule versteckt. Doch Thors Wurf ist so gewaltig und tödlich, dass das geschmolzene Metall die Säule, Geirröd und die Außenwand durchschlägt.
Im späteren zehnten Jahrhundert verfasste der Skaldendichter Eilif Gudrunarson ein Preisgedicht auf Thor, das bekannt geworden ist als ‚Þórsdrápa’ (Preislieder auf Thor). Neunzehn Strophen dieses ausgesprochen schwierigen Gedichtes wurden in Snorris Edda übertragen, direkt hinter seine eigene Erzählung des Mythos von Geirröd. Wenig ist über Eilif bekannt, außer dass er dem norwegischen Herrscher Jarl Hakon Sigurdarson als Hofdichter diente und, was nicht verwundert, ein überzeugter Verehrer der altnordischen Götter war. Zwischen Snorris Darstellung und jener von Eilif gibt es eher geringe Unterschiede; die vielleicht bemerkenswerteste Abweichung besteht darin, dass es Thors Diener Thjálfi und nicht Loki ist, der Thor auf seiner Reise begleitet, und dass Thor in Eilifs Gedicht auf Mjöllnir zugreifen kann. Obwohl es kein Eddalied gibt, das die Version dieses Gedichts stützt, war es Saxo Grammaticus auch aus dänischen Überlieferungen bekannt. Saxos Gesta Danorum berichten von der Reise eines Thorkil (in der lateinischen Form ‚Thurkillus’ genannt) in das Reich des Geruth, wo er und seine Begleiter den durchbohrten, verkrümmt unter einem zersplitterten Felsen liegenden Körper eines alten Mannes und die mit Geschwülsten durchsetzten Leichen dreier Frauen mit gebrochenen Wirbelsäulen vorfinden. Schnell teilt Thorkil seinen Männern mit, dass dieses die Auswirkungen von Thors Werk sei: der alte Mann wurde von einem brennenden Eisenblock getötet und die Frauen von Thors Donnerkeil niedergestreckt. In der Nähe ist der Hort eines verfluchten Schatzes, der all jenen ein grausames Ende bereitet, die so töricht sind, ihn plündern zu wollen.25 Ein weiteres Zeugnis für die Popularität dieses Mythos bis in das Mittelalter hinein liegt in der isländischen Erzählung Þorsteins þáttr bœjarmagns (Thorstein Haus-Macht) vor, in der der wendige Thorstein den Geirröd mit einer Zaubermurmel tötet und seinen Saal niederbrennt. In dieser Version aus dem späten zehnten Jahrhundert wird der Erfolg des Helden der Unterstützung des christlichen norwegischen Königs Olaf Tryggvason (gest.1000 u. Ztr.) zugeschrieben.
Thor und Utgardloki
Den größten Raum unter Thors Abenteuern mit den Riesen gewährt Snorri einer Erzählung in der ‚Gylfaginning’. Gylfi fragt die ‚Götter’ nach den Grenzen von Thors Kraft aus, worauf sie sofort mit Widerwillen zu reagieren scheinen. Nichtsdestotrotz erklärt derjenige, der sich Thridi nannte – was auch ein Beiname Odins ist –, dass er nicht lügen wolle, auch wenn die Geschichte ‚nicht schön zu erzählen ist’.26 Thor und Loki sind mit Thors Wagen unterwegs und beschließen, ihr Nachtquartier im Hause eines Bauern zu nehmen. Thor bereitet ein Mahl für die Familie, indem er seine eigenen Böcke schlachtet, häutet und kocht. Er verlangt, dass die Knochen heil bleiben und anschließend auf die Bocksfelle geworfen werden müssen, doch Thjálfi, der Sohn des Bauern, hört nicht darauf und spaltet – von Thor unbemerkt – einen Knochen auf, um an das Mark zu kommen. Als der Morgen dämmert und Thor seinen Hammer erhebt, um ein heiliges Ritual durchzuführen, das seine Böcke wieder ins Leben zurückholt, stellt er fest, dass einer von ihnen lahmt. Aus Angst um das Leben seiner Familie sucht der Bauer Thor zu beruhigen, indem er ihm seinen Sohn Thjálfi und seine Tochter Röskwa als Geschenke überlässt.
Nachdem sie ihre Reise ins Land der Riesen nun zu Fuß fortgesetzt hatten, führte der Weg die beiden Götter und die Kinder über einen großen Fluss und hinein in einen Wald. An ihrem Weg lag etwas, das aussah wie ein großes, leeres, eigenartig aussehendes Gebäude. Hier beschlossen sie zu rasten. In der Nacht gibt es einen großen Tumult, als dessen Urheber sich am nächsten Morgen ein Riese herausstellt, der so groß ist, dass Thor vor einem Angriff zurückschreckt. Der Riese stellt sich selbst als Skrymir vor. Als er Thor erkennt, fragt er diesen, was er und seine Gefährten mit seinem Handschuh vorhaben, denn es war der Daumen von Skrymirs Handschuh, in welchem sie die Nacht verbracht hatten. Thor ist damit einverstanden, dass Skrymir sie begleitet und sie ihre Vorräte zusammenlegen. Bei Einbruch der Nacht suchen sie Schutz unter einem Baum, und Thor versucht vergeblich, den Rucksack des Riesen zu öffnen, in dem sich ihr Proviant befindet. Er gerät darauf in Wut und schmettert seinen Mjöllnir dem schlafenden Riesen gegen die Stirn, der aber nur kurz erwacht und sich beklagt, dass ihm ein Blatt auf den Kopf gefallen sei. Mit wachsendem Grimm attackiert Thor den Riesen noch zweimal, aber auch jetzt denkt Skrymir immer, dass lediglich eine Eichel oder eine andere Kleinigkeit von den Zweigen auf ihn herabgefallen sei. Als der Morgen dämmert, sagt Skrymir ihnen, dass es nur noch ein kurzes Stück Weges bis zur Burg des Königs Utgardloki sei, und mit dem Rat, dem König und seinem Gefolge die angemessene Ehrerbietung zu erweisen, entfernt er sich.
Bei ihrer Ankunft auf der Burg sind sie nicht in der Lage, die Tore zu öffnen; sie zwängen sich daher durch die Gitterstäbe und gelangen so in Utgardlokis großen Saal – woraufhin der König von ihnen gewisse Kunststücke verlangt, wenn sie zu bleiben wünschen. Als erstes muß Loki mit Logi um die Wette essen und verliert, sodann unterliegt der schnellfüßige Thjálfi gleich in drei Wettläufen einem gewissen Hugi, obwohl es ihm gelingt, seine Niederlage einigermaßen in Grenzen zu halten. Schließlich ist Thor an der Reihe und entscheidet sich für einen Wettbewerb im Trinken. Utgardloki bringt ihm ein Horn und erklärt ihm, dass bisher noch niemand verfehlt hat, das Horn in mindestens drei Zügen zu leeren. Weit davon entfernt, es ausleeren zu können, macht Thor allenfalls bei seinem dritten Versuch etwas Eindruck. Als nächstes soll Thor eine große Katze vom Boden aufheben, aber so sehr er sich auch anstrengt, schafft er es nur mit größter Mühe, eine ihrer Pfoten anzuheben. Thor schlägt nun vor, jemanden im Einzelkampf zu besiegen, aber sein Gastgeber macht sich über ihn lustig und läßt seine alte Ziehmutter Elli herbeirufen, die als einzige am Hofe eine Herausforderung von einem derartigen Schwächling annimmt. Wieder gelingt es Thor nicht, die anderen zu beeindrucken, und der Kampf wird beendet. Die Gefährten werden nun aufwändig bewirtet und ziehen sich dann zurück.
Am nächsten Morgen begleitet Utgardloki Thor und die anderen aus der Burg hinaus bis zur Straße und nötigt Thor zuzugeben, dass er sich ordentlich blamiert habe. Darauf erklärt Utgardloki dem Gott aber, dass er ihn, wenn er von seiner gewaltigen Kraft gewusst hätte, niemals in seine Burg aufgenommen hätte, und dass durch seine Taten beinahe sein Königreich zugrunde gegangen wäre. Er gibt zu, dass Skrymir niemand anders als er selbst gewesen sei. Der Proviantsack, so erklärt er, war mit Eisen zugebunden, und die Hammerschläge, mit denen Thor geglaubt hatte, ihn getroffen zu haben, haben in Wahrheit drei Täler in einen Tafelberg geschlagen. Ähnlich waren auch die Wettbewerbe Täuschungen. Lokis Herausforderer Logi (Flamme), war nichts Geringeres als ein Waldbrand, während Thjálfis Gegner Hugi (Gedanke) des Königs Gedanken waren. Was Thors Herausforderungen betrifft, so war das Horn mit dem Meer verbunden, dessen Spiegel von Thors großen Schlucken beträchtlich gesenkt wurde; die Katze war die monströse Midgardschlange, die die Welt umspannt; und der Name der alten Frau, Elli, bezeichnet genau das, was sie war: nämlich das Alter. Aufgebracht durch diese Geständnisse, greift Thor nach Mjöllnir, aber Utgardloki und seine Burg sind verschwunden.
Der Mythos von Thor und Utgardloki hat wenig von der Undurchsichtigkeit, die den ungeschliffenen Mythen zueigen ist; eher hat er in seiner Machart etwas von einem künstlerisch ausgearbeiteten Volksmärchen, und es ist kaum zu bezweifeln, dass dies der Fall ist. Es ist auch möglich, dass die Geschichte von der Lähmung der Böcke und deren Wiederbelebung durch Thor aus hagiographischen irischen Erzählungen der Wikingerzeit übernommen wurde, und dass Ähnlichkeiten mit irischen Volksmärchen – so wie die Episoden, die den Riesen Skrymir betreffen, und die Serie von Wettbewerben an Utgardlokis Hof – auch eine keltische Herkunft dieses speziellen Mythos andeuten.27 Dennoch bleibt einiger Grund zu der Annahme, dass hinter dieser Kunstfertigkeit Elemente authentischer sakraler Mythologie mit skandinavischen Wurzeln stehen. Als Thor in der ‚Lokasenna’ zurückkehrt, um dem Unruhe stiftenden Loki entgegenzutreten, verhöhnt ihn dieser und erinnert ihn daran, dass ‚du, Held, hocktest in des Handschuhs Däumling’, und
Rau schienen dir die Riemen Skrymirs,
nicht kamst du zur Kost.28
Ähnlich wird Thor, im verbalen Schlagabtausch mit Odin in der VerkleIdunag des Fährmannes Harbard, im ‚Hárbarðsljóð’, an seine Schmach bezüglich seiner Händel mit einem gewissen Fjalar erinnert, der vermutlich Skrymir ist:
Thor hat Kraft genug, doch keinen Mut:
Vor Schrecken und Herzensangst wurdest du in den Handschuh gestopft,
und nicht trautest du dich, Thor zu sein:
du wagtest nicht einmal vor lauter Angst
zu niesen und zu furzen, dass es Fjalar vernahm.29
Eine sogar noch größere Ähnlichkeit mit dem Skrymir-Mythos – oder vielleicht einen entsprechenden Einfluss – können wir in einem russischen Volksmärchen vom ritterlichen Helden Ilya finden, dessen Versuche, den Riesen Svyatogor mit seiner Keule zu erschlagen, beinahe identisch mit Thors Bemühungen sind, Skrymir mit seinem Mjöllnir zu töten. Ebenso konnten Versatzstücke von Volksmärchen aus dem Kaukasus nachgewiesen werden, in denen von Helden die Rede ist, die in riesigen Handschuhen schlafen, mit dem beschwerlichen Gepäck von Riesen hantieren und allerlei Kraftproben zu verrichten haben.
Während einiges für die Möglichkeit spricht, dass Utgardloki erst später in den Mythos eingefügt wurde, ist ein anderer, etwas verwirrender Hinweis auf ihn – wie jener bezüglich Geirröd und seiner Töchter – ebenfalls in Saxos Erzählung von den Abenteuern Thorkils zu finden. Auf einer Wanderung wird Thorkil geraten, sich der Orakelweisheit von Utgardloki zu bedienen, doch als er dessen armseliges, von Schlangen befallenes Lager erreicht, findet er ihn sterbend, bemitleidenswert und in Fesseln gebunden vor. Während diese Variante gewiss mehr Ähnlichkeiten mit der Fesselung Lokis aufweist, nachdem er die Ermordung Baldurs verschuldet hatte, als mit Snorris Darstellung, wie Thor in den Händen von Utgardloki behandelt wurde, ist sie nichtsdestotrotz bemerkenswert. In einer Hinsicht gibt es Parallelen zwischen Thors Verbindung mit Utgardloki und jener zwischen Thor und Odin, besonders im ‚Hárbarðsljóð’, da Thor in beiden Fällen als sprachlich ungewandt dargestellt wird. Dasselbe kann über Thors Mangel an Raffinesse im Vergleich zu seinem häufigen Gefährten Loki gesagt werden, der in diesem Mythos außergewöhnlich stumm ist und dessen stille Duldsamkeit durch das Verhalten von Utgardloki (Loki der äußeren Zäune) ausgeglichen wird. Ebenso offenkundig spielt Thor eine Schlüsselrolle bei der Fesselung Lokis (siehe ‚Ragnarök entgegen’ in diesem Kapitel). Saxos Erzählung ist dann möglicherweise eine Verschmelzung aus Lokis Bestrafung und einer eventuellen Rache, die Thor zu einem späteren Zeitpunkt der Mythologie an Utgardloki nimmt.
Genau wie Utgardloki als analoge Schöpfung zu Odin und Loki gesehen werden kann, so kann sein Hof als Parallele zu Asgard betrachtet werden, da – sehr ungewöhnlicher Weise – die Riesen in dieser Erzählung als ebenso geistreich, erfinderisch und kulturell verfeinert dargestellt sind wie ihre göttlichen Feinde.30 Im Zentrum der Erzählung steht eine Bemessung der jeweiligen Stärken und Schwächen von Göttern und Riesen; etwas, das gewissermaßen ihre Konfrontation in der Ragnarök abwendet. Auch wenn die Riesen sich letztendlich als den Göttern in Fragen reiner Macht unterlegen erweisen, wie anhand der Person Thors dargestellt, so zeigen sich ebenso die Grenzen von Thors Kraft, vor allem gegenüber den magischen Künsten. Vielleicht sträuben sich Gylfis Informanten aus diesem Grunde, das wahre Ausmaß von Thors Kräften offen zu legen, denn dieses zu kennen bedeutet ebenso, seine Schwächen zu kennen. Man bedenke, dass diese Erzählung von Thor den Gott stärker vermenschlicht als irgendeine andere. Seine Annahme menschlicher Diener, vor allem des unfehlbar loyalen Thjálfi, unterstreicht die Wahrnehmung Thors als denjenigen Gott, den die menschliche Mentalität begreifen, und dem sie infolgedessen vertrauen kann.
Thors Fischzug: Die Midgardschlange
Die Midgardschlange, auch bekannt als Jörmungand (Weltenschlange), gehört zusammen mit dem Wolf Fenrir und der Göttin Hel zu Lokis monströsen Ausgeburten. Nach Snorri – und wie es sowohl in der skaldischen als auch der eddischen Dichtung bezeugt wird – sind diese die Ergebnisse von Lokis Verbindung mit der Riesin Angrboda, deren Name ‚die Kummer Bereitende’ bedeutet. Als Odin der Gefährlichkeit dieser Kreaturen gewahr wird, weist er ihnen Plätze in den äußeren Weltbezirken zu: die Midgardschlange wird in das Meer geworfen, wo sie solche Ausmaße annimmt, dass sie die ganze Welt umspannt. Die ‚Götter’ erzählen Gylfi, dass Thor sich, bei seiner Rückkehr nach dem Debakel an Utgardlokis Hof, ‚entschlossen habe, nach einer Gelegenheit für ein Zusammentreffen zwischen ihm und der Midgardschlange zu suchen.’31 Thors offensichtliche Motivation ist die Wiederherstellung seines Rufes, und ‚es ist bekannt, auch unter Nichtwissenschaftlern, dass Thor Wiedergutmachung zuteilwird durch diese Expedition.’32 In solcher Eile, dass er sich nicht einmal bemüht, seinen Wagen bereit zu machen, reist Thor allein durch Midgard, bis er zum Heim des Riesen Hymir gelangt, der ihm Quartier für die Nacht gewährt.
Am Morgen macht sich Hymir zum Fischen bereit. Abgesehen davon, dass er grundsätzlich an der Tapferkeit und Stärke seines Gastes zweifelt, äußert er Bedenken, als Thor darauf beharrt, ihn begleiten zu dürfen. Nachdem der Riese Thor gesagt hat, dass er sich einen eigenen Köder besorgen solle, reißt Thor einem der Ochsen des Riesen den Kopf ab und sie stechen mit einem Ruderboot in See. Thor reicht es jedoch nicht, in Hymirs gewohnten Fischgründen zu angeln, und, obwohl er vor der Gefährlichkeit der Midgardschlange draußen im offenen Meer gewarnt wurde, drängt er den zunehmend besorgten Hymir, immer weiter hinauszufahren. An einem weit vom Ufer entfernten Punkt wirft Thor seine Angelschnur mit dem Ochsenkopf aus, ,denn es kann gesagt werden, dass Thor die Midgardschlange nicht weniger genarrt hat, als Utgardloki Thor zum Gespött gemacht hat, als er die Schlange mit seiner Hand hob.’33 Die sich am Haken windende Schlange bringt Thor in arge Bedrängnis, doch unter Aufbietung aller Kräfte drückt er seine Füße durch den zerberstenden Boden des Bootes und stellt sich auf den Meeresboden, so dass es ihm gelingt, die Schlange bis auf Augenhöhe anzuheben. Als die diese ihr Gift verspritzt, will Thor nach Mjöllnir greifen, doch der verschreckte Hymir ergreift in fürchterlicher Panik sein Messer und durchschneidet Thors Angelschnur. Dieser wirft Mjöllnir nach der Schlange, doch – wie es Gylfi erzählt wurde – bleibt die Frage, ob es ihm gelungen ist, sie zu töten, offen. Für seine Feigheit wirft Thor Hymir über Bord und kehr anschließend ans Ufer zurück.
Von allen Mythen, die in literarischen Quellen aufgezeichnet sind, ist keiner weiter verbreitet als diese. Snorris Hauptquelle war mit ziemlicher Gewissheit das Eddalied ‚Hymskviða’ (Hymirlied), das aller Wahrscheinlichkeit nach während des elften oder zwölften Jahrhunderts entstanden ist. In diesem Lied steht Thors Fischzug damit im Zusammenhang, dass die Götter einen großen Kessel benötigen, um ausreichend Bier für den Winter brauen zu können oder vielmehr den Riesen Ägir dazu zu drängen. Der Gott Tyr kennt solch einen Kessel; sein Vater – der sich als Hymir herausstellt – besitzt ihn. Thor und Tyr brechen in Thors Wagen auf und begegnen zunächst Egil, Hymirs Ziegenhirten, der sich um Thors Böcke kümmert und sie zu Hymirs Halle bringt. Hier treffen sie auf Tyrs Großmutter, die mit ihren 900 Häuptern sehr schrecklich aussieht, sowie auf seine mit Gold geschmückte Mutter. Den Göttern wird bedeutet, sich hinter einer Säule zu verstecken. Als der übel gelaunte Hymir heimkommt, erzählen ihm die Frauen von der Anwesenheit der Besucher, worauf Hymir die Säule durch seinen Blick zerspringen lässt. Er heißt seinen Sohn nicht willkommen und ist sichtlich verärgert, als er Thors gewahr wird, doch scheint er sich verpflichtet zu fühlen, den Besuchern für die Nacht seine Gastfreundschaft zu gewähren. Während des Abendessens verschlingt Thor zu Hymirs Erstaunen zwei ganze Ochsen.
Thor und Tyr holen den Braukessel von Voenix
Am nächsten Tag gehen Thor und Hymir fischen, und der Riese fängt zwei Wale gleichzeitig, während Thor seine Angelrute mit dem Ochsenkopf als Köder präpariert. Doch anders als in Snorris Darstellung, bekommt Thor nicht nur die Midgardschlange an den Haken; es gelingt ihm auch, Mjöllnir in ihren Kopf zu schmettern. Abgesehen vom kosmischen Nachhall bleibt aber unklar, ob er sie getötet hat. Bei der Rückkehr an Land trägt Thor Hymirs Boot und einen der Wale in den Saal. Hymir versucht, Thor zu provozieren, indem er seine Kraft in Frage stellt und ihn herausfordert, einen kostbaren kristallenen Becher zu zerbrechen. Dies gelingt Thor, als Tyrs Mutter ihm rät, den Becher an den Kopf ihres Gatten zu werfen. Nun bietet Hymir an, ihnen den Kessel unter der Voraussetzung zu geben, dass einer von beiden ihn heben könne – was Thor auch gelingt. Auf ihrem Heimweg mit dem Kessel werden sie von Hymir und einem Trupp Riesen verfolgt, die Thor alle tötet. Danach fängt einer von Thors Ziegenböcken an zu lahmen, was anscheinend Lokis Werk ist. Das Gedicht endet mit der Freude darüber, dass die Götter nun jeden Winter reichlich Bier zu trinken haben.
Die ‚Hymskviða’ ist in vielen Punkten schwierig zu verstehen, und es ist anzunehmen, dass dieses Gedicht Elemente anderer, wohl früherer Versionen beinhaltet, in denen Thors Begleiter nicht Tyr war, sondern entweder Loki, dessen Vater definitiv ein Riese gewesen ist (während es keine andere Quelle gibt, die besagt, dass Tyrs Vater riesischer Herkunft gewesen sei), oder Thors Diener Thjálfi – dessen Vater möglicherweise der Ziegenhirte Egil ist, dem die Götter bei ihrer Ankunft in der Nähe von Hymirs Halle begegnen. Interessanterweise wird auf Egil als Vater Thjálfis noch einmal am Ende des Gedichtes angespielt, wo die Rede ist von ‚dem, der auf Lava wohnt’ und ‚mit seinen beiden Kindern dafür bezahlt hat’34 – eine merkwürdige Übereinstimmung mit Thors Adoption von Thjálfi und Röskwa in Snorris Erzählung von Thor und Utgardloki und natürlich mit der Darstellung des lahmen Ziegenbocks, die sowohl im Eddalied als auch in der Snorra-Edda zu finden ist. Doch trotz dieser rätselhaften Querverbindungen gibt es gewisse begriffliche Unterschiede zwischen der ‚Hymskviða’ und Snorris Version, was die Stellung der Götter, sowie die Einstellung ihnen gegenüber, betrifft. Einige Interpreten schreiben dies dem unterschiedlichen Einfluss durch christliches Gedankengut zur jeweiligen Entstehungszeit der beiden Fassungen zu.35
Gleichwohl sind die Popularität und die zentrale Stellung der Mythen von der heidnischen bis in die christliche Zeit an ihren Darstellungen auf Bildsteinen zu erkennen. Die ältesten sind Szenen auf einem Stein aus dem achten Jahrhundert, der in Ardre auf Gotland entdeckt wurde, und Thor eingerahmt mit einem Ochsen und in einem weiteren Rahmen Thor mit einer Gestalt in einem Boot zeigt. Etwa 300 Jahre jünger ist der Altuna-Stein in Schweden, welcher, wie der stark ausgewaschene und daher nicht genau datierbare Hørdum-Stein in Dänemark, Thor zeigt, dessen Füße durch den Boden des Bootes ragen, genau wie von Snorri erzählt. Von besonderem Interesse ist indes eine Steingravur, die außerhalb Skandinaviens entdeckt wurde und den angelnden Thor mit einem Ochsenkopf als Köder darstellt. Es handelt sich um den sogenannten Angelstein, der heute in der St. Mary’s Kirche in Gosforth steht, in der alten Wikingersiedlung im englischen Lake District. Nebenbei bemerkt: während das bemerkenswert detailliert ausgeführte Gosforth-Kreuz deutlich eine christliche Verfeinerung heidnischer Symbolik anzeigt, ist der Angelstein ein klares Zeichen für das Überdauern heidnischer Ideen im christlichen Zeitalter.
Lassen wir Snorris ziemlich gewundene Bemühungen in der ‚Skáldskaparmál’, diesen Mythos als eine Verfälschung der Schlacht zwischen Hektor und Achilles während des Trojanischen Krieges zu erklären, einmal beiseite, bekommen wir wenig später, im Hinblick auf die den Mythos von Thors Fischzug umgebenden Einzelheiten, durch zahlreiche Stellen in der Skaldendichtung Klarheit, die allesamt vorchristlich sind. Snorris früheste und ausführlichste Anführungen behandeln den Kern der Erzählung vom Fischzug und stammen aus Bragi Boddasons Gedicht ‚Ragnarsdrápa’ (Ragnar Lodbroks Totenlied) aus dem neunten Jahrhundert. In diesem beschreibt Bragi die Verzierungen auf einem Schild, den er von einem Ragnar als Geschenk bekam – es heißt, dass es sich um den legendären Kriegsherrn Ragnar Lodbrok gehandelt habe – in Gedichtform. Diesem sind die Zitate von Ulf Uggason in seinem Gedicht ‚Húsdrápa’ (Hausfeier) an die Seite zu stellen, das im Jahre 983 u. Ztr. entstand. Dieses Gedicht wurde bei einem Bankett des wohlhabenden Isländers Olaf dem Pfau vorgetragen, einem Ereignis, das in der Laxdæla saga (Die Saga von den Bewohnern von Laxardal) beschrieben wird, die aus dem letzten Teil des dreizehnten Jahrhunderts stammt und reichlich mit historisch glaubhaften Einzelheiten ausgeschmückt ist. Das Gedicht malt Olafs prächtigem Festsaal in eindrucksvollen Worten aus, der aufwändig mit Holzschnitzereien mythischer Szenen dekoriert war – darunter auch Thors Kampf mit der Midgardschlange. Weitere verstreute Referenzen finden wir in den Versen von Olvir Hnufa aus dem neunten, sowie bei Eystein Valdason und Gamli Gnævadarskald, beide aus dem zehnten Jahrhundert. Nur in Ulfs ‚Húsdrápa’ wird angedeutet, dass Thor das Ungeheuer tötet, jedoch sind die Verse dermaßen komplex, dass es Zweifel darüber gibt, ob dies auch tatsächlich so gemeint ist. In klarem Widerspruch zu der Behauptung, Thor habe die Midgardschlange getötet, steht jener Mythos, der von ihrer gegenseitigen Auslöschung in der Ragnarök erzählt.
Ragnarök entgegen
Im abschließenden Prosateil der ‚Lokasenna’ heißt es, dass Loki vor Thor flieht und sich, in Gestalt eines Lachses, in einem Wasserfall versteckt. Snorri hingegen berichtet, dass die Asen Loki bis zu einem Versteck am Ufer verfolgen, er aber in Lachsgestalt entkommt, kurz bevor sie ihn einholen. In der Asche an Lokis Feuerstelle finden die Götter die Reste eines geschickt geknüpften Fischernetzes, nach dessen Muster sie ein neues fertigen. Mit dem durch den Fluss gespannten Netz nähern sie sich Loki. Dieser bemerkt die Gefahr und versucht, über das Netz zu springen, wobei er von Thor gefangen wird. Danach wird Loki mit den Gedärmen eines seiner Söhne gefesselt, und eine Gift speiende Schlange wird über seinem Gesicht aufgehängt. Sigyn, Lokis Gattin, fängt das Gift in einer Schale auf, doch immer wenn sie ihren Platz verlassen muss, um die Schale zu leeren, windet sich Loki so sehr in Schmerzen, dass davon die Erde bebt. Lokis Betrug an den Göttern mag erschreckend genug gewesen sein, um seine Bestrafung zu rechtfertigen, doch das größte Verbrechen hatte er bereits begangen: seine Anstiftung zu Baldurs Tötung. Von einem Anteil Thors an den Bemühungen, die Auswirkungen dieser Katastrophe zu verringern, kann kaum die Rede sein; in der Tat ist sein gewöhnliches Repertoire an Drohungen und Gewalt der Situation derart unangemessen, dass er geradezu tölpelhaft erscheint, als er bei Baldurs Bestattung die Beherrschung verliert und beinahe die grauenvolle Riesin Hyrrokkin attackiert, die von den Göttern herbeigerufen worden war, um das Schiff mit Baldurs Leichnam ins Wasser zu stoßen. Schlimmer noch, tritt er verdrossen einen unglückseligen Zwerg in die Flammen, weil dieser vor ihm her gerannt ist, als er den Scheiterhaufen mit seinem Mjöllnir segnete. Nun, da Ragnarök unvermeidlich bevorsteht, erscheint es ausgeschlossen, dass Thor seiner Aufgabe als Hauptverteidiger der Grenzen von Asgard und Midgard nachzukommen vermag. Er kann – vielleicht sogar mehr zur Untätigkeit verdammt als die anderen Götter – nichts anderes tun, als warten, da sich nun die Horden der Riesen sammeln, und ebenso wie er nach seinen alten Feinden sucht, werden diese nach ihm suchen.
Die Vorstellung einer altnordischen Apokalypse ist weitgehend belegt in den Gedichten der Lieder-Edda und stand offenbar im Mittelpunkt der heidnischen Zeitauffassung. Etwa die Hälfte der ‚Völuspa’ ist dem Weg zur Ragnarök und den dann eintretenden Ereignissen gewidmet, und vieles davon findet sich auch in der ausführlichen Darstellung der ‚Gylfaginning’. Auf drei Jahre zerstörerischen Kampfes, in dem alle verwandtschaftlichen Verhältnisse verwirrt werden, folgt der Fimbulwinter (welcher, laut Snorri, drei Jahre lang unablässig Kälte und Frost mit sich bringt); der Wolf Fenrir wird die Sonne verschlingen, während seine Artgenossen den Mond einfangen und die Sterne auslöschen werden; der Riese Hrym wird mit seinen Heerscharen die Segel setzen, und die Midgardschlange wird den Himmel und das Meer vergiften. Dann wird Surt, von Flammen umlodert, die Brücke Bifröst überqueren, die Midgard und Asgard miteinander verbindet, und diese wird in sich zusammenstürzen. So wird es geschehen, dass die Götter mit all ihren Feinden zusammentreffen, Loki eingeschlossen, der die Mächte von Muspellheim anführt.
Ragnarök von W.G. Collingwood, 1908
Die Götter ziehen mit den Heerscharen Walhallas ins Feld, angeführt von Odin und Thor. Freyr wird von Surt getötet, da er, wie eine andere Erzählung über seine Torheit berichtet, kein Schwert mit sich führt, und Surt wird eine alles verzehrende Feuersbrunst entfachen. Odin wird von Fenrir verschlungen, doch wird er von seinem Sohn Vidar gerächt; und Loki und Heimdall werden sich gegenseitig töten. Thor, der Odin nicht mehr zu Hilfe kommen kann, wird gegen die Midgardschlange anstürmen und sie töten, aber er wird ihrem Gift erliegen, nachdem er noch neun Schritte gegangen ist:
Der hehre Sproß der Hlodyn naht.
Der Lande Gürtel gähnt zum Himmel:
Gluten sprüht er, und Gift speit er;
entgegen geht der Gott dem Wurm.
Der Erde Schirmer schlägt ihn voll Zorn –
die Menschen müssen Midgard räumen;
weg geht wankend vom Wurm neun Schritt
der Gefecht nicht floh, der Fjörgin Sohn [Thor].36
Obwohl einige der Götter überleben, um eine Zeit der Erneuerung, ein neues Goldenes Zeitalter, heraufzuführen, an dessen Anbruch Baldur von Hel zurückkehren wird, fährt die ‚Völuspá’ fort zu prophezeien, dass ein Ungeheuer, diesmal in Gestalt von Hels Drachen Nidhögg, einst abermals Tod und Zerstörung bringen werde. Bevor dies aber eintritt, so weissagt die Seherin, wird der ‚gewaltige mächtige Eine, der über alles gebietet, […] kommen von oben zur Richtstätte der Götter.’37 Obwohl unter den Interpreten kein Konsens darüber besteht, was dies bedeuten könne, gehen viele davon aus, dass es sich um eine christliche Einschiebung handelt, die auf den Niedergang des heidnischen Glaubens hindeutet.
Die obigen Erzählungen machen nur einen Bruchteil der Mythen um Thor aus, die es einmal gegeben hat. Das kann zumindest aus den Quellen der Skaldendichtung geschlossen werden, welche die Namen vieler Riesen anführen, die von Thor getötet wurden und über die keine Mythen erhalten geblieben sind. Außerdem gibt es in den verschiedenen Versionen anderer Mythen Widersprüche, die Unklarheiten darüber aufkommen lassen, ob es Thor ist oder ein anderer Gott, der den jeweiligen Riesen erschlägt. Ein Beispiel ist die Tötung des Riesen Thjazi, der die Göttin Iduna entführt und mit ihr die Äpfel, die die Götter benötigen, um ihre ewige Jugend zu erhalten. Im ‚Hárbarðsljóð’ behauptet Thor, Rache an Thjazi genommen und dessen Augen in den Himmel geworfen zu haben, wo sie zu Sternen geworden seien, doch aus Snorris ‚Gylfaginning’ ergibt sich nicht eindeutig, wer den Riesen tötet; ausdrücklich wird hingegen angegeben, dass Odin Thjazis Tochter damit besänftigt, ihren Vater auf diese Weise unsterblich gemacht zu haben. Die starke Ähnlichkeit dieses speziellen Elements des Mythos mit Thors Geschichte von Aurvandills Zeh in Snorris Darstellung des Hrungnirmythos legt nahe, dass hier mythische Elemente miteinander verschmolzen wurden oder von einem Mythos zum anderen übergegangen sind – was wieder einmal die Verflechtungen und Ungewissheiten veranschaulicht, denen der Mythograph bei seinem Bestreben, die Eddas zu entwirren, begegnet.
Eine Erklärung für diese Probleme besteht darin, dass jene, die die Mythen in den ersten zwei Jahrhunderten nach der Bekehrung abgefasst haben, bemüht waren – wie auch Snorri –, den frühen Eddas etwas von ihrer Unverständlichkeit zu nehmen, indem sie zufrieden stellende Lösungen ersannen; doch hat dies die Schwierigkeiten mit der Zeit noch verstärkt. Wenn dem aber so ist, sollte eingeräumt werden, dass es gerade in der Natur der altnordischen Mythen liegt, keine vollkommene erzählerische Einheit zu bilden. Anders als in der jüdisch-christlichen Mythologie gibt es keine Lehrautorität und damit keine Orthodoxie, so dass reichlich Unterschiede in den Erzählungen auftreten, die zum Beispiel davon abhängen, welcher Gott von seinem jeweiligen Anhänger für besonders heilsam gehalten wird. Ebenso unbestreitbar ist, dass ein Mythos sich entwickelt, im Laufe der Zeit überarbeitet und zunehmend systematisiert wird. Nach dem Einzug des Christentums in den alten Norden wurde dieser Prozess abrupt beendet. Was wir von den altnordischen Mythen geerbt haben, ist ein Palimpsest, durch dessen Schichten ältere Versionen der Mythen stellenweise verblasst, an anderen Stellen jedoch so markant wie inkongruent, sichtbar werden. Während die mythologischen Himmel zu weiten Teilen mit Wolken verhangen sind, erlaubt das von Snorris rückblickendem Bestreben, den Mythen eine Ordnung aufzuerlegen, Erhellte nichtsdestotrotz eine Menge verhältnismäßig sicherer Erläuterungen und Analysen dessen, was den Gott Thor ausgezeichnet, und was er seinen Anhängern bedeutet hat.