Читать книгу Die wilde Reise des unfreien Hans S. - Martin Arz - Страница 11
Оглавление4 Janitscharen
Hans und Yorick hatten es sich angewöhnt, Max immer in ihre Mitte zu nehmen. Der Sendlinger schwieg weiterhin, reagierte auf nichts und zeigte keinerlei Gefühlsregung, machte aber alles, was man ihm sagte. Hans’ aufgeplatzte Wunde am linken Bein heilte diesmal langsamer. Sie eiterte und schmerzte. Zwar gab es auch in Bursa eine gute medizinische Betreuung der Gefangenen, doch der zuständige Pfleger, der eine herzhafte Gleichgültigkeit seinen Patienten gegenüber an den Tag legte, zuckte mit den Schultern und verwies auf die allgemeine Erkenntnis, dass die Zeit alle Wunden heilen würde.
Noch einmal kehrte größere Unruhe unter den jungen Gefangenen ein, als sie sich zu einem Appell in den großen Hof sammeln mussten. Der Sultan persönlich erschien mit großem Gefolge. Darunter erkannte Hans auch den massigen Edelmann, den Prackl, der sie in Gallipoli gemustert hatte. Bayezid schritt durch die Reihen. Gelegentlich neigte er den Kopf seinen Beratern zu, die ihm etwas zuflüsterten. Er deutete auf diesen und jenen und ließ neue Gruppen zusammenstellen. Mittlerweile konnten alle gut genug Türkisch, um den General zu verstehen, der sie nun Folgendes wissen ließ: Der große Bayezid, den man den Blitz nannte, Herrscher des Morgenlandes und bald auch des Abendlandes, habe soeben höchstpersönlich Geschenke für treue Vasallen und befreundete Herrscher ausgesucht. Eine Ehre, der sich alle bewusst sein sollten! Diese Gruppe dort wäre für den König von Babylonien bestimmt, jene für den Schah von Persien, diese für den Fürst von Großarmenien, jene für den Khan der Weißen Horde. So ging es weiter.
Zu ihrem Entsetzen wurde Johannes Schiltberger einer anderen Gruppe zugeteilt als Yorick van Nazareth und Max der Sendlinger. Seine Gruppe, vernahm Hans, sollte fortan dem Sultan von Ägypten gehören. Abmarsch! Man würde sie nun einkleiden, und sie sollten sich sofort reisefertig machen. Hin und her gerissen zwischen Verzweiflung, dass er von seinen Freunden getrennt werden sollte, und der Freude, dass er nun doch was von der Welt sehen würde – Ägypten! –, merkte Hans, dass die Waagschale in seinem Innersten zugunsten seiner Freunde ausschlug.
Als seine Gruppe zurück in die Unterkunft trabte, packte ein Hauptmann Hans am Arm. »Bist du verletzt?« Er deutet auf das linke Bein.
»Ja, Herr«, antwortete Hans mit gesenktem Blick.
»Dann ist das nicht die richtige Gruppe für dich. Geh dort hinüber. Du bleibst hier.« Der Hauptmann deutete auf die Gruppe, zu der Yorick und Max gehörten. Sein Herz machte einen Freudenhüpfer, er unterdrückte den Impuls, vor dem Hauptmann auf den Boden zu fallen und ihm dankbar die Hände zu küssen. Stattdessen nickte er »Ja, Herr« und versuchte, so beherrschten Schrittes wie möglich zu seinen Freunden zu gehen. Dass er auch Don Juan und einige Spanier in dieser Gruppe entdeckte, tat seinem Glück keinen Abbruch.
Fußsoldaten des Sultans sollten sie werden, denn Hans und seine Gruppe blieben am Hofe Bayezids. Janitscharen nannten die Türken das. Eine recht neue Einrichtung, aus der Not gewachsen, für das stetig wachsende Reich immer neue Soldaten rekrutieren zu müssen. Warum nicht die kräftigen, jungen Männer nutzen, die man gefangen nahm? Dass sie der falschen Religion angehörten, störte Bayezid noch nicht wirklich. Erst seine Nachfolger ließen die Christen ausnahmslos zwangsislamisieren. Dennoch gehörten zur Ausbildung die Lehren des berühmten Mystikers Hadschi Bektasch, der die allererste Truppe von Janitscharen persönlich gesegnet haben soll. Hans, zunächst höchst skeptisch, ob die Philosophie der Ungläubigen seinen geistigen Horizont entscheidend erweitern würde, sah sich bald eines Besseren belehrt. Was hätte er dafür gegeben, Papier und einen Stift zu haben. Er war sich zwar sicher, dass er sich in nicht allzu ferner Zukunft wieder beides leisten können würde, aber noch konnte er die wichtigsten Gedanken Hadschi Bektaschs nicht notieren, also lernte er sie auswendig:
Das Universum ist die sichtbare Gestalt Gottes
Rituelle Gebete machen keinen Menschen besser
Die Taten zählen, nicht die Worte
Betet nicht mit den Knien, sondern mit dem Herzen
Das wichtigste Buch zum Lesen ist der Mensch
Glücklich ist, wer die Gedankenfinsternis erhellt (das gefiel Hans am besten)
Ermögliche den Frauen eine gute Bildung (das fand Hans am lustigsten, denn wozu sollte so etwas bitte schön gut sein?)
Es gibt kein Gegeneinander von Gott und Mensch, sondern ein Miteinander in tiefer Verbundenheit
Rost glüht nicht von selbst, sondern durch das Feuer
Der Verstand sitzt im Kopf, nicht in der Krone
Was Du suchst, findest Du in Dir selbst, nicht in Jerusalem, nicht in Mekka
Daran fand Hans nichts auszusetzen. Manches kannte er schon, das lehrten auch die christlichen Pfarrer, doch einiges war so neu und revolutionär, dass er zwischenzeitlich einen Religionswechsel gar nicht mehr für völlig ausgeschlossen hielt. Zumindest fiel es ihm zunehmend leichter, »Allahu akbar« zu rufen, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Mehr als einmal legte man ihnen nahe, zum Islam zu konvertieren. Für Hans hätte das bedeutet, Heide zu werden. Wie das funktionierte, zeigte man ihnen ganz anschaulich am praktischen Beispiel. Sie wohnten der Konvertierung eines Lateiners, also eines Italieners, bei. Der Christ musste den Zeigefinger heben und »La ilaha illalah, der wahre Bote Mohammeds« sagen. Das wiederholte er noch einmal vor dem höchsten Imam und schwor feierlich seinem christlichen Glauben ab. Danach kleidete man ihn neu ein, und der Priester wickelte ihm ein neues Tuch um den Kopf, damit jeder sofort erkennen konnte, er war nun ein Moslem, denn die Christen mussten blaue und die Juden gelbe Tücher tragen. Nun legte der Konvertit seine Rüstung an und stieg auf sein Pferd. Von einem Begleitzug aus Priestern und Gläubigen wurde er durch die ganze Stadt geführt. Pauken, Posaunen und Flöten kündigten sein Kommen an, während das Volk laut Mohammed lobte. Zwei Imame, die neben dem Konvertiten ritten, sangen die ganze Zeit: »Es ist Gott und der Messias sein Knecht und Maria seine Tochter und Mohammed sein höchster Prophet.« Letzte Station war dann die Moschee, wo der Neumuslim beschnitten wurde. Danach überschüttete man ihn mit Geld und Gütern. Der Lateiner war nun ein reicher Moslem. Letzteres, da machte man keinen Hehl daraus, geschähe, um den Christen den Übertritt besonders schmackhaft zu machen. Das schien verlockend, doch Hans fand die ganze Prozedur ziemlich inszeniert und merkwürdig. Vor allem der Gedanke an eine Beschneidung schreckte ihn ab. Was den möglichen Reichtum anging, machte er sich nichts vor: Sie waren Sklaven und wären dann höchstens der Vorhaut beraubte Sklaven, niemand würde sie wie den italienischen Kaufmann mit Gold überschütten. Also blieb das »Allahu akbar« ein Lippenbekenntnis, denn weder Hans noch seine Freunde noch die meisten seiner Einheit konvertierten letztlich zum Islam, aber es genügte den Vorgesetzten. Sie waren Kriegssklaven, hatten zu gehorchen und zu glauben, was man ihnen an Glauben vorgab.
Sie bekamen Koranunterricht. Doch der beschränkte sich auf das Auswendiglernen von Suren, denn der Koran war auf Arabisch, und das verstand keiner. Hans fühlte sich an die Zeit erinnert, als er bei den Chorherren des Heiliggeistklosters Schreibunterricht hatte. Da mussten sie lateinische Texte schreiben, die keiner verstand. Für den Lateinunterricht hatte Vater Schiltberger kein Geld. Was die Originaltexte besagten, das ginge sie nichts an, die Interpretation durch die Geistlichen sei das Wesentliche. Und der neugierige Hans, der zunächst immer Fragen stellte, lernte schnell, dass Fotzn, Watschen, Ohrfeigen die häufigste Antwort waren, manchmal auch Prügel mit dem Rohrstock oder einsame Stunden im Karzer. Je nach Dreistigkeit seiner gottlosen Frage. Also verkniff sich Hans beim Koranunterricht alle Fragen, leierte mit seiner Gruppe die arabischen Laute herunter und lernte irgendetwas auswendig. Immerhin lernte er so Arabisch zu lesen und richtig auszusprechen. Und da das osmanische Türkisch als Schrift die arabischen Buchstaben verwendete, lernte er auch Türkisch lesen.
Strenge Disziplin bestimmte ihren Alltag. Das Korps ist eure Familie, der Sultan euer Vater, lautete das Mantra. Als sie hörten, dass sie sich dem Zölibat unterwerfen mussten, rumorte es in der Truppe. Doch nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Ehelosigkeit keineswegs Sexverzicht bedeutete, beruhigten sich die Gemüter schnell. Das kannten sie von den Geistlichen, den Mönchen und Nonnen in der alten Heimat. Da war es mit der Keuschheit nicht weit her. Hans hatte als Kind mit genügend Pfarrersbälgern gespielt. Die jeweils aktuelle Mätresse des Bischofs wurde hofiert wie eine Edeldame. Die Äbtissin des Angerklosters in München erschien sogar zu offiziellen Anlässen ungeniert in Begleitung ihres erheblich jüngeren Liebhabers.
Gewöhnungsbedürftiger als die Philosophie fand Hans die Kleidung, mit der man sie ausstattete. Alle bekamen die gleiche Kleidung, so etwas Verrücktes hatte Hans noch nie gehört. Mönche und Nonnen, ja, die hatten alle das Gleiche an, aber Soldaten? Diese absonderlichen Türken! An den weiten blauen Pluderhosen und hohen roten Lederstiefeln gab es noch nichts auszusetzen, ebenso am Wams und dem roten Mantel. Doch diese Kopfbedeckung! Die enorm hohe kegelförmige Filzkappe, leicht nach hinten gewölbt, erforderte zunächst einen Balanceakt. Damit gehen wollte gelernt sein, damit kämpfen erst recht. Die Janitscharenmütze sollte die Ärmel von Hadschi Bektasch symbolisieren und die Verbundenheit mit dessen Lehren ausdrücken. Auch die Derwische des Bektaschi-Ordens trugen sie.
Diejenigen unter den Rekruten, die bereits richtigen Bartwuchs hatten – so wie Hans Schiltberger –, mussten sich rasieren und durften sich nur einen Schnurrbart stehen lassen. Denn Vollbärte blieben freien Moslems vorbehalten. Hans bot sich an, den katatonischen Max zu rasieren, doch wieder überraschte Max, nahm selbst das Messer und rasierte sich sorgfältig Wangen und Kinn.
Richtig lustig wurde es, als man die Hierarchie lernte. Da Janitscharen Sklaven waren und keinen Besitz haben durften, bestand ihr Lohn, von ein paar gönnerhaft vom Sultan direkt ausgezahlten Dinaren abgesehen, praktisch nur aus regelmäßigen Mahlzeiten. Darum setzten sich die Abzeichen aller Offiziere aus gekreuzten Löffeln zusammen. Je höher der Dienstgrad, desto mehr gekreuzte Löffel, wobei sich mancher zusätzlich schmückende Federn an die Mütze steckte. Die Bataillonskommandeure trugen den Titel Suppenmeister. Die Hauptmänner einer Kompanie nannte man Suppenköche, deren Stellvertreter Oberköche, die Leutnants Oberste Wasserträger, die Feldwebel Oberste Küchenjungen und die Quartiermeister Köche. Da war es nur logisch, dass man keine Standarte vorantrug, sondern einen großen Suppenkessel.
Nachdem sich die erste Heiterkeit gelegt hatte, gewöhnte man sich auch daran. Wobei noch wochenlang mancher Rekrut mit »Ich muss zum Suppenkoch« oder »Der Oberkoch will mich sehen« einen Lachanfall bei seinen Kameraden auslöste und Sprüche wie »Bring eine Schüssel voll mit!« oder »Sag ihm, der Hammel gestern war zäh!« nachgerufen bekam.
Die Einheit, der Hans, Yorick und Max angehörten, zählte einhundert Mann. Orta nannte man so eine Einheit. Neben dem täglichen Islamunterricht mussten sie an den Waffen trainieren. Schwert und Streitaxt beherrschte Hans aus dem Effeff, doch der Bogen, die Hauptwaffe der Janitscharen, bereitete ihm noch Schwierigkeiten.
»Das Korps ist deine Familie, der Sultan dein Vater«, seufzte Yorick eines Abends und ließ sich auf das Bett plumpsen. »Ich kann es nicht mehr hören.«
»Ach, uns gehts doch gut«, antwortete Hans träge und rieb sich wohlig den Bauch, der eben das Abendessen verdaute.
»Du bist immer mit jeder Situation zufrieden, oder?«
»Wenn es gottgewollt ist und ich sie nicht ändern kann …«
»Wenn wir wenigstens Tricktrack spielen könnten«, sagte Yorick und schielte zu Hans hinüber.
»Dann würden sie uns bestrafen.«
»Wieso? Niemand hat gesagt, dass das verboten ist.«
»Hier ist doch alles verboten, was nicht mit Allah oder Waffen zu tun hat«, knurrte Hans.
»Dann hast du also kein Interesse?« Yorick zog unter seiner weiten Weste ein Holzkästchen hervor und öffnete es. Ein wunderschön gearbeitetes Tricktrackspiel lag vor ihnen. In Wahrheit war es ein einfach gemaltes Spielbrett, doch Hans hatte so lange kein richtiges Spielbrett mehr gesehen, dass ihm das hier einfach wunderschön vorkam.
»Wo hast du das denn her?« Hans merkte, dass seine Stimme vor Aufregung zitterte. »Wir sind doch hier gefangen wie Mäuse in der Falle.« Wie in einem strengen Mönchsorden durften die Janitscharen während der Ausbildung die Kaserne nicht verlassen.
»Mein Geheimnis«, schmunzelte Yorick. »Da draußen ist eine Welt und zu der gibt es verschiedene Kontaktmöglichkeiten.«
»Sag schon!«
Yorick schüttelte lachend den Kopf. »Willst du nun spielen?«
»Und wenn uns einer verpfeift?« Hans sah sich im Saal um, aber kaum einer schenkte ihnen Beachtung. Im Gegenteil, erst jetzt fiel Hans auf, dass auf mehreren Betten offenbar gespielt wurde. Leise und unauffällig, mit Würfeln und Spielbrettern.
»War das gestern auch schon so?« Hans zog die Stirn kraus.
»Vielleicht«, sagte Yorick unbestimmt. »Ich glaube, heute kam eine Großlieferung. Und wenn uns einer verpfeift, dann lassen wir Max auf ihn los.« Yorick deutete zu ihrem stillen Freund, der kerzengerade ausgestreckt auf seinem Bett lag und zur Decke starrte.
Hans gluckste. »Die Rache des Untoten.« Dann kniff er die Augen zusammen. »Steckst du dahinter?« Er machte eine ausladende Geste in den Saal.
»Vielleicht. Kann sein, dass ich heute wie auch immer an fünf Spiele gekommen bin. Und die gegen einen kleinen Obolus verteilt habe. Kann aber auch nicht sein.«
»Yorick van Nazareth, du wirst mir langsam ein wenig unheimlich.«
»Gut so«, lachte Yorick.
»Ich dachte, du bist mein Freund. Jetzt sag schon, wie du das gemacht hast.«
»Ich bin dein Freund, und darum ist es besser, ich sage es dir vorerst nicht.«
Ein Tumult entstand in der hinteren Ecke. Don Juan stritt sich mit einem anderen um ein Spielbrett.
»War klar«, kommentierte Yorick, »ich habe Don Juan keins gegeben.«
Der Kastilier versetzte seinem Kontrahenten einen Faustschlag ins Gesicht. Pech für Don Juan Gonzáles de Clavijo, dass der für ihre Orta zuständige Koch den Zank mitbekommen hatte, das Spiel konfiszierte und Don Juan zu einer Woche Küchenarrest verdonnerte.
Am nächsten Tag unterbrach der kommandierende Suppenkoch der Orta Schiltbergers Training mit dem Schwert und winkte ihn zu sich. Hans überlegte fieberhaft, ob er sich etwas zuschulden hatte kommen lassen. Es fiel ihm nichts ein. Doch! Das Tricktrack. Am Vorabend hatten alle ihre Spiele schnell verschwinden lassen, als der Koch sich den Kastilier vorknöpfte. Bestimmt hatte Don Juan ihn verpfiffen. Na bitte, nun würde die Strafe folgen.
»Hans, du bist ein guter Schwertkämpfer«, begann der Suppenkoch, der Bahadir hieß.
»Ihr seid zu gütig, Herr.«
»Sehr gut mit dem Schwert und gut mit der Axt. Mit dem Bogen hapert es allerdings noch etwas.«
»Ihr habt eine genaue Beobachtungsgabe, Herr.«
»Und du bist nicht dumm.«
Als Hans wieder devot antworten wollte, unterbrach ihn Bahadir ungeduldig. »Du musst mir keinen Honig ums Maul schmieren. Ich war auch einmal in deiner Situation. Ja, ich war fast genau wie du, als ich hier angefangen habe. Sprich gefälligst offen zu mir.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ließ den mächtigen Schnurrbart erzittern. Dann deutete er ernst hinüber zu Max. »Was ist mit deinem Freund los?« Er gab dem Übungsleiter ein Zeichen, und Max wurde zu ihm gebracht.
»Ich würde gerne wissen, was da drin vorgeht.« Bahadir klopfte mit seinen Fingerknöcheln gegen Max’ Stirn. Der Bursche verzog wie üblich keine Miene. »Er kämpft wie ein Löwe, kann die Waffen bedienen. Er kann alles! Er isst, trinkt, schläft, aber warum lebt er nicht?«
»Er lebt doch, Herr. Er kann nur nicht reden …«, sagte Hans schnell.
»Hat er keine Zunge?«
»Genau, Herr.« Hans sog sich eine Geschichte aus den Fingern. »Man hat ihm unmittelbar nach der Schlacht von Nikopolis die Zunge herausgeschnitten. Das hat ihn so betrübt, dass er nun gar nicht mehr reagiert.«
»Hat er gelogen? Warum sollte man ihm sonst die Zunge herausschneiden?«
»Ich glaube nicht. Max lügt nicht. Aber es muss ja wohl so sein …« Hans zuckte mit den Schultern.
Bahadir streckte seine rechte Hand aus und schob Max zwei Finger zwischen die Lippen. Der öffnete den Mund.
»Warum lügst du mich an, Hans?«, sagte er scharf. »Er hat eine Zunge. Willst du deine verlieren?«
»Nein, Herr, verzeiht, Herr. Ich wollte nur meinen Freund schützen.«
»Das ehrt dich.« Bahadir gab Max einen Wink, zu seinem Schwerttraining zurückzugehen.
»Er ist ein Baschi-Bozuk, ein kaputter Kopf«, sagte Hans. »Er hat im Krieg zu viel gesehen.«
Bahadir nickte. »Das haben wir alle. Und du? Hat dich das, was du gesehen hast, nicht auch zum Baschi-Bozuk gemacht?«
»Manchmal verwirrt im Kopf zu sein, gehört doch zum Leben.«
Bahadir lachte laut auf. »Der Philosophieunterricht scheint dir gutzutun. Und dennoch willst du nicht die einzig wahre Religion annehmen?«
»Wenn Ihr es wünscht, dann mache ich das.«
»Das ist Unsinn. Wenn ich es wünsche! Unsinn. Du musst es wünschen. Das Problem mit euch allen hier ist, dass ihr zu alt seid. Ihr seid hier oben«, nun klopfte er mit den Fingerknöcheln an Hans’ Stirn, »schon zu weit. Vergiftet von der falschen Lehre vom falschen Gott. Das Geschwätz eurer Pfaffen hat eure Hirne zerfressen. Ihr seid nicht mehr formbar genug. Das ist nicht eure Schuld. Unser Vater, Sultan Bayezid, duldet es, solange ihr gute Kämpfer seid. Wir bekommen aber einfach zu wenige Kinder als Gefangene, aus denen man gute, überzeugte Moslems machen kann. Weißt du, nein, du weißt es nicht, aber ich erzähle es dir jetzt, dass ich auch mal Christ war. Mein Geburtsname ist sogar Christos, ich war Grieche, bevor ich Janitschar wurde und Sultan Bayezid als meinen Vater anerkannte.«
»Also funktioniert das System doch«, antwortete Hans.
»Du bist frech, das gefällt mir.« Bahadir hob warnend die Hand. »Aber nicht zu sehr! Ja, manchmal gibt es Männer wie mich, die den wahren Glauben erkennen. Es ist nie zu spät.«
»Wenn man mehr Kinder für die Janitscharen bekommen möchte«, sagte Hans nachdenklich, »dann müsstet ihr sie von den Völkern nehmen, die ihr unterwerft.«
»Das machen wir bereits.«
»Offenbar nicht effektiv genug. Es reicht wohl nicht, eine Handvoll Knaben mitzunehmen. Man müsste es systematisch machen. Wie eine Weinlese. Eine Knabenlese.«
»Knabenlese«, wiederholte Bahadir. »Das gefällt mir.«
»Es hätte noch einen weiteren Vorteil. Jetzt entreißt Ihr den weinenden Müttern die Buben aus den Armen. Wenn die Kinder hier eine gute Ausbildung bekommen und sogar eine gesicherte Zukunft vor sich haben, dann werden sich die Familien darum reißen, ihre Söhne zu den Janitscharen zu schicken.«
»Du bist wirklich nicht dumm, Hans.« Bahadir zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. »Du kannst es weit bringen. Du bist einigen Herren schon aufgefallen. Wenn du weiter gut an dir arbeitest, stehen dir viele Möglichkeiten offen.«
»Ich dachte, man kann als Janitschar nur innerhalb des Korps aufsteigen.«
»Meist ja. Aber das letzte Wort hat immer unser Vater Bayezid der Blitz.« Bahadir klopfte Hans auf die Schulter. »Du bist zu gut im Schwertkampf, um mit den anderen zu trainieren. Du wirst dem Übungsleiter ab sofort assistieren und deine Kunst den anderen zeigen.«
»Danke für die Ehre«, sagte Hans erfreut.
»Dafür musst du mehr mit dem Bogen üben. Ach, und einen guten Rat noch, Hans. Du hast sicher den hohen Herrn schon bemerkt, der ab und zu vorbeikommt und euch inspiziert.«
Hans nickte. Der Suppenmacher konnte nur den massigen Edelmann meinen, den Prackl, den er zum ersten Mal in Gallipoli gesehen hatte.
»Das ist der Beylerbey, Herr der Herren, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Gouverneur von Rûm, Lala Nedim Pascha, der Sohn des großen Lala Schahin Pascha. Über ihm stehen nur die Wesire und der Sultan. Ein äußerst wichtiger und einflussreicher Herr. Der bedeutendste Stratege unseres Sultans. Dein blonder Freund mit den blauen Augen gefällt ihm, glaube ich. Aber ihm zu gefallen ist nicht immer erstrebenswert. Das ist nur ein Rat. Ich glaube nicht, dass du ihm gefallen möchtest.«
»Das verstehe ich nicht, Herr.«
»Das wirst du früher oder später.« Bahadir wandte sich zum Gehen. »Ach, eines noch, gefallen euch die Tricktrackspiele, die ich euch zukommen ließ? Ich habe sie dem Blonden gegeben, der offenbar Lala Pascha gefällt.«
»Ja, Herr, Yorick hat sie verteilt. Danke, Herr!« Dieser verdammte Yorick mit seiner Geheimniskrämerei.