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c) Die Verwundbarkeit von Tieren und Menschen
ОглавлениеEin Aspekt, den Tiere und Menschen teilen, ist der der Verletzbarkeit. Die Menschen sind ebenso wie die Tiere verwundbar, sowohl als Individuen als auch in ihrem Eingebundensein in natürliche Zusammenhänge sowie in ihrer Abhängigkeit voneinander und von einem intakten ökologischen Umfeld. Das Ökosystem ist ein komplexes Netz von wechselseitigem Abhängig- und Verwiesensein. Das gemeinsame Bewohnen der Erde und die Nutzung von Synergien zwischen den Lebewesen ist die Grundlage für einen funktionierenden natürlichen Lebensraum, was diesen sowie die ihn bewohnenden Lebewesen aber umso anfälliger macht für Störungen. Was die Menschen von den Tieren allerdings unterscheidet, ist das Wissen um diese fragilen Zusammenhänge. Sie reflektieren über die eigene Verletzbarkeit und über die der anderen Menschen, wissen aber auch um die Vulnerabilität aller Lebewesen. Deshalb gewinnt die Verletzbarkeit obligatorische Kraft. Das Wissen um sie hat moralische Konsequenzen und wird zur Quelle von Verantwortung. Es eröffnet für die zwischenmenschlichen Beziehungen einen Begründungsansatz für die Menschenrechte, für die Mensch-Tier-Beziehungen hingegen für die Tierschutzgesetze.55 Bei aller Differenz von Menschen- und Tierrechten, auf die weiter unten noch im Detail einzugehen ist56, wird jedem verletzbaren Lebewesen grundsätzlich das Recht zuerkannt, in seiner Vulnerabilität geschützt zu werden, d. h., dass ihm nicht Schmerzen oder Verletzungen zugefügt werden. Das nimmt den Menschen in die Pflicht, der als einziges Lebewesen in Freiheit, bewusst und willentlich einem anderen Lebewesen Schmerz und Leid zufügen oder Lebensräume zerstören kann. Albert Schweitzer (1875–1965) hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass wir uns als Menschen mitten unter Lebewesen vorfinden, die ebenso wie wir einen „Willen zum Leben“ haben. Ausgehend davon sowie von der Tatsache, dass wir als Menschen die Fähigkeit haben, diesen Lebenswillen aller Lebewesen wahrzunehmen und zu reflektieren, entwickelte er seinen Ansatz einer „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“. „Was ist Ehrfurcht vor dem Leben, und wie entsteht sie in uns? Die unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.‘ Als Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben erfasst sich der Mensch in jedem Augenblick, in dem er über sich selbst und über die Welt um sich herum nachdenkt.“57 Für Schweitzer ergibt sich daraus die Verpflichtung für den Menschen, Leben zu erhalten und zu fördern.
Wie weiter oben ausgeführt worden ist, spiegelt der Herrschaftsauftrag das Wissen um die ambivalente asymmetrische Beziehung des Menschen gegenüber den Tieren wider, schreibt dem Menschen aber zugleich ins Stammbuch, diese Vormachtstellung nicht zu Ungunsten der Tiere auszunützen bzw. diese nur für eigene Interessen zu verzwecken. Aus der Vulnerabilität ergibt sich das Recht auf Schutz, welches jenen Lebewesen zur Pflicht wird, die um diese Verwundbarkeit wissen.