Читать книгу Der Mensch und das liebe Vieh - Martin M. Lintner - Страница 31
2.3 Vorbehalte und Öffnung des Christentums gegenüber dem Darwinismus
ОглавлениеDa Darwins Theorie die Annahme eines intelligenten göttlichen Planers bzw. Schöpfergottes überflüssig machte, erblickten viele Zeitgenossen darin einen Angriff auf den christlichen Glauben. Obwohl Darwin selbst sich vor weltanschaulichen Deutungen oder Folgerungen seiner Theorie hütete77 und die Evolutionstheorie nicht für unvereinbar mit dem Christentum ansah, konnte er nicht verhindern, dass die Evolutionstheorie rasch instrumentalisiert und gegen den religiösen Glauben ausgespielt wurde.78 Die Evolutionstheorie warf eine Reihe schwerwiegender theologischer und anthropologischer Probleme auf.
An der raschen Verbreitung der Evolutionstheorie trugen in England Thomas Henry Huxley (1825–1895), auch bekannt unter seinem Spitznamen Darwins Bulldogge, und in Deutschland Ernst Heinrich Haeckel (1834–1919) entscheidend bei. Zur Verhärtung der Fronten zwischen den christlichen Kirchen und den Anhängern Darwins kam es vor allem deshalb, weil die Evolutionstheorie vielfach zur Begründung und Rechtfertigung einer materialistischen bzw. atheistischen Weltanschauung vereinnahmt wurde.
Dass Darwins natürliche Erklärung der Entwicklung der Organismen als Infragestellung des christlichen Schöpfungsglaubens empfunden wurde, war jedoch auch bestimmten zeitbedingten Ansichten der Theologie geschuldet. „Die Evolutionstheorie stand im Widerspruch zum Wortlaut biblischer Schöpfungstexte. Denn bei wörtlicher Auffassung von Gen 1 und 2 ist die Welt durch einzelne, getrennte, unmittelbare Schöpfungsakte Gottes entstanden und in statischer Ordnung abgeschlossen.“79 Aus heutiger Sicht wurde in der damaligen Theologie nur unzureichend zwischen Form und Inhalt der biblischen Schöpfungstexte unterschieden.80 „Die Theologen […] meinten, mit dem geistigen, transzendenten Schöpfergott und der Fundamentalaussage von der Erschaffung alles Nichtgöttlichen ‚aus Nichts‘ auch zugleich das statische, urtümliche Weltbild der Bibel verteidigen zu müssen.“81 In der Theologie herrschte damals die Überzeugung vor, dass es „so viele Arten [gibt], wie der unendlich Eine Gott am Anfang als verschiedene Formen hervorgebracht hat“82. Fatal für das Gespräch mit der Evolutionstheorie erwies sich – vor dem Hintergrund eines starren Gottesbegriffs – die Gleichsetzung von Artkonstanz und Schöpfungsbegriff. Sie stellte die Theologie vor ein unnötiges Dilemma: „entweder Artkonstanz und Schöpfungsglaube oder Artenwandel ohne Schöpfungstätigkeit Gottes.“83
Auf erbitterte Ablehnung stieß die Evolutionstheorie auch deshalb, weil sie das Selbstbild des Menschen nachhaltig veränderte. Ein weit verbreiteter Vorwurf gegen Darwin lautete, er habe den Menschen, die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes (vgl. Gen 1,27), zum Affen degradiert. Den Menschen als Produkt eines blinden, dem Zufall unterworfenen Evolutionsprozesses zu begreifen, stellte für viele Zeitgenossen Darwins die größte Beleidigung der Menschheit dar. In evolutionärer Perspektive erschien der Mensch weder als Zentrum der Schöpfung noch als ihr Zweck.84 In der erhitzten Debatte wurde jedoch leicht übersehen, dass Darwin dem Menschen sehr wohl eine graduelle evolutionäre Sonderstellung zugestanden hatte. Der Mensch unterscheidet sich nach Darwin zwar nur graduell und nicht grundsätzlich vom Tier. Dennoch nimmt er aufgrund seiner gesteigerten geistigen Fähigkeiten, der verbalen Sprache und der Moralfähigkeit eine Sonderstellung in der Natur ein.
Zu den Ressentiments aufgrund der zugefügten anthropologischen Kränkung85 gesellten sich gesellschaftspolitische Bedenken. Es wurde befürchtet, dass die Verbreitung des Darwinismus mit einem moralischen Zerfall der Gesellschaft einhergehen werde. „Sobald Menschen damit beginnen, sich als Tiere zu verstehen, werden sie sich auch wie Tiere verhalten.“86 In weiten Kreisen der USA ist diese Besorgnis bis in die Gegenwart hinein eines der Hauptmotive, die Evolutionstheorie abzulehnen.87 Diese Sorge war im 19. Jahrhundert angesichts der unheilvollen Allianz von Evolutionstheorie und Sozialdarwinismus88 nicht unbegründet. Im Namen eines (vermeintlich) wissenschaftlichen und aufgeklärten Weltbildes plädierten manche Darwinisten dafür, das Recht des Stärkeren im Verdrängungswettbewerb nicht nur im Tierreich zu respektieren, sondern auch in der Gesellschaft. Konkurrenz und Selektion wurden zur Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts erklärt. Die Theorie der natürlichen Auslese bereitete zusammen mit dem vom Ökonomen Thomas Malthus geprägten Motto des Kampfes ums Dasein und dem auf Herbert Spencer zurückgehenden Ausdruck survival of the fittest (Überleben der Bestangepassten) den ideologischen Nährboden für allerlei Utopien der Menschenzüchtung. Den traurigen Höhepunkt erreichte diese brandgefährliche Entwicklung im nationalsozialistischen Rassenwahn im 20. Jahrhundert.
Dass die christlichen Kirchen ebenso wie einige Naturwissenschaftler der Evolutionstheorie anfangs kritisch bis ablehnend gegenüberstanden, hatte auch mit ihrem wissenschaftstheoretischen Status zu tun. Anfangs waren die empirischen Belege für die Evolutionstheorie noch teilweise lücken- und mangelhaft. Die Evolutionstheorie stand zwar im Ruf, eine revolutionäre Hypothese darzustellen, sie war in der wissenschaftlichen Zunft aber noch umstritten. Erst durch den empirischen Erkenntnisfortschritt erlangte sie allmählich ihren heutigen Rang einer allgemein anerkannten wissenschaftlichen Theorie und gilt inzwischen als das erfolgreichste wissenschaftliche Paradigma, um die Artenvielfalt zu erklären.
Die langanhaltenden Vorbehalte des Christentums gegenüber dem Entwicklungsgedanken waren primär jedoch theologischer Natur. Die Evolutionstheorie mit ihrer alternativen Sicht der Entstehung des Lebens auf Erden schien die Autorität der biblischen Schriften zu untergraben. In einer der ersten Stellungnahmen zur Evolutionstheorie verteidigte das Lehramt der katholischen Kirche den traditionellen Schöpfungsglauben. Die Päpstliche Bibelkommission bestand noch 1909 auf dem historischen Charakter der drei ersten Kapitel der Genesis. Die katholische Exegese wurde auf die wörtliche Auslegung der biblischen Erzählungen rund um Schöpfung, Paradies und Sündenfall verpflichtet. Die Anfangskapitel des Buches Genesis würden „Erzählungen wirklich geschehener Dinge“ enthalten, die „der objektiven Realität und historischen Wahrheit entsprechen“.89 Zu diesen historischen Tatsachen zählte die Bibelkommission u. a. „die besondere Erschaffung des Menschen; die Bildung der ersten Frau aus dem ersten Menschen; die Einheit des Menschengeschlechtes; die ursprüngliche Glückseligkeit der Stammeltern im Stande der Gerechtigkeit, Unversehrtheit und Unsterblichkeit“ (Denzinger-Hünermann [= DH] 3514). 1948 wurde die Erklärung der Bibelkommission mit einer Auslegungsbestimmung versehen. Diese kann als vorsichtiger Versuch einer Selbstkorrektur interpretiert werden. Die Erklärung von 1909 habe, so verlautbarte der damalige Sekretär der Bibelkommission in einem Brief an Kardinal Suhard, „einer weiteren echt wissenschaftlichen Überprüfung dieser Probleme“ nicht im Wege stehen wollen (DH 3862). 1943 erhielt die moderne Exegese durch die Enzyklika Divino afflante Spiritu von Pius XII. Heimatrecht in der katholischen Kirche (vgl. DH 3825–3831). Vor allem mit der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. DH 4201–4235) wurde von katholischer Seite der „Anschluss an die seit dem 19. Jahrhundert ertragreich arbeitende religionswissenschaftliche und historisch-kritische Erforschung der biblischen Texte gefunden und eine wörtliche Auslegung der Erkundung des eigentlichen Aussagesinns des Textes untergeordnet“90.
Damit war der Weg bereitet für eine Annäherung des kirchlichen Lehramtes an die Evolutionstheorie. Diese erfolgte 1950 unter Pius XII. in der Enzyklika Humani generis (vgl. DH 3875–3899). Der Papst würdigte in seinem Schreiben die Evolutionstheorie als eine wissenschaftliche Hypothese, „die nicht im Gegensatz stehe zu dem, was der Glaube über den Menschen sagt, solange man nicht die unmittelbare Erschaffung der Geistseele durch Gott bestreitet“91. Seit der Veröffentlichung der Enzyklika war es Katholiken nun offiziell gestattet, die Evolutionslehre „gemäß dem heutigen Stand der menschlichen Wissenschaften und der heiligen Theologie in Forschungen und Erörterungen von Gelehrten in beiden Feldern“ zu behandeln (DH 3896). Diese Aussage wurde als prinzipielle Anerkennung der Evolutionstheorie durch die katholische Kirche interpretiert. In der Anwendung auf den Menschen differenzierte das Lehramt jedoch. Der „Ursprung des menschlichen Leibes aus schon existierender und lebender Materie“ (DH 3896) wurde als wissenschaftliche Hypothese akzeptiert. In Bezug auf die Geistseele des Menschen bestand die Enzyklika jedoch auf der traditionellen Lehre: Die Seele werde unmittelbar von Gott erschaffen und dem Menschen eingestiftet (vgl. DH 3896).
Der allgemeinen Akzeptanz der Evolutionstheorie(n) in der scientific community92 trug schließlich Papst Johannes Paul II. in einigen vielbeachteten Ansprachen Rechnung. In Anbetracht der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse dürfe die Evolutionstheorie nicht länger als eine bloße Hypothese (una mera ipotesi) angesehen werden.93 Recht verstandene Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube widersprechen einander nach Ansicht des Papstes nicht. „Evolution setzt Schöpfung voraus; Schöpfung stellt sich im Licht der Evolution als ein zeitlich erstrecktes Geschehen – als creatio continua – dar“94. Auf dieser Linie formuliert der Katholische Erwachsenenkatechismus: „Gott schafft die Dinge so, dass sie ermächtigt sind, bei ihrer eigenen Entwicklung mitzuwirken.“95 Das Wirken Gottes beschränkt sich dabei nicht auf den Anfang. Gott überlässt die von ihm geschaffene Werde-Welt nicht einfach sich selbst. Seine Vorsehung erstreckt sich auf die gesamte Schöpfung und somit auch auf den Evolutionsprozess. „Einen ungesteuerten Evolutionsprozess – der außerhalb der Grenzen der göttlichen Vorsehung fiele – kann es“, laut der Internationalen Theologenkommission, „einfach nicht geben, denn ‚die Ursächlichkeit Gottes, der der Erstwirkende ist, erstreckt sich auf alles Seiende‘“96. Es zeigt sich somit: An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert hat auch die katholische Kirche den Übergang „von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Dinge zu einem mehr dynamischen und evolutionären Verständnis“ (Gaudium et spes 5; DH 4305) vollzogen. Die Theologie hat inzwischen erkannt und anerkannt, dass die biblischen Schöpfungstexte weder naturwissenschaftliche Abhandlungen noch historische Protokolle darstellen. Vorrangiges Anliegen der Texte ist somit nicht zu schildern, wie Gott die Welt und alles in ihr erschaffen hat. Im Zentrum steht vielmehr eine Glaubensaussage: Der eine und einzige Gott ist Schöpfer und Herr der ganzen Welt. Weil alles seinen Ursprung in Gott hat, sind die biblischen Autoren von der grundsätzlichen und ursprünglichen Güte bzw. Sinnhaftigkeit des Geschaffenen überzeugt. Wie die Welt entstanden ist und sich die Organismen entwickelt haben, kann hingegen von den Naturwissenschaften beantwortet werden, die ihrerseits jedoch keine Antwort auf die Frage geben können, weshalb es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.