Читать книгу Durch die Tore des Todes - Martin Michaud - Страница 14
7. Graffiti
Оглавление»Treten Sie bitte einen Schritt zurück, Monsieur Almeida. Noch ein bisschen, ein bisschen …«
Die Spraydose, die Victor in dem Pflanzkübel entdeckt hatte und das Graffiti an der Mauer daneben hatten die beiden Ermittler in das gegenüberliegende Juweliergeschäft geführt, denn die Überwachungskamera des Juweliers erfasste genau diesen Bereich. Der kleine Mann neben Victor schob geschickt die Maus hin und her, rief mit einem Klick den Bildschirm auf und ließ die Szene wiederholt abspielen. »Stopp! Ja, dort, zeigen Sie mir noch mal den Teil.«
Sie befanden sich in einem fensterlosen Kabuff im hinteren Bereich des Geschäftes. An einer Wand stand ein mächtiger, bestimmt mehrere Tonnen schwerer Tresor. Victor drehte sich auf seinem Stuhl an dem mit Papierkram und Rechnungen übersäten Schreibtisch zu Jacinthe um, die hinter ihm und dem Juwelier stand.
»Was hältst du davon?«
Sie schüttelte ratlos den Kopf.
»Spielen Sie die Szene bitte noch mal ab.«
Victor deutete direkt auf den Bildschirm. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme war verschwommen und abgehackt.
»Da! Was macht er denn da?«
In der Sequenz, die sie sich bereits zum x-ten Mal ansahen, erkannte man die Umrisse einer Gestalt, die soeben ein Graffiti an die Mauer sprühte. Höchstwahrscheinlich männlich, die Kapuze seines grauen Hoodies tief ins Gesicht gezogen, konnte es ein Mann oder ebenso gut ein Jugendlicher sein. Einen Augenblick lang drehte sich der Sprayer während der Aufzeichnung nach links, doch das spärliche Licht und der Schatten seiner Kapuze machten es unmöglich, ihn genauer zu erkennen.
Jacinthe beugte sich über den Rücken ihres Partners, um besser sehen zu können, und kniff die Augen zusammen.
»Das ist irgendwie undeutlich. Er geht aus dem Bereich der Überwachungskamera raus, und dann verlieren wir ihn aus den Augen.«
Victor fröstelte. Aus einer Klappe in der Decke strömte eiskalte Luft. Die Klimaanlage war bis zum Anschlag aufgedreht, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis er zu einem Eisklotz erstarrte.
»Sieht fast so aus, als würde er sich bücken und was aufheben.«
Jacinthe verzog den Mund.
»Vielleicht den Behälter mit Tanguays Kopf.«
Der Sergent-Détective zuckte skeptisch die Schultern. Logischerweise hätte der Sprayer zuerst die Kiste in den Container befördert, bevor er sich seinem Graffiti widmete.
»Meiner Ansicht nach hebt er einen Rucksack auf. Oder er leiht sich ein BIXI.«
Jacinthe sah ihm in die Augen.
»Wir wissen noch nicht genau, ob das Graffiti überhaupt etwas mit unserem Fall zu tun hat, aber können wir uns darauf verständigen, dass der Sprayer zumindest ein wichtiger Zeuge ist?«
Sowohl der morbide Stil des Graffitis als auch die Tatsache, dass es in derselben Nacht entstanden war, in der man den Kopf gefunden hatte, machten es unumgänglich für sie, sich genauer damit zu beschäftigen.
»Ein wichtiger Zeuge, vielleicht sogar ein Verdächtiger. Mal sehen. Bisher haben wir jedenfalls bloß eine sehr grobe Beschreibung.«
»Vielleicht könnten Murray und seine Truppe das Bild ein bisschen aufbereiten. Die vollbringen manchmal wahre Wunder.«
Victor holte tief Luft. Dank ihrer Spezialsoftware gelang es den Fachleuten des SPVM womöglich tatsächlich, die Bilder zu reinigen und zu entpixeln, aber er hatte starke Zweifel, ob am Ende ein brauchbares Bild dabei herauskommen würde.
Almeida hob die Hand wie ein Schüler, der sich meldet, aber als die beiden Polizisten ihn nicht beachteten, schaltete er sich einfach unaufgefordert in die Unterhaltung ein.
»Vielleicht helfen Ihnen die städtischen Überwachungskameras weiter. Sie könnten seine Spur und seinen Weg hierher verfolgen. So hat man damals beim Bombenattentat in Boston die beiden jugendlichen Täter geschnappt.«
Almeida hatte langsam und mit leicht ausländischem Akzent gesprochen und jedes Wort sorgfältig artikuliert. Victor wandte sich ihm freundlich zu.
»Wir werden das auf jeden Fall überprüfen. Aber um ganz ehrlich zu sein, Monsieur Almeida, ich bin da nicht sehr optimistisch. Bürgermeister Coderre redet gern davon, dass er mehr Sicherheitskameras installieren will, aber in Wirklichkeit gibt es in Montréal deutlich weniger davon als in anderen Großstädten. Und der SPVM hat lediglich Zugriff auf rund zwanzig Kameras.«
Almeida nickte und wusste es offenbar zu schätzen, dass der Polizist sich die Zeit genommen hatte, seine Frage zu beantworten. Der Sergent-Détective blickte jetzt erneut auf den Bildschirm.
»Okay, also fassen wir mal zusammen: Um 3 Uhr 09 tritt unser Mann in den Bereich der Überwachungskamera und sprayt sein Graffiti. Um 3 Uhr 21 ist er damit fertig und verschwindet kurz darauf aus dem Kamerabild.«
Jacinthe deutete mit dem Kinn in Almeidas Richtung.
»Ist die Uhr an Ihrer Kamera zuverlässig?«
Almeida straffte sich ein wenig. Die Frage verletzte offenbar seinen Besitzerstolz.
»Selbstverständlich, Madame.«
Jacinthes Handy klingelte.
»Hallo, Kid … Ja, genau, ich hab dich angerufen … Wir sind in dem portugiesischen Juweliergeschäft in Saint-Laurent … Jaja, der ist hier. Wir überprüfen zusammen mit dem Inhaber die Videos seiner Überwachungskamera. Vielleicht gibt’s einen Verdächtigen … So ein Typ, der um 3 Uhr morgens ein total abgedrehtes Graffiti gesprayt hat. Was?«
Jacinthe blickte Victor fragend an.
»Wie groß war der Junge ungefähr, deiner Schätzung nach?«
»So Pi mal Daumen würde ich sagen einen Meter achtzig.«
»Hast du das gehört? … Graues Sweatshirt mir Kapuze, enge schwarze Jeans und Armeestiefel … Nein, das Bild ist zu unscharf … An dem weißen Backsteingebäude schräg gegenüber vom Juwelier.« Sie nickte. »Ja, genau, an der BIXI-Station … Was möchtest du hören, Loïc? Dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als von vorn anzufangen.«
Sie beendete das Gespräch. Ein leicht spöttisches Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.
»Die waren schon fast fertig. Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, dass Kid nicht sehr begeistert davon war, weil er jetzt noch mal alle nach diesem Sprayer befragen darf.«
Victor hob hilflos die Hände. Die Befragung der Nachbarn am Tatort war zwar eine ziemlich undankbare Aufgabe, er selbst hatte das schon Dutzende Male übernommen, sie durfte aber auf keinen Fall ausgelassen werden. Eine große Zahl von Verbrechen wurde dank der Informationen aufgeklärt, die man in den Stunden nach der Tat in der Nachbarschaft sammelte.
Während der Juwelier Jacinthe den Weg zur Toilette zeigte, stand Victor auf und tigerte in dem winzigen Zimmer umher. Mit geschlossenen Augen fragte er sich, in welchem Zustand sich Tanguays Kopf beim Abtransport wohl befunden haben mochte. War er gut erhalten oder hatte die Verwesung bereits eingesetzt? Seit er Polizist war, hatte er schon jede Menge Leichen gesehen. Misshandelte, ausgetrocknete, aufgeblähte und aufgeschlitzte Tote, Tote mit hervorquellenden inneren Organen, zerschmetterten Köpfen, durch Projektile herausgespritzten Hirnen, ausgerissenen Augen. Aber ein vom Körper abgetrennter Kopf? Niemals. Und er verspürte im Übrigen auch keinerlei Verlangen, diesen Kopf zu sehen. Hinterher verfolgten ihn die grausamen Anblicke der Toten immer und vergifteten seine Nächte. Er schlug die Augen auf und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Der Juwelier betrat soeben das Büro.
»Tut mir leid, Monsieur Almeida, aber ich benötige eine Kopie der Aufzeichnungen.«
»Kein Problem, Monsieur.«
Almeida nahm vor dem Bildschirm Platz und tippte von neuem rasend schnell auf die Tastatur ein. Victor warf einen Blick auf die Uhr. Schon 13 Uhr. Sein Magen krampfte sich zusammen. Obwohl er seit heute Morgen nichts heruntergekriegt hatte, war das kein Hunger, sondern die Angst, die ihre Tentakel in seinem Inneren ausstreckte. Er ging den Flur entlang zum Ausgang, und während er das Geschäft durchquerte, setzte sich plötzlich eine Idee in seinem Kopf fest: ein Gläschen würde ihm bestimmt wieder auf die Beine helfen. Eine Versuchung, die ihn nicht zum ersten und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal überkam. Er spielte kurz mit dem Gedanken, einen Angstlöser aus dem Pillendöschen in seiner Tasche einzuwerfen, aber als er die Tür öffnete und im Sonnenschein stand, entschied er, die Sache erst mal auf sich beruhen zu lassen.