Читать книгу Durch die Tore des Todes - Martin Michaud - Страница 18

10. Stillstand

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Victor betrat den Konferenzraum und stellte seinen Pappbecher mit koffeinfreiem Kaffee auf dem Tisch ab. Jacinthe, ganz vertieft in die Akte vor sich, hob nicht mal den Kopf. Die Uhr an der beigefarbenen Wand zeigte 7 Uhr an. Victor war also, anders als gedacht, nicht der Erste heute Morgen, sondern seine Partnerin war noch früher auf den Beinen. Auf dem Tisch stapelten sich Mappen und Notizen. Der Polizist musterte die Plexiglastafel; ein Mitarbeiter hatte dort eine Reihe Fotos befestigt, auf denen der Gerichtsmediziner die Obduktion Maurice Tanguays dokumentierte. Daneben hingen einige Vergrößerungen des Graffiti. Jacinthe klappte lautstark ihre Akte zu und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

»Mir reicht’s allmählich, wir drehen uns nur im Kreis. Tanguays Körper ist unauffindbar, es gibt keine belastbare Spur und keinen Hinweis auf die Identität des nächsten Opfers. Unsere Ermittlungen sind einfach Schrott.«

Eine Woche war vergangen, seit das Pärchen den Kopf im Container entdeckt hatte. Victor deutete ein Lächeln an.

»Salut, Jacinthe. Schlecht geschlafen?«

Sie warf ihm einen Mörderblick zu.

»He, nerv mich nicht am frühen Morgen! Letzte Nacht war es viel zu warm.«

Er runzelte erstaunt die Stirn.

»Ich dachte, du hättest eine Klimaanlage in eurem Schlafzimmer installiert.«

Jacinthe verschränkte verdrossen die Arme.

»Die hat Lucie um 2 Uhr abgeschaltet, weil ihr so kalt war.«

Um ein Haar wäre Victor herausgeplatzt, aber seine entspannte Stimmung verflog bald. Jacinthe jammerte zu Recht, alles gehe den Bach runter. In der Stimme seiner Partnerin lag etwas Trauriges, und ihm selbst ging es ähnlich. Insgeheim waren sie beide davon überzeugt, dass ihnen bald eine Katastrophe blühte, gepaart mit der noch schrecklicheren Gewissheit, sie nicht aufhalten zu können. Victor zog sich einen Stuhl heran und ließ sich seiner Partnerin gegenüber nieder. Er griff nach der erstbesten Akte. Bevor er sie aufschlug, vergrub er einen Augenblick lang das Gesicht in den Händen.

Wo sollte er bloß anfangen?

Sie mussten sich nicht weiter verständigen. Sie waren beide aus demselben Grund hier: Alles noch mal von Anfang an durchgehen, jedes Element einzeln unter die Lupe nehmen und versuchen, einen Hinweis zu finden, der ihnen bisher entgangen war. Denn im Berufsalltag mussten sich Ermittler in Ermangelung einer Spur eben manchmal auch langsam vorantasten und darauf hoffen, dass der Nebel sich auflöste.

Im 11. Revier gingen Loïc und Nadja derweil die Dossiers durch, die Tanguay in den letzten Jahren bearbeitet hatte. Bisher erfolglos und ohne brauchbare Hinweise.

Die Tatsachen waren unmissverständlich und ließen sich nur auf eine Weise deuten: Sowohl die Nachricht im Mund des Opfers als auch das Graffiti in der Rue Duluth, unweit der Bäckerei, bezogen sich auf den Weihnachtsmann. Das war mit Sicherheit kein Zufall. Obwohl sie die Möglichkeit, dass Sprayer und Mörder Komplizen waren, nicht völlig ausschließen konnten, war es im Augenblick vernünftiger, davon auszugehen, dass es sich bei Mörder und Sprayer um ein und dieselbe Person handelte.

Murray und sein Team hatten die Aufnahmen des Sprayers bearbeitet. Aber wie Victor bereits befürchtet hatte, waren die erzeugten Bilder nicht scharf genug, um die Gesichtszüge genau zu erkennen. Nach Ansicht des Sergent-Détective hatte sich der Verdächtige auch keineswegs zufällig so platziert, dass die Überwachungskamera des Juweliers sein Gesicht unter der Kapuze nicht erfasste. Er hatte über den Standort der Kameras genau Bescheid gewusst und dafür gesorgt, sichtbar, aber nicht identifizierbar zu sein, während er das Graffiti an die Wand sprühte. Er hatte wohlüberlegt und absichtsvoll gehandelt. Aber warum? Um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken oder um sich über sie lustig zu machen?

Zudem war es ihnen nicht gelungen, auf den anderen Überwachungskameras Spuren des Sprayers zu finden, und die Überprüfung der BIXI-Ausleihstation hatte ebenfalls keine Anhaltspunkte geliefert.

Die Nachricht im Munde Tanguays war eindeutig. Sie wies auf mindestens ein weiteres zukünftiges Opfer hin, nämlich den »Weihnachtsmann«. Das Ermittlerteam hatte bereits mehrere Stunden lang darüber diskutiert, ohne zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Der Weihnachtsmann war eine fiktive Person. Im wortwörtlichen Sinne ergab sich daraus eine Frage, die zunächst geradezu banal schien: Warum jemanden töten, der überhaupt nicht existierte? Sie hatten auch lange überlegt, welcher Sinn sich hinter dieser Drohung verbergen mochte. Erste Möglichkeit: Sie war rein symbolisch zu verstehen. Sollte das der Fall sein, hatten die Ermittler das Geheimnis noch nicht gelüftet. Mangels einer besseren Hypothese hatten sie sich schließlich für die zweite Möglichkeit entschieden: Den Ausdruck im übertragenen Sinn zu verstehen. Der Name »Weihnachtsmann« könnte demnach der Spitzname oder das Pseudonym einer bestimmten Person sein.

So, wie die Nachricht formuliert war, konnte man so gut wie sicher von einem zweiten Anschlag des Mörders ausgehen, was das zukünftige Opfer selbst betraf, tappten sie völlig im Dunkeln, und dasselbe galt für alle weiteren mutmaßlich bedrohten Personen.

Eine ganze Reihe von Fragen war offen. Stand der Mord an Tanguay in Zusammenhang mit seiner Funktion? Würde der Mörder bei künftigen Anschlägen ausschließlich Polizisten im Visier haben oder auch Zivilisten? Statt im Verborgenen zu agieren, hatte er sie, ohne Not und zumindest teilweise, über sein weiteres Vorgehen informiert. Aus welchem Grund? Nach Victors Ansicht wollte er die Polizei dadurch bewusst herausfordern. Indem er ihnen mitteilte, dass es mindestens einen weiteren Toten geben würde, plante er möglicherweise, sie zusätzlich anzustacheln, wollte dafür sorgen, dass sie auf der Hut waren und ihre Betroffenheit wecken. Empfand der Täter ein berauschendes Gefühl der Macht, wenn er mit gezielten Hinweisen die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich lenkte? Oder hatte er andere Motive für sein Verhalten? Vielleicht diente die Inszenierung nur dazu, seine wahren Beweggründe zu verschleiern? Letztlich waren sie keinen Schritt vorangekommen und verloren sich in Mutmaßungen. Zuerst der Mord an Tanguay, brutal, wie aus heiterem Himmel, und seither nichts.

Victor stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die verschränkten Finger. Jacinthe hatte sich wieder in ihre Akten vertieft.

Er schloss die Augen.

Sie hatten sich ebenfalls eingehend mit dem Graffiti beschäftigt, das gleichfalls eine Botschaft enthielt. Sie schien jedoch verrätselter und ambivalenter zu sein. Während die Nachricht in Tanguays Mund tatsächlich den Weihnachtsmann als ein mögliches – und vielleicht auch letztes – Opfer des Mörders beschrieb, hielt das Skelett auf dem Graffiti die Mütze des Weihnachtsmannes in der Hand und bedrohte einen Mann, der eine Kappe trug, mit einem Messer. Was bedeutete das? Auch dazu hatten sie jede Menge Hypothesen entwickelt. Stellte das Skelett den Mörder dar? Und falls dem so war, handelte es sich bei dem Mann mit Kappe dann um sein nächstes Opfer?

Loïc hatte sich in der Sprayer-Szene umgehört. Diese Szene war zwar bunt und beileibe nicht einheitlich, aber die visuelle Handschrift eines Graffitis ließ sich gleichwohl zuordnen. Es gab Vorlieben: Manche zogen das illegale Sprayen vor und sprühten ihre Tags und Graffiti an verbotene Stellen wie Autobahnpfeiler oder kleine Seitenstraßen, während andere, mit dem Einverständnis der Hausbesitzer, richtige Fresken an das Mauerwerk malten. Loïc zufolge kannte keiner von ihnen den gesuchten Sprayer. Nur in einem waren sich alle einig: Es handelte sich mit Sicherheit nicht um einen Anfänger. Kam er vielleicht aus einer anderen Stadt? Jemand, der in Montréal nur auf der Durchreise war?

Ein Foto des Graffiti war in der Presse veröffentlicht worden, ohne den Bezug auf den Mord an Tanguay oder einen anderen Kontext offenzulegen. Diejenigen, die meinten, das Bild wiederzuerkennen oder Ähnlichkeit mit anderen Bildern festzustellen, wurden aufgefordert, mit dem SPVM Kontakt aufzunehmen. Bisher waren rund fünfzig Informationen eingegangen und überprüft worden, aber keine davon hatte die Ermittler weitergebracht.

Schließlich hatte noch ein letzter Hinweis am Tatort selbst zu lebhaften Diskussionen im Team geführt. Steckte ein tieferer Sinn, eine Botschaft darin, dass der Kopf des Opfers in einem Abfallcontainer entdeckt worden war?

Victor hatte die Brainstorming-Sitzung beendet, indem er seine eigene Theorie dazu vorstellte:

»Die wahre Bedeutung der Nachricht ist vielleicht ganz einfach und wörtlich zu verstehen.«

Loïc, der so angestrengt Kaugummi kaute, als könnte das alle entscheidenden Fragen lösen, hakte nach.

»Und was genau wäre diese Bedeutung?«

»Vielleicht wollte der Mörder uns damit einfach sagen, dass Tanguay ein Stück Dreck war.«

Victor schlug die Augen auf und kehrte wieder in die Realität des Konferenzraumes zurück. Jacinthe, an der anderen Seite des Tisches, hob den Kopf und musterte ihn erwartungsvoll. Sie hoffte unverkennbar darauf, dass die Früchte seines Nachdenkens sie irgendwie weiterbrachten, einen neuen Ansatz lieferten. Er zuckte nur die Schultern. Leider nichts.

Sie kaute auf den Lippen herum, wandte sich wieder ihrer Akte zu und nuschelte zwischen den Zähnen:

»Allmählich kotzt mich die Geschichte hier richtig an.«

Loïc hatte vorgeschlagen, dass »der Weihnachtsmann« auch auf jemanden hinweisen könne, der während der Adventszeit kostümiert in den Einkaufszentren arbeitete. Doch diese Spur hatte ebenfalls ins Leere geführt. Selbst wenn sie ihre Recherche auf diejenigen beschränkten, die im vergangenen Jahr in und um Montréal als Weihnachtsmann eingesetzt worden waren, kamen allein dafür schon mehrere Hundert Personen infrage. Sie waren auch dem Einfall nachgegangen, der Familienname eines potenziellen Opfers könne möglicherweise irgendwie auf das Begriffsfeld »Weihnachtsmann« verweisen, aber auch das mündete in eine Sackgasse. Allein in Montréal war der Personenkreis mit ähnlich klingenden Nachnamen unüberschaubar.

Die Vorgehensweise des Mörders, seine Inszenierung der Tat war auffällig ausgeklügelt. Möglicherweise war es nicht sein erster Mord. Daraufhin hatten sie die Datenbanken durchforstet und eine Reihe von Suchbegriffen eingegeben, etwa »Graffiti«, »Weihnachtsmann«, »Kopf«, »Enthauptung«, »Messer«, »Mütze« und »Container«, um nach ähnlichen Fällen zu suchen. Aber auch hier: Fehlanzeige.

Victor schlug die Akte mit dem Autopsie-Bericht Jacob Bergers auf und durchblätterte sie. Der Gerichtsmediziner bestätigte darin, dass Tanguays Kopf tiefgekühlt worden war, bevor er in den Karton gepackt wurde. Aus diesem Grund ließ sich der genaue Todeszeitpunkt nicht bestimmen.

»Ich könnte Hypothesen aufstellen«, schrieb er, »weiß aber nicht, wie nützlich sie sind. Das Einzige, was ich zurzeit bestätigen kann, ist, dass die Behauptung des Mörders, er habe das Opfer am 13. Juli um 3 Uhr 25 getötet, meinen Schlussfolgerungen nicht widerspricht. Meiner Ansicht nach sagt er wahrscheinlich die Wahrheit.« Warum machte der Mörder diese genaue Angabe? Aber so sehr sie sich auch das Hirn zermarterten, es fiel ihnen partout keine einleuchtende Erklärung ein.

Victor übersprang ein paar Absätze und las: »Der Schnitt ist glatt und wurde mit einer außerordentlich scharfen Klinge, beispielsweise von einem japanischen Schwert, ausgeführt«, merkte Berger an. Und noch eine Beobachtung des Gerichtsmediziners ließ den Sergent-Détective stutzen: »Der kleine Plastikbeutel im Mund des Opfers entspricht der Größe jener Beutel, in die man Kokain vor dem Weiterverkauf abpackt.« Laut toxikologischem Bericht waren weder Drogen noch andere verdächtige Substanzen in Tanguays Leiche entdeckt worden.

Victor richtete den Blick auf seine Partnerin und räusperte sich. Er hatte Lust auf einen Szenenwechsel, irgendwo anders zu sein, egal wo. Nichtsdestoweniger sagte er, beinahe gegen seinen Willen:

»Ich stelle mir immer wieder dieselbe Frage: Warum war der Kopf tiefgekühlt?«

Jacinthe fegte die Frage ungeduldig beiseite.

»Haben wir doch längst geklärt, oder? Weil der Mörder den Kopf dann wo und wann er wollte loswerden konnte, ohne sich um Geruch oder Verwesungszustand zu scheren.«

Victor stand auf und tigerte im Raum hin und her. Jacinthe hatte ja recht, aber irgendwo war da trotzdem ein Haken. Sie hatten auch überlegt, ob der Täter den Kopf tiefgekühlt hatte, um sich einfacher bewegen zu können, beispielsweise wenn er in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war. Plötzlich kam ihm das Bild eines Sprayers mit einem Karton auf den Knien in den Sinn. Was für eine grauenhafte Vorstellung! Eine anonyme Person in der Menge, jemand, der vollkommen harmlos wirkt und den Kopf eines Toten mit sich herumschleppt.

Victor schloss die Augen, sah erneut die Seitenstraße vor sich, in der sie das Graffiti entdeckt hatten und versuchte, sich die letzten Stunden Tanguays vorzustellen. Der Mörder hatte es nicht eilig gehabt, sondern sich die Zeit genommen, ein komplexes Graffiti an die Mauer zu sprühen. Wohnte er möglicherweise in dieser Gegend? War Tanguay in einem Apartment ermordet worden, das in der Nähe lag?

Er schlug die Augen auf und massierte sich die Schläfen mit den Daumen. Sein Handy vibrierte. Er las die Textnachricht von Virginie Tousignant und schüttelte widerspenstig den Kopf. Er war kaum hier angekommen, und schon hatte er Lust auf eine Zigarette.

»War cool, dich wiederzusehen. Müssen irgendwann mal Kaffee trinken:)«

Durch die Tore des Todes

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