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12. Hinweis

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Victor klopfte an die Eingangstür der Wohnung, an der Ecke der Rue Moreau und Ontario Est. Der Immobilienaufschwung des Viertels Hochelaga-Maisonneuve war an dieser heruntergekommenen Gegend spurlos vorübergegangen. Als sich nichts rührte, klopfte der Polizist erneut. Abgeplatzter Lack blieb an seinen Fingerknöcheln haften, und er rieb ihn am Oberschenkel ab. Hinter dem schmutzstarrenden Vorhang an der Glastür nahm er einen Schatten im Korridor wahr.

Eine dunkle Stimme ertönte hinter der Tür.

»Ja?«

»Yves? Ich bin’s, Victor Lessard.«

Ein Sicherheitsschloss schnappte auf und gleich darauf ein zweites. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein bleiches, von roten Flecken entstelltes Gesicht war halb zu sehen. Ein blaues unruhig zuckendes Auge musterte ihn misstrauisch.

»Hast du’s mitgebracht?«

Victor nahm die braune Papiertüte unter seinem Arm und schwenkte sie in der sonnenwarmen Luft. Die Tür öffnete sich. Yves Gagné, mit schweißüberströmtem, von feuerrotem Haar umkränztem Schädel, in Hemd und Unterhose, stand einen Augenblick lang reglos da und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Nach kurzem Zögern ergriff er die Papiertüte, die der Sergent-Détective ihm entgegenhielt. Er zwinkerte nervös und trat schließlich beiseite.

»Komm rein, Lessard.«

Die Wohnung war völlig verwahrlost. Es war so heiß wie im Backofen, da trotz der Hitze alle Fenster geschlossen waren. Als sie den Flur entlanggingen, sah Victor flüchtig einen Stapel Pornomagazine auf dem Wohnzimmersofa liegen, mit zerknüllten Papiertaschentüchern darauf.

Während die Flipflops leise klatschend gegen seine Fersen schlugen, ging Gagné voran in die Küche. Der Sergent-Détective ließ den Blick kurz durch den Raum wandern. Vergilbte Zeitschriftenstöße wucherten in einer Ecke, auf der Küchentheke stapelten sich Türme von schmutzigem Geschirr, und in der Spüle dümpelten ein paar Töpfe im bräunlichen Abwaschwasser. Victor trat an den Herd. Reste einer angebrannten Mahlzeit trockneten auf dem Boden einer Pfanne vor sich hin. Der Polizist nahm den danebenliegenden Holzlöffel, kratzte probeweise an der schwarzen Kruste und legte das Utensil dann wieder neben dem Herd ab.

»Nachher musst du mir unbedingt noch dein Soßenrezept für Spaghetti verraten.«

Gagné zog sich einen Stuhl heran und pflanzte sich hinein. Ein von Kippen überquellender Aschenbecher fungierte als zentraler Tischschmuck. Dann deutete er einladend auf Victors Mitbringsel.

»Bedien dich, ich geb einen aus.«

Er bleckte lächelnd die tabakgelben Zähne, die in diesem Leben nicht mehr zu retten waren und bedeutete dem Sergent-Détective, sich zu setzen. Victor nahm Platz und musterte sein Gegenüber durchdringend. Yves Gagné wickelte die Flasche aus der Verpackung und entkorkte sie. Er sog einen Moment lang den Alkoholdunst ein, warf den Kopf zurück und nahm einen langen Zug aus der Flasche. Innerhalb einer Sekunde trat ein beinahe lustvoller Ausdruck auf sein verbrauchtes Gesicht.

Er hielt Victor die Flasche hin.

»Willst du was?«

»Ich hab schon vor Ewigkeiten aufgehört.«

Gagné zuckte die Schultern. Victor zog eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche, zündete zwei gleichzeitig an und reichte Gagné eine davon.

»Warum bist du hier, Lessard?«

»Deine Nachricht hat mich neugierig gemacht. Hast du Informationen über Tanguay?«

Yves Gagné hatte vierzehn Jahre lang als Ermittler in der Abteilung organisiertes Verbrechen innerhalb des SPVM gearbeitet, und Victor war ihm gelegentlich bei Sitzungen oder auf Schulungen begegnet. Ein netter Kerl, der auf seinem Handy Fotos von seinem Haus, seiner Frau oder seinen Kindern zeigte und ein geordnetes und sorgloses Dasein führte. Beruflich hatte er sich einen Namen als fähiger und besonders gründlicher Ermittler gemacht. Bis im Jahr 2009 sein Leben plötzlich auf den Kopf gestellt wurde.

Gagné stieß eine Rauchwolke aus und pulte mit dem Daumennagel zwischen den Zähnen herum.

»Kann schon sein.«

Die Medien hatten damals mehrfach über die Affäre berichtet, und sie hatte unzählige Diskussionen in den Büros des SPVM ausgelöst. Gagné, den man verdächtigte, geheime Dossiers aus der Datenbank des Centre de renseignements policiers du Québec (CRPQ) geschleust zu haben, war schließlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden.

Victor hustete kurz.

»Was willst du dafür? Ich sag’s dir gleich, Yves: Falls du an Geld denkst, vergiss es. Dann verschwenden wir hier beide nur unsere Zeit.«

Als das Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde, hatte der ehemalige Polizist angefangen zu trinken und war bis zu seiner Verurteilung völlig abgestürzt. Während seiner Zeit im Gefängnis versuchte er, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, bis er erfuhr, dass ein Kollege eine Affäre mit seiner Frau angefangen hatte.

Eine Rauchwolke schwebte über den Tisch. Gagné machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Das klären wir später, einverstanden?«

Victor musterte ihn. Der andere erwiderte den Blick reglos und knirschte mit den Zähnen.

»Ich bin ganz Ohr.«

Mit gesenktem Kopf und verschränkten Händen saß Yves Gagné einen Moment lang schweigend und in sich gekehrt da, als würde er sich sammeln, um einen Psalm vorzutragen. Dann hob er den Blick und sah den Sergent-Détective an.

»Maurice Tanguay hat mich reingelegt.«

Auf Victors Gesicht malte sich Erstaunen. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, streckte den Arm aus und drückte die Kippe im Aschenbecher aus. Gagné tat es ihm nach.

»Was soll das heißen?«

Gagné hielt einen Augenblick inne. Was er zu erzählen hatte, weckte schmerzliche Erinnerungen.

»Ich habe immer behauptet, die Recherchen, mit denen ich beschäftigt war, wären im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit erforderlich gewesen, aber das entsprach nicht der Wahrheit. Ich habe für jemanden gearbeitet.«

»Tanguay hat dich dafür bezahlt, dass du ihm Informationen aus der Datenbank beschaffst?«

Gagné nickte.

»Tanguay hat mich mehrmals dafür eingespannt.«

Victor überlegte schweigend. Die Erklärung seines ehemaligen Kollegen überraschte ihn und in seinem Kopf überstürzten sich die Fragen.

»Aber warum? Er hätte doch selbst recherchieren können. Er hatte auch Zugang zur Datenbank, genau wie du und ich.«

»Du vergisst, dass ich in der Abteilung organisiertes Verbrechen gearbeitet habe. Jede Suchanfrage hinterlässt Spuren im System. Bestimmt wären einige Leute stutzig geworden, wenn Tanguay selbst in der Datenbank zu Personen recherchiert hätte, die nichts mit den Fällen zu tun haben, für die er verantwortlich war?«

Victor gab keine Antwort, er dachte intensiv nach.

»Nein, Tanguay war eben vorsichtig«, fuhr Gagné fort. »Im organisierten Verbrechen hatte ich den größeren Handlungsspielraum. Das hat er ausgenutzt, um sich die Hände nicht schmutzig zu machen. Und falls doch jemand etwas davon spitzkriegte, wären Suchanfragen und umfangreiche Recherchen zu einer großen Personenanzahl bei meiner Arbeit ja nichts besonders Auffälliges gewesen.«

Der Sergent-Détective schob das Kinn vor.

»So normal auch wieder nicht, denn irgendjemand hat ja euren Deal herausgefunden und du bist im Gefängnis gelandet.«

»Deswegen sage ich doch, Tanguay hat mich reingelegt. Als der Innendienst mich festgenommen hat, hatte ich so ungefähr zehn Recherchen für Tanguay durchgeführt. Und normalerweise, da sind wir uns wahrscheinlich einig, wäre das niemandem weiter aufgefallen, richtig?«

»Du meinst, jemand hat ihnen einen Hinweis gegeben?«

»Mit Sicherheit! Ich war sehr vorsichtig, ich kenne das System in- und auswendig und weiß, wie ich meine Spuren verwische. Die Leute vom Innendienst wussten ganz genau, wo und nach was sie suchen mussten, das gebe ich dir schwarz auf weiß.«

»Und du glaubst, Tanguay hätte ihnen …«

»Wer denn sonst?«

»Aber warum hast du während der Ermittlung kein Wort davon gesagt?«

»Weil er mir versprochen hatte, dass er sich um mich kümmert, wenn ich die Klappe halte. Er würde mir die besten Anwälte bezahlen und mir nachher Geld geben.«

»Und wie ging es dann weiter?«

»Zuerst hat er mir ein bisschen Geld gegeben, um einen Teil der Anwaltskosten zu bezahlen, aber dann … Als es brenzlig wurde, ist er abgetaucht, und ich habe nie wieder von ihm gehört.«

»Warum hast du ihn denn nicht angezeigt?«

Gagné murmelte voll unterdrückter Wut:

»Weil er mir gedroht hat, sich an Suzie und den Kindern zu rächen.«

Gagnés Blick verschleierte sich, und in seinen Augen standen Tränen. Er setzte die Flasche an den Mund, nahm einen Schluck Whiskey und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Ich war in der Zwickmühle, verstehst du.«

Victor schüttelte den Kopf: Irgendetwas war faul an der Geschichte. Gagné hatte ihm nicht alles erzählt.

»Aber warum? Warum solltest du das Bauernopfer sein? Das ergibt doch keinen Sinn. In Freiheit warst du ihm doch viel nützlicher als hinter Gittern.«

Gagné ließ sich gegen die Stuhllehne zurücksinken.

»Keine Ahnung. Seit Jahren zerbreche ich mir schon den Kopf darüber, aber ich verstehe immer noch nicht, was da eigentlich passiert ist.«

Der Sergent-Détective erhob sich, fest überzeugt, dass sein Gegenüber nicht mit der ganzen Wahrheit herausgerückt war.

»Ich habe genug gehört, Yves.«

Victor hatte sich aufgerichtet und überragte Gagné jetzt mit seiner ganzen Länge. Er beugte sich vor, den erhobenen Zeigefinger auf Gagnés Brust gerichtet. Überrascht zog der andere den Kopf zwischen die Schultern.

»Ich verschwende hier nur meine Zeit. Bisher wurde es noch nicht in der Öffentlichkeit bekannt gegeben, aber derjenige, der Tanguay umgebracht hat, hat angekündigt, ein zweites Mal zuzuschlagen. Ruf mich an, wenn du wirklich mit offenen Karten spielen willst.«

Durch die Tore des Todes

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