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11. Tagesablauf

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»Hör endlich auf, hier im Kreis rumzulaufen, das nervt …«

Nachdem er eine Zigarette auf dem Parkplatz geraucht hatte, war Victor zurückgekommen und drehte seither Runden im Besprechungsraum. Achselzuckend blieb er vor der Plexiglastafel stehen, legte die Hände auf dem Rücken übereinander und vertiefte sich erneut in die Aufnahmen der Autopsie. Der wächserne, gummiartig wirkende Kopf glich den Masken, die man im Kino für Spezialeffekte einsetzte. Lider und Augäpfel waren blau angelaufen und die Schnittränder dunkelbraun verfärbt.

Mehr war nicht von Maurice Tanguay übrig geblieben.

Ermittlungen sind nichts anderes als ein Prozess, in dem fortwährend bestimmte Annahmen ausgeschlossen werden. Auf Grundlage der bekannten Elemente legt man fest, unter welchen Umständen sich die Tat abgespielt haben muss und stellt dann Arbeitshypothesen auf, zieht Möglichkeiten in Betracht. Und während man im Verlauf der Ermittlungen allmählich die unwahrscheinlichen Annahmen verwirft, zeichnet sich nach und nach die Wahrheit in der Summe der wahrscheinlichen Annahmen ab. Wie war Tanguay dorthin gelangt, wo man ihn gefunden hatte? Welche Ereignisse im Vorfeld hatten zu seiner Enthauptung geführt?

Am Freitag hatte er einen ganz normalen Arbeitstag im 11. Revier verbracht. Gegen 19 Uhr war er auf einem Wohltätigkeitsdinner zugunsten der Organisation Acceuil Ici, Maintenant eingetroffen. Die AIM bot in Not geratenen Jugendlichen Notfallunterkünfte, psychologische und soziale Hilfe an und unterstützte sie außerdem bei der Suche nach Arbeit. Daneben offerierte sie ein breites Freizeitprogramm für alle, die zwischen zwölf und zweiundzwanzig Jahre alt waren. Tanguay war Mitglied des Verwaltungsrates der Organisation und zeitweise auch als ehrenamtlicher Mitarbeiter tätig.

»Lessard?«

Jacinthes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und bemerkte, dass sie ihn beobachtete.

»Ja?«

»Woran hast du gerade gedacht?«

Er antwortete mit einer Gegenfrage:

»Was hat Tanguay zwischen dem Abendessen und seinem Todeszeitpunkt gemacht? Davon hängt alles ab … Was haben wir übersehen?«

Sie hatten den Tagesablauf des Commandant bis in alle Einzelheiten rekonstruiert, aber dieser Zeitabschnitt war nach wie vor unklar.

Ihren Nachforschungen zufolge war Tanguay tatsächlich nie mehr in seine Wohnung zurückgekehrt. Sein Auto war in der Rue Sherbrooke gefunden worden, ein paar Ecken vom Sitz des AIM entfernt, wo man ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Während des Wochenendes hatte man einen Bußgeldbescheid unter die Scheibenwischer des Fahrzeugs geklemmt.

»Wir haben uns praktisch jeden Zeugen vorgeknöpft, keine Ahnung, was wir noch machen sollen. Damit haben wir mehr oder weniger die ganze letzte Woche verbracht.«

Gemeinsam mit Loïc und Nadja hatten Jacinthe und Victor die rund einhundertzwanzig geladenen Gäste des Wohltätigkeitsdinners befragt. Sie hatten so viele Personen gesehen, die ihnen häufig dasselbe erzählten, dass zum Schluss in ihren Köpfen alles leicht durcheinandergeriet. Abgesehen davon hatte der ganze Aufwand die Ermittlungen keinen Deut vorangebracht. Tanguay hatte offenbar zugleich mit jedem und mit niemandem gesprochen. Das Persönlichkeitsbild Tanguays, das sich aus der Befragung dieser Gruppe ergab, entsprach jedoch dem, was der Leiter des SPVM bereits über ihn gesagt hatte: Während Maurice Tanguay sich in seinem Arbeitsumfeld eher distanziert und abweisend verhalten und persönliche Kontakte gescheut hatte, trat er privat vollkommen anders auf und war ein allseits geschätzter Gentleman. Ein Phänomen, das Victor nicht zum ersten Mal erlebte. Außerhalb der Polizeiarbeit und den düsteren Umständen einer Ermittlung kamen manche eben besser mit dem Leben zurecht als andere.

Noch in Dienstuniform hatte Tanguay das Dinner am Freitagabend kurz nach 21 Uhr allein verlassen. Danach hatte ihn niemand mehr gesehen. Ausgehend von diesen Aussagen hatte das Team eine Liste der möglichen Verdächtigen erstellt und deren Vergangenheit durchforstet. Niemand aus dieser Gruppe hatte sich etwas zuschulden kommen lassen oder wirkte verdächtig, weder die Gäste noch das Personal.

Victor fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er spürte deutlich, dass er sich an irgendeiner Einzelheit störte, bekam sie aber einfach nicht zu fassen.

»Trotzdem komisch, wie er sich nach dem Essen einfach in Luft aufgelöst haben soll, ohne dass jemand irgendwas bemerkt hätte.«

Tanguay wohnte allein, und niemandem schien aufgefallen zu sein, dass er das ganze Wochenende über nicht zu Hause war. Seine Handydaten verzeichneten in diesem Zeitraum tatsächlich weder eingehende noch abgehende Anrufe. Jacinthe lachte auf. Es klang sarkastisch und desillusioniert.

»Das ist das sogenannte globale Dorf, mein Lieber. Alle sind vernetzt, aber wir wechseln kein Wort mehr miteinander. Wir leben in einer wunderbaren Welt!«

Unterstützt von der Spurensicherung hatten die Ermittler Tanguays Wohnung durchkämmt und nicht den geringsten Hinweis auf Spuren eines Kampfes, Diebstahls oder Einbruchs gefunden. Und auch das versprühte Luminol förderte nicht einen einzigen Blutspritzer zutage. Der Rechner zeigte lediglich Tanguays ausgeprägte Neigung zu pornographischen Webseiten, weiter nichts. Eine Vorliebe, die niemanden bei einem allein lebenden Junggesellen verwunderte. Einige Daten waren offenbar gelöscht worden, und die IT-Abteilung beschäftigte sich damit, sie wiederherzustellen. Das musste nicht zwangsläufig etwas bedeuten: Welcher Privatmann räumte schließlich nicht hin und wieder seinen Computer auf?

Die Überprüfung der Bankkonten bestätigte, dass Tanguay zwischen seinem Aufbruch vom Benefizessen und seinem vermutlichen Todeszeitpunkt weder Geld abgehoben noch etwas mit seiner Kreditkarte bezahlt hatte. Was also war in diesem Zeitabschnitt geschehen? Hatte er zufällig einen Bekannten getroffen? War er gefangen gehalten worden, bevor er getötet wurde? Hatte man ihn gefoltert?

Victor griff nach dem Pappbecher auf dem Tisch. Während er einen Schluck des inzwischen kalt gewordenen Kaffees trank, fiel sein Blick auf eine schon einige Tage alte Zeitung, die quer über dem Arbeitstisch ausgebreitet lag. Der Titel des Leitartikels war nicht gerade zimperlich: »Grausiger Fund: Kopf eines hochrangigen Polizeibeamten im Müll entdeckt.«

»Hast du in der Spurensicherung noch mal wegen der Fingerabdrücke nachgehakt?«

Die Abdrücke auf der Sprühdose, die man in der Nähe des Containers gefunden hatte, stimmten mit den Fingerabdrücken, die Victor auf dem Pflanzkübel entdeckt hatte, so weit überein, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach von ein und derselben Person stammten. Ähnliche Abdrücke fanden sich außerdem auch auf dem Container.

»Klar, Schätzchen. Gestern Abend noch erledigt, kurz vor meinem Abflug hier. Bisher konnten sie noch nicht zugeordnet werden. Und jetzt behaupte bloß nicht, ich hätte nichts gesagt: Unser Sprayer ist nicht aktenkundig.«

Leider hatte Jacinthe absolut recht: Die Fingerabdrücke waren nutzlos, wenn der Verdächtige nicht bereits wegen eines anderen Deliktes polizeilich erfasst worden war. Da es die Spraydosenmarke, die er benutzt hatte, in jedem Bau- oder Supermarkt zu kaufen gab, hatten sie diese Spur nicht zu einem bestimmten Geschäft zurückverfolgen können.

»Ach so, und dann hat da noch der kleine Simon angerufen. Er hat mir richtig leidgetan.«

Victor blickte zu Boden. Insgeheim hatte er zwar so etwas erwartet, aber die Nachricht setzte ihm trotzdem zu.

Nachdem man den Kopf des Commandant Tanguay entdeckt hatte, suchten die beiden Ermittler am nächsten Tag seinen Sohn auf. Der Fünfundzwanzigjährige wohnte in einer eigenen, behindertengerechten Wohnung, unweit des Kanals Lachine. Seit einem Motorradunfall vor einigen Jahren waren seine Beine gelähmt. Er träumte von einem eigenen Segelschiff, das er allein bedienen und mit dem er selbstständig segeln konnte, und Victor zweifelte keinen Augenblick lang daran, dass er seinen Traum auch verwirklichen würde. Simon Tanguay machte großen Eindruck auf ihn: Trotz seiner Trauer bewahrte er Würde und hatte den Sergent-Détective mit einem offenen, ebenso intelligenten wie lebhaften Blick angesehen. Sehr beherrscht in seinem Kummer, sprach er mit resignierter und eintöniger Stimme.

Die großen Augen des jungen Mannes hatten sich im Lauf der Unterhaltung, als einige der hässlichen Details ans Licht kamen, allmählich vor Entsetzen geweitet. Seitdem sie ihn besucht hatten, rief Simon regelmäßig an: Jedes Mal schwieg er einen Augenblick lang und legte dann wieder auf.

Jacinthe räusperte sich, um Victor aus seinen melancholischen Gedanken aufzuscheuchen. Sie blickte ostentativ auf ihre Armbanduhr und erklärte betont beiläufig:

»Wann wolltest du dich noch mal mit Yves Gagné treffen?«

Gagné arbeitete als Informant. Er versorgte den Sergent-Détective gelegentlich mit Nachrichten und hatte ein Treffen vorgeschlagen.

»Heute Mittag.«

»Bist du sicher, dass du allein hingehen willst?«

Obwohl er wusste, dass Jacinthes Vorschlag gut gemeint war, empfand Victor ihre Frage wie eine Ohrfeige.

»Ich versteh ja, dass du dir Sorgen machst, aber das ist echt überflüssig.«

»Ich hab volles Vertrauen zu dir, daran liegt’s bestimmt nicht. Aber manchmal ist es eben besser, wenn man sich seinen bösen Geistern nicht allein stellt.«

»Es gibt keine bösen Geister mehr, Jacinthe. Ich habe seit acht Jahren keinen Tropfen Alkohol getrunken. Du kannst also ganz ruhig sein.«

Um 11 Uhr 30 betrat Victor eine Zweigstelle der Société des alcools du Québec, kurz SAQ, am Place de Versailles. Seit mehreren Jahren hatte er keinen Fuß mehr in eine der Geschäftsfilialen gesetzt. Etwas verloren irrte er zwischen den Regalen umher, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Er musterte die Auswahl an Whiskey-Sorten, entschied sich schließlich für einen zehn Jahre alten Bushmills Single Malt und steuerte zur Kasse hinüber. Kurz darauf, im nächsten Gang zwischen den Verkaufsregalen, wurde ihm unversehens klar, welche Einzelheit es war, die ihn vorhin im Besprechungsraum so stutzig gemacht hatte, ohne dass er sie genauer hätte bestimmen können: Es war wirklich sonderbar, dass ein Mann wie Tanguay ein ganzes Wochenende lang keinen Anruf erhielt. Diese Überlegung führte ihn zu der Frage, ob Tanguay möglicherweise ein zweites Prepaid-Handy besaß, und falls dem so war, warum. Der Angestellte an der Kasse tippte auf ein paar Tasten. Ganz in Gedanken verloren zog Victor automatisch seine Kreditkarte durch das Lesegerät. Und als er seinen vierstelligen Geheimcode eingab, ließ ein Sonnenstrahl, der durch die Whiskeyflasche auf der Theke fiel, die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas golden aufschimmern. Victor schluckte. Das Bild warf ihn auf sich selbst zurück, in den Grenzbereich früherer Leiden, war wie die Rückkehr in eine längst verdrängte Schattenwelt. Die Versuchung starb zuletzt. Er würde sich niemals damit abfinden können, dass er nicht mehr trinken durfte.

Durch die Tore des Todes

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