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9. Zitronenviertel

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Victor saugte gierig inhalierend an seiner Zigarette. Vor ihm rauschte der Verkehr auf dem Boulevard Saint-Laurent vorbei, kurze Lichtreflexe ließen die fahrenden Autos aufblitzen und erstrahlen. Die hübschen Mädchen, die durch sein Blickfeld liefen, bemerkte er überhaupt nicht. Obwohl er versuchte, an nichts zu denken, brach das Bild eines jungen Mannes im Rollstuhl immer wieder in seine Gedanken ein.

Wie alle Eltern hatte Victor es für selbstverständlich gehalten, dass seine Kinder gesund waren und bisher hatte ihm das Leben dieses besondere Privileg auch gewährt. Nichtsdestoweniger war ihm inzwischen bewusst, dass keineswegs alle so viel Glück hatten, denn eines der Kinder seiner Schwester Valérie – die biologische Tochter seiner Adoptiveltern – war an Leukämie erkrankt.

Sich um ein krankes Kind zu kümmern oder um eines, das eine Behinderung hatte, verdiente allen Respekt. Insbesondere wenn es sich dabei um ein alleinerziehendes Elternteil handelte.

Er trat die Kippe aus und ging zum Streifenwagen hinüber, in dem Jacinthe auf ihn wartete. Dabei überlegte er, welche Gesichtspunkte sie berücksichtigen mussten und zog, aus Angst, eines dieser Elemente zu vergessen, das Notizheft aus der Tasche und kritzelte etwas hinein.

Vor diesem Treffen mit Maurice Tanguays Sohn fürchtete er sich ein wenig. Aber er musste sich der Sache stellen und wusste, dass er ihr gewachsen war. Solchen Situationen war er immer gewachsen, selbst wenn das seinen Preis hatte und ihm die Begegnungen lange nachgingen.

Geschlossene Scheiben und brummender Motor. Victor hatte volles Verständnis dafür, dass seine Partnerin, die Hitze nur schlecht ertrug, die Klimaanlage im parkenden Auto laufen ließ. Sie saß am Steuer, eine Hand ans Ohr gelegt und knurrte irgendwas in ihr Handy. Obwohl er nicht genau verstehen konnte, was sie sagte, schätzte er, Lautstärke und Tonlage ihrer Stimme nach zu urteilen, dass sie ihre miese Laune gerade an ihrem Gesprächspartner ausließ.

Im kühlen Wagen tauschten Jacinthe und Victor anschließend ihren jeweiligen Eindruck über den Fall aus und versuchten, die nächsten Schritte zu planen.

Sie hielt ihm einen Plastikbeutel hin.

»Willst du was davon?«

Vom Beifahrersitz aus nahm er sich ein Stückchen Sellerie.

»Danke.«

Sie kauten einen Augenblick lang in einträchtigem Schweigen. Außer Sellerie enthielt der Beutel Karotten, Radieschen und geviertelte Zitronenschnitze. Seit Jacinthe auf Diät war, hatte sich der kleine Nachmittagssnack zu einem geheiligten Ritual entwickelt. Sie bestätigte jedem, der es hören wollte, wie wirkungsvoll Gemüse ihre Fressanfälle bekämpfte, aber Victor hatte festgestellt, dass ihre Laune nach diesen Snacks grundsätzlich noch mieser wurde.

Er schluckte den Sellerie herunter, der ihm beinahe in die falsche Kehle geriet und deutete auf den Plastikbeutel.

»Was ich dich schon lange mal fragen wollte: Was genau sollen eigentlich diese Zitronenschnitze? Bleibt das Gemüse dadurch länger frisch?«

»Die Zitrone? Na, ist doch klar! Die entgiften den Organismus. Versuch mal.«

Er hob abwehrend die Hände.

»Nein, besten Dank.«

»Echt nicht? Zitronen sind super. Ellen sagt ständig, dass sie Wunder vollbringen.«

»Und wer bitte ist Ellen?«

Leicht angesäuert über so viel Ignoranz seufzte Jacinthe auf.

»Na, wer wohl? Ellen DeGeneres natürlich, Mann!«

»Diese Fernsehmoderatorin?«

»Ellen DeGeneres gibt’s ja wohl kaum dutzendweise, oder?«

Jacinthe nahm ein Zitronenviertel und biss kraftvoll hinein. Ihre sämtlichen Gesichtsmuskeln verzogen sich zu einer bemerkenswerten Grimasse. Nachdenklich kratzte sich Victor am Kopf.

»Ich glaube, es soll die Leber entgiften, wenn man Zitrone in warmem Wasser trinkt, hm?«

Jacinthe winkte ab.

»Äh, wie ekelhaft, warmes Wasser! Aber wenn Zitrone schon verdünnt so gut funktioniert, stell dir die Wirkung erst mal unverdünnt vor! Das hättest du jetzt nicht gedacht, stimmt’s?«

Sie biss wieder in die Zitrone und verzog prompt das Gesicht. Der zwingenden Logik seiner Partnerin hatte Victor nichts entgegenzusetzen. Einen Moment lang saßen sie schweigend nebeneinander, dann nahm er sein Notizbuch, in das er ein paar Beobachtungen gekritzelt hatte.

»Wegen der Videoaufnahmen fragen wir am besten Murray und seine Truppe, ob sie uns ein paar Kopien ziehen können und dann lassen wir das Graffiti noch mal in der Sprayer-Szene rumgehen. Und vielleicht entdecken wir ja noch ein paar mehr. Unser Sprayer hat kein Tag hinterlassen, aber mit etwas Glück erkennt ihn jemand an seinem Graffiti oder seiner persönlichen Handschrift.«

Jacinthe machte einer Karotte mit drei Bissen den Garaus und erwiderte kauend:

»Das ist eine kleine Gemeinschaft, die kennen sich garantiert untereinander.«

Victor nickte zustimmend.

»Früher haben Banden mit Graffiti ihr Terrain markiert, aber das ist wohl vorbei. Jetzt verstehen sich Sprayer eher als urbane Künstler, die bei Projekten zusammenarbeiten.«

Jacinthe stopfte sich zwei Stangen Sellerie in den Mund und zog sie sofort wieder heraus.

»Da fällt mir gerade ein: Dieses Pärchen, das den Kopf im Container gefunden hat … du weißt schon, deine süße Miranda und ihr Typ … man müsste rauskriegen, ob die beiden auch Sprayer sind.«

Victor schüttelte den Kopf.

»Meiner Ansicht nach ist das Zeitverschwendung. Die waren beide viel kleiner als der Typ auf dem Video.«

Jacinthe lief rot an.

»Ich rufe sie trotzdem mal an. Ohne Maßband wissen wir ja gar nicht genau, ob der Sprayer wirklich so groß ist. Und zweitens hab ich ein komisches Gefühl bei diesen zwei bescheuerten Granola-Keksen vom Plateau.«

Victor ächzte leise und sparte sich die Antwort auf Jacinthes Gehetze.

»Ganz wie du willst … Übernimm du das. Außerdem sollten wir überprüfen, ob ein BIXI-Rad ausgeliehen wurde, sagen wir mal zwischen 2 Uhr 30 und 4 Uhr morgens. Und ob wir, falls das so ist, die Spur dann zu einem Benutzer des Dienstes zurückführen können.«

Jacinthe hörte auf zu kauen.

»Hab ich schon gecheckt. Ich warte auf die Ergebnisse. Und was noch?«

»Wir müssen uns die Videos von den Kameras ansehen, die Loïc besorgt hat, vielleicht sind Aufnahmen des Verdächtigen drauf.«

»Ohne mich, das ist die reinste Sklavenarbeit.«

»Ich wollte Murray und sein Team bitten, sich darum zu kümmern.«

»Eine sehr gute Idee.«

Jacinthe war in einen Zweikampf mit dem Plastikbeutel verstrickt, aus dem sie vergeblich die Luft herauszudrücken versuchte.

»Glaubst du eigentlich noch an Wunder?«

Victor nahm die DVD-Hülle, die er beim Einsteigen im Handschuhfach verstaut hatte, und drehte sie nachdenklich hin und her. Auf der DVD befanden sich die Aufnahmen, die der Juwelier für sie kopiert hatte.

»Ich frage mich, was das Graffiti bedeuten soll. Warum hält das Skelett in einer Hand eine Nikolausmütze und in der anderen ein Messer? Und wem droht er damit?«

Jacinthe hatte mittlerweile die Geduld mit dem widerspenstigen Plastikbeutel verloren und stopfte ihn zwischen ihren Sitz und die Handbremse.

»Nur keine voreiligen Schlüsse, mein Lieber. Warten wir erst mal ab, ob überhaupt ein Zusammenhang mit dem Mord besteht, ehe wir uns ins Hemd machen.«

Victor sinnierte schweigend und schüttelte sich dann.

»Wir müssen mit Berger sprechen und herausfinden, ob er Todeszeitpunkt und Todesursache inzwischen genau bestimmt hat. Und außerdem brauchen wir Tanguays Telefonaufzeichnungen und müssen verfolgen, wo und mit wem er zusammen war. Wo hat er die Nacht verbracht, wer hat ihn zum letzten Mal gesehen und so weiter.«

»Und wir müssen seinen Sohn befragen«, ergänzte Jacinthe. »Ich fasse es einfach nicht, dass ich nichts von seinem behinderten Sohn wusste.«

Der Sergent-Détective wandte den Kopf ab, und sein Blick verlor sich in der Straße. Er bedauerte, Maurice Tanguay so falsch beurteilt zu haben und empfand deswegen leise Schuldgefühle.

In der Hoffnung auf zusätzliche Informationen kehrten sie an den Tatort zurück. Jacinthe diskutierte mit einem Kollegen der Spurensicherung, Victor lief auf der Straße auf und ab und dachte nach. Vor der Sicherheitsabsperrung ging eine junge Frau entlang und schob einen Kinderwagen. Als er sie sah, sorglos durch den hellen Tag spazierend, musste er unweigerlich an das Leben denken, das er führte, abseits der Gesellschaft, auf der Jagd nach Schatten.

Victor schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. Dieser Sprayer ging ihm nicht aus dem Kopf. Falls es sich dabei wirklich um den Mörder handeln sollte, war er offenbar ziemlich abgebrüht. Wer war schon so dreist, sich mit einem Karton unterm Arm, worin sich der Kopf eines Polizisten befand, tagsüber munter auf den Straßen einer geschäftigen Großstadt herumzutreiben? Und so tollkühn, sich in der Nähe des Ortes, wo er den Kopf deponiert hatte, auch noch seelenruhig die Zeit für ein Graffiti zu nehmen?

Mörder, denen es gelang, unentdeckt zu bleiben, vermieden es im Allgemeinen, auf sich aufmerksam zu machen und verhielten sich möglichst unauffällig. Sollte der Sprayer tatsächlich der Gesuchte sein, sprach vieles dafür, dass er entweder den ultimativen Nervenkitzel suchte oder total leichtsinnig war.

Hinter ihm erklang plötzlich eine bekannte sanfte Stimme.

»Wie geht’s, Victor Lessard?«

Er drehte sich langsam um. Langes dunkles Haar, das bis auf die zarten Schultern fiel, eine weiße Bluse und enge Shorts. Virginie Tousignant kam langsam auf ihn zu. Victor schluckte, während die Augen der jungen Frau seinen Blick suchten und er sich darauf konzentrierte, ihre vollen Lippen, die ihn völlig durcheinanderbrachten, aus seinem Blickfeld auszublenden.

Ein Streifenpolizist, der eigentlich den Tatort abschirmen sollte, musste offenbar ebenfalls ihrem Charme erlegen sein. Victor lächelte, hob die Hand und erklärte in geschäftsmäßigem Ton:

»Sie befinden sich an einem Tatort, Mademoiselle Tousignant. Die Presse hat hier keinen Zutritt.«

Virginie arbeitete als Journalistin für die Zeitung La Presse. Sie hatten sich im vorigen Jahr im Rahmen einer Ermittlung kennengelernt, in die auch der Vater der jungen Frau verwickelt war. Obwohl sie nie eine Affäre gehabt hatten, konnten sie das Knistern, das zwischen ihnen immer wieder aufflackerte, einfach nicht unterdrücken.

Sie trat auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange.

»Ich war zufällig in der Nähe und dachte, ich sag mal kurz Hallo.«

Victor lachte, um sein Unbehagen zu überspielen.

»Nur mal Hallo sagen? Tatsächlich?«

Sie zwinkerte ihm zu.

»Kannst du mir was zu der Sache sagen?«

»Ich? Nein, überhaupt nichts. In diesem Fall ist Commandant Rozon für die Kommunikation mit der Presse zuständig. Da müsstest du dich an ihn wenden.«

Sie lächelte und zeigte ihre makellosen Zähne.

»Und wie geht’s Woodrow Wilson?«, erkundigte er sich.

Dass der Hund der Journalistin nach dem früheren amerikanischen Präsidenten benannt war, hatte den Polizisten nachhaltig beeindruckt.

»Gut, nehme ich an. Ehrlich gesagt habe ich ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Eigentlich nicht mehr, seit ich mich von Jean-Bernard getrennt habe. Ist irgendwie nicht mein Ding, sich abwechselnd mit jemandem um einen Hund zu kümmern.«

Victor machte ein finsteres Gesicht.

»Oh. Tut mir leid. Wegen Jean-Bernard.«

»Ach wo. Früher oder später musste es ja so kommen. Und du? Wieder Single?«

Seine Antwort kam ihm selbst etwas überstürzt vor.

»Nein, ich ziehe bald mit meiner Freundin zusammen.«

Eine kurze, leicht peinliche Stille trat ein.

»Freut mich für dich«, sagte die Journalistin schließlich. »Wusstest du, dass ich im vergangenen Jahr einen Artikel über Commandant Tanguay für die Organisation Accueil Ici, Maintenant geschrieben habe? Ein faszinierender und charmanter Mann.«

»Was hast du denn so Faszinierendes erfahren?«

»Vieles. Zum Beispiel war er wahnsinnig verliebt in seine Frau, sie hatten aber Schwierigkeiten, Kinder zu bekommen. Ihr Sohn ist erst sehr spät geboren, und einige Jahre nach dem Tod seiner Mutter wurde er durch einen Unfall querschnittsgelähmt. Der Commandant hat ein Jahr lang nicht gearbeitet, um seiner Frau im Kampf gegen die Krankheit beizustehen. Ich könnte noch ewig weitererzählen … Als er mir seine Geschichte erzählte, war ich den Tränen nahe. Es lässt einen einfach nicht kalt, wenn man hört, wie jemand sich trotz allem bemüht, zuversichtlich zu bleiben, obwohl er und seine Familie wirklich viel Pech hatten. Immerhin ist er seit dem Jahr 2000 sehr aktiv in seiner Organisation. Man wird ihn aufrichtig vermissen.«

Wieder überkamen Victor Schuldgefühle, weil er Tanguay nur beruflich wahrgenommen hatte, ohne den Menschen dahinter zu sehen. Vielleicht, überlegte er, erklärten die privaten tragischen Umstände des Commandant auch zum Teil die schwierige Arbeitsbeziehung zwischen ihnen.

»Ja, mittlerweile habe ich auch davon gehört.«

Virginie musterte ihn und lächelte dann verschmitzt.

»Na gut, dann mach ich mich mal wieder aus dem Staub.«

Zögernd pustete sie sich eine Strähne aus der Stirn.

»Sag mal, Victor Lessard … Ist dir eigentlich klar, wie schnell ich bei dir schwach werden könnte?«

Damit drehte sie sich um und stiefelte davon, ohne ihm Zeit für eine Antwort zu lassen. Jacinthe, die das Zwiegespräch von weitem beobachtet hatte, gesellte sich grinsend zu ihm.

»Na? Kleiner Pausenflirt, mein Lieber?«

Er blickte seine Partnerin böse an und erwiderte knapp:

»Von was redest du eigentlich?«

Niemand konnte Jacinthe das Wasser reichen, wenn es darum ging, ihn mit irgendwelchen Andeutungen in Verlegenheit zu bringen. Er liebte Nadja und wollte sich auf keinen Fall in schwierige Situationen hineinmanövrieren.

Sein Handy klingelte. Nach einem Blick auf das Display sagte er:

»Jacob Berger.«

Da es zu riskant war, auf offener Straße den Lautsprecher des Handys einzuschalten, beugte sich seine Partnerin vor, um mitzuhören.

»Hallo, Jacob. Was gibt’s Neues?«

»Ich hab da was gefunden, was dich interessieren dürfte.«

»Wo? In dem Karton?«

»Nein. Im Mund von Maurice Tanguay.«

Victor und Jacinthe tauschten einen überraschten Blick. Dann ließ Berger die Bombe platzen:

»Der Mörder hat einen kleinen Plastikbeutel auf die Zunge des Toten gelegt. In dem Beutel befand sich ein zusammengefaltetes Stück Papier mit einer am Computer geschriebenen Nachricht.«

»Und was steht drin?«

Victor hörte Papier knistern.

»Commandant Tanguay wurde verurteilt und am 13. Juli um 3 Uhr 25 hingerichtet.«

»Das ist alles?«

»Nein, es gibt noch was.«

»Und was?«

»Ein zweiter Satz: Tanguay war der Erste …«

Victor hörte, wie Berger einen Augenblick innehielt.

»Und?«

Berger räusperte sich:

»… und der Weihnachtsmann wird der Letzte sein.«

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