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Erster Tag

(Montag, 15. Juli)

2. Weiße Farbfächer

Schon an der Eingangstür des Hobbymarktes schlug Victor ein Schwall eiskalter Luft der Klimaanlage entgegen. Er trat ein und begrüßte den Angestellten. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht und den blutunterlaufenen Augen erkannte ihn sofort und erwiderte das Lächeln. Das war ein Vorteil der kleinen Läden des Viertels: Die Auswahl war zwar begrenzt, aber man wurde persönlich bedient. Die beiden Männer hatten sich vor rund zwei Monaten kennengelernt und gemeinsam eine Zigarette auf dem Bürgersteig vor der Auslage geraucht. Der Polizist lief den Gang entlang und blieb vor dem Verkaufsständer mit den Farbfächern stehen.

Während er sie durchblätterte, trat der Angestellte zu ihm und eröffnete das Gespräch mit seinem Lieblingsthema.

»Bei der Luftfeuchtigkeit wird es heute Nachmittag bestimmt 40 Grad heiß.«

Montréal erlebte gerade eine der schlimmsten Hitzewellen der letzten Jahrzehnte. Ohne sich umzudrehen erwiderte Victor:

»Anscheinend soll es die ganze Woche über so bleiben.«

Der Mann lachte auf.

»Im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt … es gibt immer was zu meckern, stimmt’s? Und Sie wollen renovieren?«

»Wir haben uns in Terrebonne eine Maisonette-Wohnung gekauft. Ein neuer Anstrich könnte nicht schaden.«

»Suchen Sie eine bestimmte Farbe?«

Victor lächelte verschmitzt und zwinkerte dem Angestellten zu.

»Das dürfte nicht allzu schwierig werden. Wir streichen nämlich alles weiß.«

»Theoretisch klingt das einfach, aber in der Praxis hängt es ganz davon ab …«

Der Sergeant-Détective runzelte die Stirn.

»Wovon hängt es ab?«

Der Angestellte pustete sich eine Strähne aus der Stirn.

»Na ja, es gibt sehr viele verschiedene Weißtöne.«

Victor tippte auf das erste beste weiße Farbmuster und las die Artikelbezeichnung:

»Polar Bear 1875. Genau das Richtige.«

»In Ordnung. Und wie viel brauchen Sie?«

In Victors Augen trat ein Ausdruck leiser Verzweiflung.

»Wie viel benötige ich denn, Ihrer Meinung nach?«

»Für welches Zimmer?«

»Na, für alle Zimmer.«

Der Angestellte schmunzelte nachsichtig.

»Also, erst mal muss ich natürlich wissen, wie viel Quadratmeter das sind.«

Der Polizist machte ein finsteres Gesicht.

»Ein ganz normales Apartment eben. Drei Zimmer, Arbeitsraum und so.«

»Und wie soll ich den Farbverbrauch berechnen, wenn ich nicht weiß, wie viel Wandfläche gestrichen werden soll?«

Darauf wusste Victor auch keine Antwort. Der andere fuhr fort:

»Streichen Sie auch die Decken?«

Der Sergeant-Détective nickte.

»Dann brauchen Sie auch Deckenfarbe, nicht wahr?«

Victor fischte das Handy aus der Tasche und las die Textnachricht, die gerade eingetroffen war. Dann tippte er: »In 30 min da.«

»Ich muss los, aber ich werde einfach meine Freundin bitten, Ihnen die genauen Abmessungen telefonisch durchzugeben. Und Sie machen dann alles genau so, als würden Sie Ihre eigene Wohnung streichen, einverstanden?«

Was für Victor der reinste Hindernis-Parcours war, würde Nadja im Handumdrehen regeln. Er fragte sich ohnehin, aus welchem Grund sie ausgerechnet ihn gebeten hatte, die Farbe zu kaufen. Woher der plötzliche Vertrauensbeweis? Bei handwerklichen Tätigkeiten war ihm seine Liebste nämlich haushoch überlegen. Noch dazu besaß sie drei Werkzeugkästen, während er selbst bloß einen Hammer, ein Maßband, das nicht mehr von selbst aufrollte, und ein paar altersschwache Schraubenzieher sein Eigen nannte. Es war keine Überraschung, dass sie bereits die Renovierung der Küche übernommen hatte und die nötigen Handwerker organisierte.

Der Angestellte kratzte sich am Kopf.

»Ähh … okay.«

»Ich komme dann heute Abend nach der Arbeit vorbei und hole alles ab.«

»Brauchen Sie noch Pinsel oder Farbroller?«

Victor war bereits an der Ladentür. Er blieb stehen und warf einen Blick über die Schulter.

»Eine Grundausrüstung wäre prima. Wir sind ja keine Profis.«

Ohne die Antwort abzuwarten, trat er hinaus in die glühende Sonne. Die Hitze stand kompakt vor ihm wie eine Wand.

Victor ging über den Parkplatz am Place Versailles, Standort des Dezernats für Kapitalverbrechen und von den Polizisten kurz als »Versailles« bezeichnet. Nur das geübte Auge hätte sein leichtes Humpeln erkannt – die Folge eines Unfalls bei einer früheren Ermittlung. Die frisch angezündete Zigarette zwischen seinen Lippen zitterte. Kurz vor der gläsernen Eingangstür nahm er einen letzten Zug und trat sie mit den abgenutzten Profilsohlen seiner blauen Sportschuhe aus. Im Gehen zog er ein Fläschchen Purell aus der Tasche, gab ein wenig Gel in seine Hand und rieb sich Hände und Wangen damit ein. Der desinfizierende, leicht alkoholische Geruch stieg ihm in die Nase und prickelte auf seiner Haut.

Victor durchquerte die Ladenpassage des Einkaufszentrums und blieb nur stehen, um sich einen koffeinfreien Kaffee zu gönnen und Kaugummi zu kaufen. Im leeren Aufzug riss er das Päckchen auf und schob sich zwei Kaugummistreifen in den Mund. Der Spiegel warf sein athletisches, einen Meter neunzig großes Abbild zurück: stoppelkurze Haare, grüne Augen, Dreitagebart, energisches Kinn. Die Adern an seinen muskulösen Oberarmen zeichneten sich deutlich ab, und er trug ein dunkelblaues Poloshirt und Jeans.

Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch stopfte er sich vier weitere Kaugummis in den Mund, und sobald er aufhörte zu kauen, beulte sich seine Wange unnatürlich aus. Unterwegs kam er an dem noch leeren Arbeitsplatz von Gilles Lemaire vorbei. Auf dem Schreibtisch stand ein wackelig aussehender Turm aus Kaffeepappbechern. Lemaire, von seinen Kollegen nur »der Gnom« genannt, hielt geradezu manisch auf Ordnung und Sauberkeit und würde bei seiner Rückkehr aus den Ferien wahrscheinlich außer sich vor Entsetzen sein, wenn er das »Kunstwerk« seiner Kollegen vorfand.

Victor drehte eine Runde durch das Großraumbüro und sah auf seine Uhr. Loïc Blouin-Dubois und Jacinthe Taillon glänzten durch Abwesenheit. Überhaupt fand er es seltsam, dass noch niemand hier war. Dabei hatte ihm seine Partnerin doch vor dreißig Minuten geschrieben, sie warte auf ihn, um mit ihm gemeinsam den Abschlussbericht der letzten Ermittlung durchzugehen.

Vor einigen Wochen hatte eine Fünfunddreißigjährige namens Patricia Chávez ihren Mann mit einer Blankwaffe getötet.

Am Tatort hatten Jacinthe und Victor mit den Technikern der Spurensicherung vermutet, dass rund fünfzigmal auf das Opfer eingestochen worden sein musste, aber die Laboranalyse hatte gezeigt, dass die Anzahl der Verletzungen noch weit höher lag; Jacob Berger, der Gerichtsmediziner, hatte am Ende zweifelsfrei hundertachtzehn »mit einem Küchenmesser ausgeübte« Stichverletzungen festgestellt, und zwar hauptsächlich am Hals des Opfers.

Obwohl der Sergent-Détective Patricia Chávez alle Möglichkeiten offengelassen hatte, ihre Tat zu erklären, hatte sie die Fakten zwar nicht bestritten, jede weitere Aussage jedoch verweigert und unentwegt wiederholt, er könne ihre Motive ohnehin nicht verstehen. Kurz vor Ende der Vernehmung hatte sich Victor vorgebeugt und etwas ins Ohr der Tatverdächtigen geflüstert. Sie hatte daraufhin genickt. Und obwohl Jacinthe ihn anschließend mit Fragen nur so löcherte, verriet er ihr nicht, was er damals zu Chávez gesagt hatte.

»Das betrifft nur sie und mich«, hatte er geantwortet, und mehr war nicht aus ihm herauszukriegen.

Aufgrund der Zeugenaussagen von Familie und Nachbarn hatten die beiden Beamten ermittelt, dass es zwischen dem Ehepaar regelmäßig zu Streitigkeiten gekommen war. Keine der Aussagen hatte allerdings auch nur ansatzweise darauf hingedeutet, dass dabei körperliche Gewalt im Spiel gewesen war.

Das Ehepaar hatte einen sechsjährigen Sohn, der schlief, während sein Vater getötet worden war. Am Abend nach dem Mord hatte Victor den Jungen zum ersten Mal getroffen und war ihm während der darauffolgenden Ermittlung mehrmals begegnet. Victor, der einzige Überlebende einer Familientragödie, bei der sein Vater, seine Mutter und seine beiden Brüder getötet hatte, bevor er sich selbst das Leben nahm, hatte sofort großes Mitgefühl mit dem Kleinen empfunden. Er wusste nur zu genau, dass der Junge, während er heranwuchs, nicht nur mit dem Verlust des Vaters zurechtkommen musste, sondern auch in dem Wissen, dass ein Elternteil ein Monster war.

Der Junge wurde zuerst im Krankenhaus beobachtet und anschließend der Obhut des Jugendamtes übergeben. Im besten Fall würde er nach einer Beobachtungsphase und dem abschließenden Gutachten des Jugendamtes bei einem Mitglied der Familie leben. Für Victor hatte es diese Möglichkeit damals nicht gegeben.

Der Polizist steuerte auf den Besprechungsraum zu. Die Tür war geschlossen, aber vielleicht wartete Jacinthe ja hier auf ihn. Er öffnete die Tür, doch es brannte kein Licht. Er knipste es an, um festzustellen, ob seine Kollegin das Dossier von Chávez vielleicht für ihn auf den Tisch gelegt hatte. Licht erstrahlte, gleichzeitig brandeten Hochrufe auf, und mit einem Mal geriet sein Herzschlag völlig aus dem Takt.

Durch die Tore des Todes

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