Читать книгу Durch die Tore des Todes - Martin Michaud - Страница 7
ОглавлениеDas Unbehagen in der Kultur
Die Schicksalsfrage der Menschheit scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. (…) Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.
Sigmund Freud
49. Das schwarze Zimmer
»Nein! Ich will es aus Ihrem eigenen Mund hören!«
»Die Angst ist das reinste und aufrichtigste Gefühl. Sie lässt sich mit nichts anderem vergleichen. Im Leid und im Schmerz zeigen sich die edelsten Eigenschaften des Menschen. Sind Sie jetzt zufrieden? Möchten Sie noch mehr darüber hören?«
»Nein, nicht nötig.«
»Wie Sie wollen. Sie entscheiden selbst, wann Sie ein neues Kapitel aufschlagen.«
»Und das heißt?«
»Das heißt gar nichts.«
»Halten Sie sich vielleicht für etwas Besseres? Warum sind Sie Lehrer geworden?«
»Und warum sind Sie ein Versager?«
»Man sagt Ihnen nach, Sie hätten im Unterricht Alkohol getrunken, den Sie in Milchpackungen umgefüllt haben. Ganz schön jämmerlich, finden Sie nicht?«
»Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Und sobald etwas ihr Verständnis übersteigt, greifen sie gern auf Hilfskonstruktionen zurück. Aber bleiben wir beim Thema. Ich gestehe offen, dass die Symbolik, die Sie eingesetzt haben, mich beeindruckt hat. Eine gelungene Verschleierungstaktik.«
»Der Vorschlag, ihnen einen Orientierungspunkt anzubieten, etwas Absehbares, stammt von Ihnen. Sie sagten, ich solle ihnen das geben, was sie erwarten und eine Art Mechanismus bedienen …«
»Jedenfalls haben Sie es geschafft, dass sie Ihnen aus der Hand fressen. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Sind Sie der Ansicht, manche Menschen hätten den Tod verdient?«
»Ich versuche, nicht darüber nachzudenken.«
»Na los … Sie halten es doch für gerechtfertigt, sobald ein triftiger Grund vorliegt?«
»Ja, das denke ich.«
»Sind Sie der Meinung, dass der Wunsch, etwas Gutes zu bewirken, eine solche Rechtfertigung wäre? Und dass jemand, der etwas Abscheuliches im Dienst der guten Sache oder höherer Interessen wegen begeht, kein Monster ist?«
»Ich weiß, wer ich bin. Hören Sie …«
»Nein, jetzt hören Sie mir zu! Glauben Sie wirklich, Sie würden sich von den anderen unterscheiden? Halten Sie sich allen Ernstes für etwas Besonderes? Meinen Sie, die Kriminellen in Handschellen, deren Fotos die Titelseiten schmücken, seien Gesindel, mit dem Sie nichts gemein haben? Falls Sie das denken, irren Sie sich. Diese Leute haben dieselbe Eingangstür benutzt wie Sie, und was sie anschließend gesehen haben, hat Sie daran gehindert umzukehren. Inzwischen wissen Sie es selbst am besten: Wer einmal im schwarzen Zimmer war, für den gibt es keinen Weg zurück. Wenn Sie das nächste Mal eine Zeitung aufschlagen, sehen Sie sich die Fotos genau an. Denken Sie tatsächlich, Sie würden dort den Teufel in Menschengestalt sehen oder die Fratze des Bösen? Aber nein, natürlich nicht! Wenn Sie die Fotos aufmerksam betrachten, werden Sie auf den Gesichtern nichts anderes sehen als Erleichterung. Die Erleichterung eines Menschen, der den Kampf gegen seine Urinstinkte aufgegeben hat.«
»So wie Sie?«
»Man erzählt sich vieles. Und verschweigt ebenso vieles. Jeder strickt an seiner eigenen Legende, aber wir sind eben allesamt notorische Lügner. Wir heben bestimmte Erinnerungen hervor, schmücken sie aus, verleihen ihnen mehr Glanz. Langweilige und unbedeutende Ereignisse verwandeln sich mit einem Mal in strahlende, unvergessliche Momente, weil die Erinnerung im Lauf der Zeit die Wirklichkeit vergrößert. Vor allem aber ist in jedem von uns jenes schwarze Zimmer, in unserem tiefsten Inneren, in den Eingeweiden unseres Bewusstseins, und dort, hinter doppelt gesicherten Türen, sperren wir sie ein: Unsere Arrangements, unsere Lügen, unsere Halbwahrheiten. Denn sie könnten uns ja daran hindern, vorwärtszukommen, oder uns dazu zwingen, so sehr wir ihnen auch auszuweichen versuchen, unserem wahren Selbst ins Auge zu sehen, in seiner ganzen umfassenden, prächtigen Scheußlichkeit und Reinheit …«