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Die Welt des Heavy-Rock war 1976 noch eher dünn besiedelt. Ein paar eklektische Dinosaurier trieben ihr Unwesen und pfiffen aus dem letzten Loch. Doch das sollte sich schon bald ändern. Ein paar brauchbare junge Bands standen vor der Tür und ebneten den Weg für die New Wave of British Heavy Metal und das darauf folgende Goldene Zeitalter des Metal, das sich über die gesamten Achtzigerjahre erstrecken sollte.

Zu diesen Bands zählten auch unsere Helden, die am 9. Oktober 1976 ihre bis dahin metallischste Platte, Virgin Killer, veröffentlichen sollten. Die Scheibe steckte in einem Cover, das ein pubertierendes, spärlich bekleidetes Mädchen, dessen Intimbereich mit Strichen unkenntlich gemacht worden waren, zeigte und zumindest in ihrem Heimatland für einen Skandal sorgte.

Auf das Album angesprochen, erschaudert Sänger Klaus Meine. „Mir war die Plattenhülle immer schon peinlich. Es war echt nichts, was man seiner Familie zu Hause zeigen wollte. Es war einfach peinlich. Dahinter steckte in erster Linie der Typ von RCA, der dort das Sagen hatte. Er wollte, dass uns diese Art von Aufmerksamkeit zuteilwurde, die man eben mit einem skandalösen, ungeheuerlichen, sexy Cover auf sich zog. Wenn ich heute darauf zurückblicke, würde ich so etwas nie machen. Nicht einmal darüber nachdenken würde ich – bei all der Kinderpornografie, die heutzutage im Internet kursiert! Da würde man so etwas gar nicht in Erwägung ziehen. Es war etwas, das damals weltweit für Aufsehen sorgte – und genau das war es, was die Plattenfirma sich wünschte. Es ist kein Cover, auf das wir stolz sind. Direkt im Anschluss daran fingen wir an, mit Firmen wie Hipgnosis zu arbeiten, die so viele tolle Cover für Bands wie Pink Floyd und Led Zeppelin fabriziert hatten. Wir machten Lovedrive und Animal Magnetism mit ihnen, großartiges Zeug. Das war auch sexuell angehaucht. Es ging dabei um sexuelle Anziehung. Also von unserem Standpunkt aus war das okay – lasst uns das tun, das ist Rock ’n’ Roll und cool. Aber Virgin Killer, das war einfach zu viel. Das ist nichts, worauf ich heute stolz bin. Es war aber trotzdem ein gutes Album.“

„Unsere Plattenfirma war damals RCA“, erinnert sich Francis auf die Frage nach dem pikanten Plattencover. „Ihr A&R-Manager sowie ihre für das Design der Covers zuständige Abteilung hatten eine Idee. Sie schlugen ein Foto eines hübschen, aber auch nackten Mädchens vor – ich glaube, sie war erst dreizehn. Sie war mit dem Typen aus der Grafikabteilung verwandt – seine Nichte oder so. Damals kannte ich niemanden, der schon mal von ‚Kinderpornografie‘ gehört hatte. Unschuldig und ohne böse Hintergedanken fanden wir die Idee großartig. Nur das gebrochene Glas verdeckte die Nacktheit des Mädchens. Obwohl die Sache total fragwürdig war, wurde das Album veröffentlicht und niemand in Deutschland störte sich daran. Allerdings rief unsere japanische Plattenfirma RVC an, und die Leute dort meinten, dass es unmöglich wäre, ein solches Album in Japan zu veröffentlichen. Sie entwarfen ein anderes Cover, auf dem eine Rose abgebildet war und das ich sehr durchschnittlich fand. Aber für Virgin Killer erhielten wir in Japan unsere erste Goldene Schallplatte. Aber gut, uns gefiel der Titel und RCA ließ sich das – nach heutigen Maßstäben – fragwürdige Albumcover einfallen.“

„Es war das geistige Produkt eines deutschen Journalisten, der bereit gewesen wäre, dafür ins Gefängnis zu gehen“, erklärte Rudolf. „Wir stießen damals in unserem eigenen Land auf keine Akzeptanz, also mussten wir in Grenzgebiete vordringen, um auf uns aufmerksam zu machen. Eine Plattenfirma wollte, dass wir Deep Purple kopierten, also nahmen wir uns vor, ein bisschen Schwung in die Sache zu bringen!“

„Vielleicht gingen wir zu weit“, betont Klaus noch einmal. „Ich bin mir sicher, dass wir es heute nicht mehr so herausbringen würden. Aber für uns war das damals eine echt große Sache. Wir waren immer der Meinung, Sex im Artwork wäre besser als Blut. Wir mussten die ganze Angelegenheit so weit wie möglich treiben. Zum Glück musste niemand ins Gefängnis!“

Bei dem nackten Mädchen auf dem Cover handelte es sich tatsächlich um eine Zehnjährige namens Jacqueline.

Rudolf hat dargelegt, dass es nur darum ging, Aufmerksamkeit auf die Band zu ziehen. Laut ihm standen auch die Lyrics des gleichnamigen Songs in keinerlei Beziehung zum Foto. Ganz abgesehen davon unterhielt sich die Band seiner Erinnerung nach Jahre später mit dem mittlerweile erwachsenen Model, das die Sache gelassen zu nehmen schien. Außerdem erklärte der für das Foto verantwortliche Fotograf Michael von Gimbut, dass neben der Mutter und der Tante des Mädchens auch noch seine eigene Ehefrau sowie drei Assistentinnen beim Shooting anwesend gewesen waren.

Wie Klaus bereits erwähnte, war die Platte selbst, abgesehen von ihrer Verpackung, ziemlich gut. Auch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass neben dem alternativen Cover für Japan noch ein drittes kursierte: Für Amerika entschied man sich für ein einfaches Bandfoto. Mehrere Umstände bewirkten, dass Virgin Killer, ein ernsthaftes wie künstlerisches Werk, über eine besondere Nachhaltigkeit verfügte. Zum Beispiel waren die beteiligten Komponisten sehr unterschiedliche, aber nichtsdestotrotz als Gruppe funktionierende, sich entwickelnde Individuen. Außerdem war Heavy-Rock als Stilrichtung im Jahr 1976 noch nicht bis zum Abwinken in verschiedene Unterkategorien aufgesplittert. Hinzu kam, wie Francis anmerkte: „Virgin Killer wurde mithilfe eines 32-spurigen, analogen Tonbandgeräts aufgenommen, das damals dem neuesten Stand entsprach.“ Kreativität, Charakter und Technologie ergaben die perfekte Mischung – eine Mischung, die den guten Ruf dieser deutschen Band, zuerst jenseits des Ärmelkanals, dann auch auf der anderen Seite des Großen Teichs, bei einer stets wachsenden Fangemeinde etablierte, deren früheste musikalische Erinnerungen gerade einmal bis zur Mitte der Siebzigerjahre, jedoch nicht viel weiter, zurückreichten.

„Nachdem mein Bruder die Band verlassen hatte, kam Fly To The Rainbow. Uli und ich arbeiteten zusammen. Wir waren es, die den Fortschritt der Musik bestimmten“, erklärte Rudolf. „Jimi Hendrix war der erste Einfluss. Der Song, der klingt wie ‚All Along The Watchtower‘ [fängt zu singen an]. Dieser Part etwa. Ich habe den Songtitel vergessen. Egal, einerseits stammte immer noch viel Material von meinem Bruder und mir und andererseits begann auch Uli, Songs zu schreiben. Es war also ein sehr guter Start für uns, vor allem, dass wir im Musicland-Studio arbeiteten. Mit Mack als Produzenten, der dann mit Queen arbeitete. Als die Rolling Stones im Musicland aufnahmen, war er ihr Tontechniker. Mit so einem Typen zu arbeiten, war eine gute Erfahrung für uns. Das einzige Problem mit ihm war, dass er damals große Schwierigkeiten mit dem Mischen hatte. Er grub den Gesang zu tief in die Musik ein. Deshalb mussten wir zu einem anderen Studiotechniker gehen, damit er das Ganze noch einmal remixte, um das mit dem Gesang zu ändern. Das ist die Geschichte hinter Fly To The Rainbow. Ich denke, In Trance und Virgin Killer waren ein guter Start mit Dieter Dierks. Er fand einen Weg, der Band einen Sound mit Wiedererkennungswert zu geben. Ich glaube nicht, dass wir bei Virgin Killer irgendetwas hätten besser machen können. Es war eine Momentaufnahme. Es war der richtige Zeitpunkt und die richtige Herangehensweise, um diese Art von Musik zu machen.“

Francis fügt hinzu: „Während der Aufnahmen zu Virgin Killer wurde unser Drummer Rudy Lenners wegen eines Nervenzusammenbruchs ins Krankenhaus eingeliefert, weil Dieter Dierks ihn dazu gezwungen hatte, denselben Take immer und immer wieder aufzunehmen.“ Ganz offensichtlich war es also nicht immer das größte Vergnügen, mit Dieter zusammenzuarbeiten.

In jedem Fall war Virgin Killer aber gespickt mit atemberaubenden Höhenflügen und fantastischen Abgründen und die gewundenen Pfade, die diese Gegensätze miteinander verbanden, waren nicht weniger ereignisreich. Auf dem Album befanden sich einige der bis dahin besten „alchemistischen“ Rocksongs der Band. „Catch Your Train“ etwa, eine Nummer, die den Hörer praktisch frontal gegen einen Schleifstein drückte, orientierte sich akustisch stark an ihrer Titelformulierung und weckte dementsprechende Assoziationen zu Kohle, Rauch und Horizont. „Virgin Killer“ rockt erbarmungslos und ist bissig wie kein früherer Song aus dem Scorpions-Repertoire – oder kaum ein Song aus dem Repertoire irgendeiner anderen Band. Das sind tatsächlich die schärfsten Gitarren-Sounds, die bis zum Jahr 1976 je auf Vinyl gepresst wurden.

„‚Catch Your Train‘ war eine sehr knappe Angelegenheit“, betont Rudolf. „Mir war bereits klar, dass das ein ganz besonderer Song war, als ich anfing, ihn zu schreiben. Ich erinnere mich daran, dass ich mich mit Uli darüber unterhielt. Als ich den Solo-Background ausarbeitete [singt den Part] sagte Uli: ‚Nein, nein, mach da was anderes. Ich kann da nichts darüber spielen.‘ Ich meinte daraufhin, er solle es doch wenigstens versuchen. Er sagte: ‚Nein, schau, warum ziehen wir es nicht einfach so bis zum Ende durch?‘ Ich antwortete, dass ich das langweilig fände, und forderte ihn auf, es zumindest einmal zu versuchen. Heute ist er richtig froh darüber, dass ich ihn dazu gezwungen habe. Er kommt oft auf mich zu und sagt: ‚Rudolf, das ist der beste Song, den ihr je gespielt habt.‘ Dieses Solo inspirierte viele Gitarristen, weil es echt etwas ganz Besonderes ist. Uli stellte sich der Herausforderung und steuerte ein paar fantastische Sachen bei.“

„Hell-Cat“ wiederum war eine richtig harte Nuss von einer Krautrock-Freakshow, was sich auch von „Polar Nights“ behaupten ließ, da auch hier nicht mit Eigentümlichkeiten gegeizt wurde, obwohl Letzterer vermutlich etwas mehr Tiefgang hat und vielleicht sogar der erste vom tristen Winter beeinflusste Black-Metal-Song war. Noch trister waren nur noch das schmachtende „In Your Park“ (aus der Nacht erwächst langsam ein neuer Tag), das gleichermaßen monströse wie traurige „Crying Day“ (die Welt ist schlecht) und das verdrießliche, introspektive Psych-Prog-Stück „Yellow Raven“ (hol mich aus dieser schlechten Welt heraus, oh du fantastischer Traumvogel).

„‚Crying Days‘ war ein Song, der, sagen wir mal, anders war“, erzählt Rudolf. „Es ist kein kommerzieller Song, hat aber einen speziellen Vibe. Ich weiß noch, dass Dieter Dierks sich immer Mühe gab, die Songs kommerziell zu gestalten. Wenn ihm etwas zu abwegig erschien, sagte er immer: ‚Okay, lasst uns einen anderen Song machen.‘ Ich äußerte Klaus gegenüber die Vermutung, Dieter würde ein Problem mit diesem Song haben. Er fragte, warum. Ich sagte: ‚Weil er nicht so geradlinig ist‘ Er meinte, dass wir erst einmal abwarten sollten. Zu unserer Überraschung mochte Dieter ihn aber, eben wegen dieser speziellen Atmosphäre. Er war so anders, dass er bei den Leute eine ganz eigene Reaktion hervorrief.“

„Das sind ein paar gute Sachen drauf“, ergänzt Klaus. „Ein paar Songs stammten von Uli, Songs, die Uli auch selbst sang. Wunderbare Nummern wie ‚Evening Wind‘ und ‚Yellow Raven‘ – die sind auch immer noch wunderschön. Wenn ich mir diese Songs anhöre, dann sind die immer noch ganz besonders. Ich mag sie immer noch. Zu vielen Sachen mit Uli finde ich ehrlich gesagt keinen Zugang mehr. Es gibt da einige Songs, bei denen er sich schon auf seinem eigenen Trip befand und durchzog, was er machen wollte. Ein paar davon konnte er nicht singen. Deshalb sang ich sie. Aber rückblickend lässt sich da eben kein Zugang mehr herstellen. Doch Sachen wie ‚Yellow Raven‘ – hört euch das mal an. Die sind einfach … wow! Wunderschön! Wir spielten erst unlängst mit Uli, Nummern wie ‚Pictured Life‘ oder ‚We’ll Burn The Sky‘, was auch ein sehr schöner Song ist. Aber ich glaube, der stammt von Rudolf. Ulis Freundin Monika Dannemann schrieb aber die Lyrics dazu. Dann noch ein paar alte Sachen wie ‚Fly To The Rainbow‘. Es war echt der Hammer und die Fans liebten es.“

Die weniger exzentrischen Tracks auf dem Album waren stolzer, trotziger und richtungsweisender Rock – Songs wie das an Queen erinnernde „Pictured Life“ und das fast schon Southern-Rock-Atmosphäre verströmende „Backstage Queen“ etwa, die den Weg in eine mögliche Zukunft wiesen, die von prallen Geldbeuteln geprägt sein sollte. In der Tat gelang der Band mit diesem Album der Durchbruch in Japan, wo es bis auf Platz 32 der Albumcharts stieg und Gold-Status einheimste, was auch mit dem Nachfolge-Album Taken By Force gelingen sollte. Gleichzeitig waren dies die einzigen Auszeichnungen, die diesen beiden Alben beschieden waren.

„Pictured Life“ hatte einen der eindringlichsten Songtexte, die die Band bis dahin geschrieben hatte. Zwar lässt sich nur schwer bestimmen, was Roth genau meint, aber die Bildsprache und das Gefühl für das Mystische sind augenscheinlich. Rudolf erinnert sich: „‚Pictured Life‘ – ich präsentierte den anderen diesen Song, als wir bei einem Festival auftraten. Ich bin mir nicht sicher, ob es das Festival in Offenbach mit Bob Marley und Wishbone Ash war, 1974 oder ’75, keine Ahnung. Ich betrat die Garderobe und spielte diesen Riff vor. Uli sagte: ‚Hey, was ist das denn?‘ Und ich antwortete, dass es ein neuer Song wäre. Und er meinte: ‚Das nächste Mal, wenn wir in einem Proberaum sind, müssen wir daran arbeiten.‘ So war das.“

Wer in den Siebzigerjahren großartige Alben aufnehmen wollte, musste sich an das oberste Gebot halten und jeden in Stücke reißen, der es wagte, einen als Vertreter des „Heavy-Metal“ zu bezeichnen. Schenker gehörte wie auch Page, Plant, die Jungs von Thin Lizzy, Deep Purple oder Queen zu jenen, die angesichts dieser einschränkenden Kategorisierung die Nase rümpften. „Ich hielt uns nie für eine Heavy-Metal-Band. Das sagten wir den Leuten auch stets, aber nach einer Weile hältst du dann die Klappe, weil sie dir ohnehin nicht zuhören werden. So weit es uns betraf, waren wir immer eine Rockband. Und wir sind immer offen dafür, unterschiedliche Gewürze beizumengen. Außerdem leben wir hier in Europa, wo sich die Musik schneller verändert als in Amerika. Das war schon immer so. Uns war immer bewusst, dass wir etwas tun mussten, was sich komplett von dem unterschied, was die anderen machten. Wir respektierten Bands wie Deep Purple oder Led Zeppelin, aber wir wollten etwas anderes machen. Wir entstammten einer anderen Generation. Ich ging ins Studio und schrieb etwas und dann schrieb Uli wiederum etwas von seinen eigenen Einflüssen Geprägtes. Wir wollten etwas Interessantes erschaffen, das sehr gitarrenlastig war, damit die Leute sagten: ‚Wow, was ist das?!‘“

Doch gerade der Titeltrack, „Virgin Killer“, wurde als Meilenstein des noch nicht einmal völlig ausdefinierten Genres namens Heavy-Metal gesehen. „Ja, daran besteht kein Zweifel! Sagen wir mal so: Es war eine Mischung, weil Uli sich sehr stark an Hendrix orientierte und Klaus und ich bereits eine Art von Scorpions-Feeling vertraten. Wenn man das nun mit Uli Roths Sound kombinierte, war das sehr interessant. Es war so, als würde Jimi Hendrix zu modernem Rock spielen.“

Uli stimmt zu, dass die frühen Jahre der Band gekennzeichnet waren von diesem Mix der Einflüsse – und später dafür gebrandmarkt wurden. Es war schon seltsam, dass Uli Roth, der Urheber des gefeiertsten frühen Rock-Tracks der Band, „Virgin Killer“, sowie dessen nicht minder krachigen Vorgängers „Dark Lady“, laut eigener Aussage über keinerlei Metal-Einflüsse verfügte.

„Ich glaube nicht, dass ich außer Jimi Hendrix welche hatte. Ich hörte nie Heavy-Metal und ich konnte mich auch nie wirklich dafür begeistern. Das war nie meine Welt. Ich fühlte mich vielmehr wie ein Außenseiter. Irgendwann wollte ich mich richtig davon distanzieren und tat das dann auch. Ich versuchte immer, irgendwelche anderen Aspekte in den Rock einfließen zu lassen, Dinge, die ich von nirgendwo sonst kannte. Ich glaube, dass sich so die Verbindung der Scorpions mit Metal ergab. Ich denke, dass es das war, was Klaus, Rudolf und mich damals zu einer interessanten Band machte. Weil wir eine Vielzahl von Einflüssen hatten. Aber, ja, ein paar dieser Nummern klingen ein wenig generisch, etwa ‚Dark Lady‘ oder ‚Virgin Killer‘. Vermutlich zeigt es ein wenig Schwarz-Weiß-Denken, wenn ich sage, dass ich keine Einflüsse hatte. Ich bin natürlich insofern beeinflusst worden, als ich mir Bands wie Deep Purple ansah. Und da wir bei Scorpions zwei Gitarren hatten, experimentierte ich in unterschiedliche Richtungen. Aber das war in der Regel nie von langer Dauer.“

„Ich schrieb zum Beispiel nie wieder einen Song wie ‚Dark Lady‘, nie wieder einen wie ‚Virgin Killer‘. Die meisten meiner Songs sind komplette Einzelstücke. Wenn man mein Repertoire unter die Lupe nimmt, dann fällt einem auf, dass ich immer versuche, etwas Interessantes zu erschaffen. Sobald mir das dann gelungen ist, reicht es mir auch schon wieder [lacht]. Für mein Publikum ist das total verwirrend. Deshalb finden viele Leute auch keinen Zugang dazu. Ich bin im Grunde genommen ein Forscher – und ich habe kein Interesse daran, mich weiter mit etwas zu befassen, wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich lange genug damit auseinandergesetzt habe. Ich glaube, dadurch unterscheide ich mich von den meisten anderen Leuten in diesem Business. Die sind nämlich erfolgreich, indem sie genau das Gegenteil tun, sie finden eine gute Sache und wiederholen sie dann immer wieder. Da kann ich ihnen auch keinen Vorwurf mache, ich denke, dass das ganz normal und menschlich ist. Ich bin aber nicht normal, in dieser Hinsicht bin ich total abnormal. Ich will auch gar nicht normal sein. Und erfolgreich zu sein nur um des Erfolges willen, das interessiert mich auch nicht. Sonst wäre ich ja bei den Scorpions geblieben, weil sie zur Zeit von Virgin Killer und Tokyo Tapes richtig durchstarteten. Jeder wusste, wohin der Zug fahren würde.“

Sein klassischer Signature-Track „Virgin Killer“ war laut Ulis Aussage sein Versuch, im Proberaum auch mal „witzig“ zu sein. „Wir hatten gerade KISS während ihrer ersten Deutschland-Tour supportet und wir wussten ja nichts über sie [lacht]. Es war witzig, sie jeden zweiten Abend anzusehen, weil sie so, nun ja, schrill und abgefahren waren. Ihre Lyrics waren so skandalös. Also jammte ich im Proberaum diesen Riff und fing vor der Band zu singen an, um KISS ein wenig zu veräppeln. Ich sang irgendso was wie „because he’s a virgin killer“. Klaus hielt das aber für eine grandiose Textzeile und meinte, ich sollte mehr daraus machen. Nun stand ich vor der Aufgabe, ausgehend von dieser Zeile einen sinnvollen Text zu schreiben. Das war tatsächlich eine ziemlich große Herausforderung. Hat mir ganz schön Kopfzerbrechen bereitet, aber schlussendlich war ich recht zufrieden mit meiner Lösung. Wohlgemerkt, die meisten Leute verstehen diesen Songtext nicht richtig, weil er, soweit ich weiß, nicht abgedruckt wurde. Als Tipper Gore nun ihren Kreuzzug gegen die Übel des Metal führte, geriet auch dieser Song in ihr Visier. Klar, der Titel war schon recht obszön, aber der Text ist eigentlich das genaue Gegenteil davon. ‚Virgin Killer‘ steht im Prinzip für den Dämon unserer Zeit, all die negativen Einflüsse, mit denen sich Menschen, die in unserer heutigen Gesellschaft aufwachsen, auseinandersetzen müssen beziehungsweise wie sie von ihnen verdorben werden. Wir kommen unverdorben zur Welt und haben ein reines Gewissen. Dann passiert etwas und wir werden vom Druck des Alltags und der Gesellschaft korrumpiert. Keiner entkommt dem. Keiner stirbt in makellosem Zustand.“

Also handelt der Song davon, weltlich zu werden und seine Unschuld einzubüßen?

„Ja. Der ‚Virgin Killer‘ ist ein Dämon des Zeitgeists, der den Menschen ihre Unschuld raubt. Genau darum geht’s. Das Albumcover machte es nicht besser. Da werde ich immer noch rot. Zum Glück war das nicht meine Idee, obwohl ich gestehen muss, dass ich auch nichts unternahm, um es zu verhindern. Das war ein großer Fehler. Das war einfach unnötigerweise obszön und ich mag keine obszönen Dinge.“

Zu diesem Dampfhammer von einem Track, dem härtesten Song der Band bis dahin, ergänzt Schenker noch: „Wir arbeiteten an ‚Virgin Killer‘ in einem Proberaum, der sich in einem Keller unter einer Schule befand. Und Uli sang den Song. Plötzlich hörte ich, wie er ‚virgin killer‘ sang. ‚Hey, Uli, was ist das? Was singst du da? Virgin Killer? Das ist ein fantastischer Titel, großartig, damit müssen wir etwas machen!‘ So wurde daraus ein Song und sogar der Titeltrack des Albums.“

„Ich habe keinen blassen Schimmer“, antwortet Klaus auf die Frage, was die Band dazu bewegte, so atemberaubend heavy wie auf diesem Track oder auch auf „Dark Lady“ zu spielen. Eine solch extreme Spielweise existierte damals de facto ja noch gar nicht. „Wir fingen an, noch bevor der Begriff Heavy-Metal überhaupt erfunden war. Für uns ging es nicht darum, ein Metal-Album aufzunehmen. Wir wollten einfach unsere eigene Musik machen. Dieter Dierks ließ mich schreien, wie es die großen Schreihälse dieser Zeit eben taten, und ich ging dabei an die Grenzen meiner Stimme. So gut es eben ging. Das war es, was wir tun wollten – bei den Studiosessions, in den Songs und als Live-Band. So klangen wir live. Scorpions war immer ein ziemlich wilder Live-Act. Das ist auch heute noch so. Niemand von uns sagte damals Sachen wie: ‚Wir sollten wie Judas Priest oder Iron Maiden klingen.‘ Wir wollten immer wie Scorpions klingen.“

„Ich genoss die Arbeit an diesem Album total“, fährt Uli fort. „Das war eine richtig gute Zeit. Die Scorpions waren auf einem Höhepunkt. Wie soll ich das formulieren? Ich fühlte mich nie wohl in diesem Studio, weil ich nie zufrieden mit dem Gitarren-Sound dort war. So absurd sich das für manche Leute auch anhören mag: Der Sound, den ich auf der Bühne hatte, klang in meinen Ohren viel besser. Den bekomme ich in den meisten Studios mit toten Wänden einfach nicht zustande, was mich immer frustrierte. Ich glaube, der Grund, warum es immer noch gut klingt, ist, dass die Mikros so nahe an den Verstärkern standen. Du hörst so ziemlich genau das, was aus den Amps kommt – und nicht den Raum und das Ambiente. Das war etwas, was mich nervte. Was mich außerdem störte, war, dass wir uns zuerst zehn Tage lang mit Bass und Schlagzeug und anschließend noch den Rhythmusgitarren aufhielten und ich dann nur ein paar Tage für die Leadgitarren hatte. Ich fand, dass da die Prioritäten falsch gesetzt wurden. Aber nachdem ich all diese negativen Dinge gesagt habe, muss ich auch klarstellen, dass das Level an Inspiration sehr hoch war und ich mich noch genau an die Arbeit an jedem einzelnen Track erinnere. Selbstverständlich nahmen wir separat voneinander auf. Zuerst die Schlagzeug- und die Bass-Spur, dann die Rhythmusgitarren und dann noch meine Gitarren-Leads. Auf Fly To The Rainbow war das noch anders gewesen. Songs wie etwa ‚Speedy’s Coming‘ spielte die Band gemeinsam. Später taten wird das aber nicht mehr. In Bezug auf die Produktion war ich bei Virgin Killer am stärksten involviert. Bei Tracks wie etwa ‚Polar Nights‘ oder ‚Yellow Raven‘ hielt ich praktisch die Fäden in der Hand. Und zu Rudis Songs steuerte ich meine Gitarren und meine Ideen bei, bevor dann noch alle anderen etwas dazu beitrugen.“

Ulis Englisch war immer schon ziemlich gut gewesen, weil sein Vater begann, ihm die Sprache beizubringen, als er gerade einmal fünf Jahre alt war. Klaus hingegen hatte Schwierigkeiten mit der Sprache, weshalb seine Texte bis in die Achtziger und vielleicht sogar noch bis in die Neunzigerjahre hinein streng genommen eher gestelzt und ungeschickt wirkten. Griff Uli Klaus denn manchmal unter die Arme und korrigierte seine Texte? „Ja, manchmal, natürlich. Ich trug schon dazu bei, aber nur gelegentlich mal ein Wort oder eine Zeile. An ein paar arbeiteten wir auch gemeinsam. Aber Klaus und Rudolf sind großartige Songwriter und werden immer irgendetwas liefern können.“

Auch Rudolf äußert sich zu Klaus’ frühen Gehversuchen. „Sein Englisch wird besser, aber anfangs textete er mithilfe eines zweisprachigen Wörterbuchs. Wenn er an Songs arbeitete, lag das Buch neben ihm. Er schlug immer nach, um herauszufinden, was die Wörter bedeuteten. Er schrieb eben wie ein Deutscher, der sich Mühe gab, Englisch zu schreiben.“

Uli schrieb seine Songs in erster Linie allein, wohingegen Schenker und Meine sich oft zusammentaten. „Ich schrieb alle meine Songs allein, auch die Texte“, hält Uli fest. „Ich würde sagen, dass ich zu neunzig Prozent von ihnen sämtliche Gitarren spielte und oft auch den Bass. Deshalb hören sie sich auch anders an. Mit Rudi und Klaus verhält es sich anders. Entweder schrieben sie zusammen, oder Rudolf kam mit der Hauptidee an und Klaus steuerte noch etwas bei. Bei vielen ihrer Songs stammte die Musik von Rudolf und der Text von Klaus. Ich spielte aber eben auch Bass auf Songs wie ‚This Is My Song‘, ‚Yellow Raven‘ und noch ein paar anderen. Aber Francis war schon ein richtig guter Bassist. Es war also nicht unbedingt notwendig. Es kam nur vor, dass wir im Studio einfach nicht so viel Zeit hatten. Oder Francis den Song nicht so gut kannte. Das war mehr eine Frage der Zweckmäßigkeit.“

Auch zu ein paar anderen Tracks von Virgin Killer hat Uli etwas zu sagen: „Ich finde, dass ‚Pictured Life‘ ein guter Song war. Es basierte auf einem ähnlichen Riff einer anderen Band, aber mir ist entfallen, wer das war […] Ich meine, für viele der Songs gab es ein direktes Vorbild [lacht]. ‚Hell Cat‘ etwa, das ist im Prinzip Jimi Hendrix, obwohl ich versucht habe, es auf innovative Weise zu machen. Es ist nicht schlecht oder so, aber es gehört sicher nicht zu meinen besseren Leistungen.“

Uli ist sich absolut im Klaren darüber, dass manche seine Gesangsversuche ein wenig derb fanden. „Leider bin ich nicht mit einer guten Stimme gesegnet, aber ich komme schon zurecht, vor allem bei Sachen wie ‚Polar Nights‘. Ich glaube, das ist schon authentisch [lacht]. Sagen wir mal so: Ich habe einfach die Art von Stimme, die viele Leute hassen und ein paar andere wiederum gut finden. Das wohl das Beste, was man darüber sagen kann [lacht].“

Und doch fragt man sich, ob die kommerzielleren, zielstrebigeren Songs von Virgin Killer – etwa „Catch Your Train“ und „Backstage Queen“ – das Ende von Ulis Zeit bei der Band einläuteten … „Nein, das taten sie nicht. Zwar entsprachen sie nicht wirklich meinem Stil, aber sie waren humorvoll, so sah ich sie zumindest. Damals war ich noch so stark in die Band eingebunden, dass es ganz natürlich war, dass ich diese Sachen spielte. ‚Catch Your Train‘ bot einem eine großartige Plattform für ein Gitarrensolo [lacht].“

Die Tour, auf die die Band anlässlich des Erscheinens von Virgin Killer ging, stellte so etwas wie einen Meilenstein für die Band dar. Die Scorpions bereisten zum zweiten Mal und etwas weitläufiger Großbritannien, wo sie zwischen dem 22. April 1977 in Manchester und dem 5. Mai in London an fast jedem Abend auftraten, bevor sie für den nächsten umfassenden Tour-Abschnitt nach Deutschland zurückkehrten.

Wind Of Change:

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