Читать книгу Das Geheimnis der Anhalterin - Martin Schlobies - Страница 3

3. Kapitel

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Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, schienen die düsteren Erlebnisse der Nacht vergessen. Ich stand auf, öffnete eines der beiden Fenster meines Zimmers und das Fliegengitter davor. Es war herrliches klares Wetter. Unten, im hellen Innenhof des Kastells ruhten ein älteres Ehepaar und ein Mädchen auf Liegestühlen, offenbar Gäste des Hotels.

Das junge Mädchen hob neugierig den Kopf, als sie mich am Fenster erblickte. Ihre Lippen bewegten sich zu einem unhörbaren: "Bon jour!" mit dem sie mich begrüßte. Es trug einen Badeanzug, hatte schwarze lockige Haare, war vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, und hatte offenkundig Langeweile.

Auf der anderen Seite des Hofes lagen ebenfalls auf Liegestühlen zwei Frauen, von denen ich aber hier, von meinem Fenster aus, nur die Füße und die Beine bis zu den Oberschenkeln sehen konnte. Die eine der beiden drehte sich jetzt und ich sah einen schweren Rücken. Vielleicht waren es eine Mutter mit ihrer Tochter.

Das junge Mädchen drehte sich noch einmal hoch und wagte kurze Blicke voller Neugier. Doch der Wind schob jetzt die grüne Gaze des Fliegengitters an meinem Fenster vor die suchenden Augen von unten.

Ich duschte, rasierte mich, zog mich an und begann, meine Reisetasche auszupacken, in dem Moment kam Edmund in mein Zimmer.

"Komm!", sagte er, nachdem wir uns begrüßt hatten, "Komm, hilf mir, das Auto auszuräumen!"

Kaum war Edmund wach, hatte er schon eine Beschäftigung - für sich selbst, aber auch für mich. Im Auto waren nur noch wenige Dinge, aber es hätte Edmunds Freude an den Ferien sehr geschmälert, wenn sie im Wagen verblieben wären. Der mußte leer sein, frisch aufgetankt, Ölstand und Wasser nachgesehen, bereit stehen für neue Taten!

Das erste Mal ging Edmund allein und kam beladen mit Strickjacken, Karten und Mützen zurück. Das zweite Mal mußte ich mit.

"Es ist so heiß!", maulte ich. Ich hätte es vorgezogen, im Innenhof des Kastells auf einem der bequemen Liegestühle zu sitzen, zu dösen, in den Himmel zu starren und nichts zu tun.

"Heiß?", fragte Edmund in bester Laune, "Prächtiges Wetter!" Er ging zum Fenster, als hätte er dort ein Thermometer entdeckt.

"Wie sollte es nicht heiß sein? Es sind mindestens 33 Grad!" Er sah hoch zur Sonne, als könne er am Sonnenstand die geographische Position feststellen,

"Schließlich befinden wir uns auf 38 Grad nördlicher Breite und 11 Grad westlicher Länge!" Ziemlich lustlos trottete ich hinter Edmund her.

Es konnte eigentlich nichts mehr in dem Auto sein, als zerknülltes Papier, Taschentücher und Edmunds Feldstecher. Doch wir fanden noch die Thermoskanne mit Kaffee, schmutzige Tassen, und allerlei Kleinigkeiten, wie sie Frauen gern vergessen, Schals und Hüte, Michelles Klappkoffer für ihre feinen Kleider und meinen Schirm.

Edmund warf noch einen Blick auf seinen Wagen,

"Sollte ich ihn nicht waschen lassen? Er ist furchtbar schmutzig!" Edmund mußte als Repräsentant von Citroen natürlich immer die neuesten Modelle fahren, und es war so etwas, wie der Firma ein Schnippchen zu schlagen, wenn er in den Ferien seinen alten Wagen fuhr, diesen alten 'Gangster - Citroen', zudem war er sehr geräumig und bequem. Edmund hätschelte ihn, als ob es ein lebendiges Wesen wäre, ein treues edles Pferd. Michelle dagegen haßte das alte Auto.

Wir schleppten nun alles in das Kastell, und so beladen begegneten wir Michelle.

"Paß auf, daß du meine Kleider nicht wieder zerknitterst und zerdrückst!", rief sie Edmund zu. Der stand, beladen wie ein Packesel, und konnte sich nicht wehren. Michelle, Edmunds Frau, war klein, rundlich und rührte sich nie, - behauptete jedenfalls seine Mutter.

Endlich war wirklich alles ausgeräumt und nach oben getragen, und ich stand mit Edmund wieder unten im Innenhof, der jetzt leer war. Die Sonnenanbeter waren verschwunden.

Grünbewachsene Arkaden führten zum Fluß und zur See. An einer Ecke des Innenhofes war ein verglastes Teehäuschen. Die Bogenfenster waren alt, voller Spinnweben, Staub und Wasserflecke. Doch der Wind und der Lärm konnten nicht bis hier nach oben gelangen. Es war warm dort, aber es roch nach Rauch.

"Regarde! Deux femmes superbes!", sagte Edmund und deutete auf die Tür zum Flur. Durch die Scheiben sahen wir zwei große Frauen im Flur stehen.

Die größere und ältere der beiden telephonierte, die jüngere zeigte eine Königinnensilhouette; so hoch trug sie den Kopf. Die blonden Haare hinter den Ohren zusammengerafft, fielen sie schwer auf ihre Schultern, wie eine Woge. Das Kleid hielt die aufbrechenden Brüste, züchtig, am Zügel.

Das Telephonat war beendet und die beiden Frauen gingen fort, zum Ende des Flurs, wahrscheinlich in eines der anstoßenden Zimmer. Die jüngere mit besitzergreifenden Schritten, mit der wiegenden Spannung weiblicher Hüften. Ein Mädchen im Schmuck ihrer Haltung und ihrer Jugend, rasch und stolz.

Edmund verschwand im Treppenhaus. Ich sackte in einen Liegestuhl, mit völlig leerem Kopf. Die Müdigkeit überfiel mich verdoppelt. Das Ausräumen des Autos hatte mich erschöpft. Es war eine letzte kleine Aufgabe, eine letzte kleine, anstrengende Pflicht gewesen - vor dem ersehnten Nichtstun.

Bald kam Edmund zurück aus dem Flur, eine Zeitung unter dem Arm; er sah sich um, mit jenem Blick, den ich schon gut von ihm kannte. Er erfaßte das Kastell, den Innenhof, die Türme, maß sie mit drei, vier raschen, präzisen Blicken ab und murmelte:

"36 x 36 m, fast quadratischer Umriß, Türme ca. 14 m hoch, gerechnet von den Grundmauern, Bruchstein, die ältesten Teile sicherlich noch aus dem 11. oder 12. Jahrhundert." Das alles trug er in eine unsichtbare Tabelle ein, ließ sich dann ebenfalls in einen Liegestuhl fallen und las die Zeitung - wenn er sie nicht lesen konnte, würde er sich den ganzen Tag hilflos und ausgestoßen vorkommen, vielleicht würde er sogar taub und stumm werden.

Ich versuchte mich zu entspannen, doch etwas in mir ließ nicht los, und da fiel mir die vergangene Nacht wieder ein, die Anhalterin, und der Brief, den wir überbracht hatten. Ich ahnte, ich würde Tage brauchen, um das, was ich gesehen hatte, zu begreifen. So als ob da noch eine Aufgabe auf mich wartete, eine Last, etwas Anstrengendes, etwas Beunruhigendes.

Und dann kam es mir sogar vor, als ob dieses Etwas ganz in der Nähe auf mich lauerte. Ich war irritiert von etwas, was ich nicht fassen konnte, sah unwillkürlich suchend umher. - Nichts!

Doch plötzlich fesselte etwas meine Auf-merksamkeit. Oben, auf einem Wehrgang, auf der Dachterrasse, hinter einer der Zinnen, halb verdeckt durch Efeu und Winden, glaubte ich eine schlanke Frau stehen zu sehen.

Ich sprang auf, so heftig, daß Edmund zusammenzuckte.

"Was ist passiert?", fragte er erschrocken, "Was hat dich denn ...?"

"Ich dachte, ich hätte dort jemanden gesehen, - den ich kenne."

"Du kennst viele Frauen, nicht wahr?", er lachte. Aber mir war nicht nach Lachen zumute.

Mit raschen Schritten überquerte ich den Hof, suchte die Treppe zum Turm, fand die Tür im Efeu versteckt; sie war offen. Atemlos hastete ich die enge Wendeltreppe hinauf und unvermutet stand ich auf halber Treppe von Angesicht zu Angesicht dem jungen Mädchen gegenüber, das ich am Morgen von meinem Fenster aus im Innenhof auf dem Liegestuhl liegend gesehen hatte.

Sie wollte grußlos an mir vorbei, aber die Treppe war so eng, daß ich stehenbleiben mußte, um sie vorbeizulassen. Sie schien unwillig, aufgehalten zu werden.

Sie war sehr schlank, hatte schwarze Haare, einen Teint, der etwas heller war, als hier in der Gegend üblich, und gefüllte Lippen. Sie erschien mir jetzt noch jünger zu sein, als ich anfangs gedacht hatte, höchstens vierzehn Jahre alt.

Das Mädchen starrte mich an - mit großen Augen und mit einem traurigen, im Unendlichen verlorener Blick. Es kam mir seltsamerweise so vor, als blicke sie durch mich hindurch, - oder genauer, als blicke etwas anderes durch sie hindurch. Dann senkte sie kurz die Augen.

Als sie wieder aufsah, war ihr Gesicht verändert, spöttisch und fragend, ob ich ihrem Blick wohl standhalten würde. Schließlich bedachte sie mich mit einem Augenblitzen, so strafend und herrisch, daß ich erschrocken den Weg freigab.

"Wie heißt du?", fragte sie, als sie fast an mir vorüber war.

"Manfred!"

"Manfred!", wiederholte sie langsam, als fürchtete sie, meinen Namen zu vergessen, "Ich heiße Anna!"

"Anna! Sehr hübsch!" erwiderte ich.

"Wo kommst du her?" fragte sie.

"Vom Land!"

"Und du?" fragte ich.

"Vom Meer!" Sie lachte und beim Lachen konnte ich ihr in den geöffneten Mund sehen, der so rot war, als hätte sie gerade Himbeeren gegessen.

Als ich dieses Lachen hörte, diese tiefe Sorglosigkeit, vielleicht sogar eine Kälte, bekam ich Angst. Es war, als hätte jemand ein feines kaltes Messer in meine Brust gesenkt. Es war wohl das erste Mal in meinem Leben, daß ich vor einem Mädchen Angst hatte.

Ich ging die restlichen Stufen der Treppe hoch. Oben auf der Plattform war niemand.

Das Geheimnis der Anhalterin

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