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DIE STRUDLHOF-SCHLANGE
ОглавлениеAUTOR: Heimito von Doderer
TITEL: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre
ORIGINALFASSUNG: 1951
Ein graues Schleppen und Ziehen geschah auf dem erdigen Hang und von da an in den Zipfel der versumpften Stelle hinein; und jetzt auch schon auf der anderen Seite wieder heraus. Da hatte René den Kopf der schlange bereits entdeckt, der größten, die ihm je in freier Natur begegnet war.
Dieser eine Moment in der Pubertät, der das ganze Leben verändert, den man nie vergessen und der das Erwachsenenleben prägen wird! Nicht der erste Kuss oder etwas ähnlich Konkretes – sondern etwas, das, obwohl es einen nicht erkennbar betrifft, tiefe Wunden der Rührung hinterlässt.
Heimito von Doderer schaut mithilfe eines gigantischen Exemplars der Gattung Tropidonotus natrix in geradezu satanischer Manier ins Innere seiner Figur René Stangeler. Obergescheit, wie der 16-jährige Gymnasiast nun einmal ist, kennt er natürlich sofort den lateinischen Namen seiner bahnbrechenden Entdeckung, ist sich aber nicht sicher, ob er sie auf Deutsch als Lindwurm, Natter oder Blindschleiche bezeichnen soll. Oder – wenn man Doderers obsessiven Fetisch kennt: vielleicht ja als Drachen. Denn nichts anderes ist diese Schlange für den Verfasser als das Maximum an Fantasy, das er sich in sein hyperrealistisches, komplexes Monumental-psychogramm einer Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts einzufädeln erlaubte.
»René fühlte jede Bewegung der Natter, als sei er’s selbst, der sie ausführte, nur gleichsam umgeschlagen in sein Inneres: das Treffen auf ein Hindernis beim Kriechen, Ast oder Stein, während der lange Leib noch in Bewegung blieb und sich in engeren Windungen hinter dem zögernden Kopfe nachdrückend staute, das plötzliche Vorgleiten des nun gestreckten Halses aus dem entstandenen Knäuel heraus und dessen Übergehen in flachere Bogen, Schub um Schub …«
Und so weiter. Erotik pur. Stangeler überlegt denn auch, dass »eine Ringelnatter von solcher Ausgewachsenheit Schnürungen an seinen Armen bewirken könnte, die weit wirksamer wären als jene, wie sie auch die kleineren Stücke des öfteren versucht hatten«. Was immer er genau damit meint, jedenfalls entbrennt – kurz bevor er dann das Mädel Paula Schachl kennenlernt – »Liebe zu dem Tier«.
Die hält aber nicht allzu lange, denn bald schon wird ihm bewusst, »daß er hier zum ersten Male beim Anblick einer Schlange Ekel empfand. Vielleicht weil sie so groß war.« Vielleicht hält es die Online-Ausgabe der Welt deshalb für angemessen, von einer Würdigung ebendieser Szene durch den Autor Daniel Kehlmann direkt auf die Schlagzeile »Riesenschlange verschlingt Känguru auf Golfplatz« zu verlinken.
In diesem Wald, in der ekligen Natur jedenfalls, beginnt der Ernst des Lebens für René Stangeler. Wiewohl am Land, »schaltet« Doderer in Renés Kopf von diesem Sündenfall direkt weiter zur Assoziation von »Rampe über Rampe, Bühne über Bühne«. Und dort schlängelt sich – genau – die Strudlhofstiege.
GATTUNG: Tropidonotus natrix
LEBENSRAUM: Österreich
GIFTIG: nein
STÄRKE: windige Wendigkeit
FABELTAUGLICHKEIT:
BEUTESCHEMA: Stangeler
ERFOLGTE HÄUTUNGEN: >100
FASCHINGSKOSTÜM: Drache