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Ich schwebte mit Engelsflügeln über der Hochzeitsgesellschaft meiner Eltern. Die Gäste schauten zu mir hoch und riefen »Ah!« und »Oh!«, aber sie bewunderten nicht meine ätherische Schönheit, sondern zeigten mit den Fingern auf mich. Ich flog Kreise über ihren Köpfen, winkte und lachte. Bis ich begriff, dass ich ein Amor-Outfit trug, das nur aus einer Windel und einem Bogen mit Liebespfeilen bestand. Ich schoss die Pfeile ab, aber meine Zuschauer bewarfen mich mit Tomaten und trafen mich mitten ins Gesicht.

Ich öffnete die Augen. O’Malley saß auf meiner Brust und tappte mit seiner Vorderpfote auf meiner Wange herum. Ich fütterte ihn, duschte und stand danach ratlos vor meinem Kleiderschrank. Es würde sicherlich ähnlich warm werden wie in den letzten Tagen, aber ich hatte vergessen, meine Beine zu rasieren, also entschied ich mich für eine lange Jeans und ein blaues Stretch-T-Shirt.

Ich band meine dunkelblonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, griff nach meiner Handtasche und setzte mich ins Auto. Nachdem ich mich durch den Verkehr in der Innenstadt gekämpft hatte, lenkte ich meinen Golf auf den Parkplatz des Ostfriesland-Reporters.

Den Bericht über Alexa hatte ich im Gepäck, aber Martin Jägers Bürotür war verschlossen. Ratlos, ob ich einfach unverrichteter Dinge wieder gehen sollte, lief ich vor seinem Büro auf und ab.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme kam aus einem Büro hinter mir, ein grauer Lockenkopf schaute daraus hervor. Ich schätzte seine Trägerin auf etwa sechzig.

»Ich suche Herrn Jäger«, sagte ich. »Er hat mich als Gastautorin engagiert, und ich wollte ihm meinen ersten Artikel vorlegen. Er hat ihn bereits per E-Mail bekommen, aber ich dachte, ich schaue noch mal persönlich vorbei.« Um bei der Gelegenheit ein paar Informationen über Violetta und Andreas Kalski abzustauben, ergänzte ich stumm.

»Ach, dann müssen Sie Elli Vogel sein. Kommen Sie rein, Sie können ihn auch bei mir abgeben. Ich bin Petra Ulferts, Martins rechte Hand.«

Ich reichte ihr den Artikel und folgte ihr ins Büro, wo sie mir einen Besucherstuhl zuwies und meinen Bericht aus dem Umschlag zog. Sie setzte sich eine Lesebrille auf und überflog die ersten Zeilen meines Berichts.

Sie sah auf. »Ich habe Martin gleich gesagt, dass Sie nicht über die Ereignisse in der alten Brauerei schreiben würden. Mit Ihrer Cousine haben Sie eine gute Wahl getroffen.«

»Ich hatte eigentlich vor, über Violetta Kalski zu berichten.«

Sie dachte kurz nach. »Die Künstlerin? Ich erinnere mich an sie. Lebt sie denn überhaupt noch?«

Ich nickte. »In einer Seniorenresidenz in Norddeich. Haben Sie damals schon hier gearbeitet? Als ihr Sohn verschwand, meine ich.«

»Nein, ich bin erst einige Jahre später zum Team gestoßen. Aber Günther Fabricius hat regelmäßig über die Sache berichtet. Auch als das allgemeine Interesse an Andreas Kalskis Verschwinden nachließ, ist er am Ball geblieben. Herausfinden konnte er dann aber leider doch nichts mehr.«

»Ist er tot?«

Petra Ulferts lächelte, und ich merkte, dass ich ihre Worte missverstanden hatte. »Nein, er ist gesund und munter und fit wie ein Turnschuh. Aber es hat sich einfach nichts mehr ergeben. Als er dann vor ein paar Jahren in den Ruhestand ging, hatte sich die Sache vollends erledigt.«

»Besteht die Möglichkeit, die alten Artikel einzusehen?«, fragte ich.

»Natürlich.« Petra Ulferts überlegte. »Wie lange ist es her, dass er verschwand? Fünfunddreißig Jahre?«

»Vierzig Jahre und neun Monate«, sagte ich.

»Schon so lange? Dann wird es etwas umständlicher, die alten Berichte sind alle auf Mikrofiche gesichert. Sie kommen wahrscheinlich schneller an die gewünschten Informationen, wenn Sie sich direkt an Günther Fabricius wenden, er hat all seine Unterlagen und Notizen zu dem Fall aufbewahrt. Besuchen Sie ihn doch einfach mal, er spricht gern über die alten Zeiten.«

Günther Fabricius wohnte in einer Doppelhaushälfte in einer älteren Wohnsiedlung am Stadtrand. Die Kinder, die früher in diesen Häusern gelebt hatten, waren längst flügge geworden und hatten eigene Familien gegründet. Das bezeugte der halb verwitterte Sandkasten auf dem Spielplatz am Wendekreis der Sackgasse, der allem Anschein nach nur noch von den Siedlungskatzen als Katzenklo genutzt wurde.

Ich hielt vor der Hausnummer einundzwanzig, auf deren Auffahrt ein blauer Kleinwagen parkte, stieg aus und klingelte. Ein schlanker, grauhaariger Mann mit überraschend vollem Haar öffnete die Tür, ein übergewichtiger Jack Russell hopste mir entgegen und beschnüffelte meine Hosenbeine. Sie schienen nach O’Malley zu riechen, denn ich erntete ein erzürntes Bellen.

»Sie müssen Elli sein«, sagte Günther Fabricius. »Petra hat mich schon angerufen und von Ihrem Anliegen erzählt. Kommen Sie rein, bei einer Tasse Tee können wir alles besprechen.«

Er führte mich in eine Küche mit buchefarbener Küchenzeile. Ich sah mich um, während er das Wasser für den Tee aufsetzte und Tassen auf den Tisch stellte. Kaum Deko, alles sehr zweckmäßig eingerichtet. Sein Zuhause wirkte nicht so, als ob er es mit einer Frau teilte. Vielleicht war das auch der Grund für sein volles Haar.

Fabricius setzte sich auf den Küchenstuhl mir gegenüber, unter dem sich bereits sein Hund niedergelassen hatte. »Die Geschichte um Andreas Kalskis Verschwinden ist so lange her, ich hätte nicht gedacht, dass sich heute noch jemand dafür interessiert.« Er rieb sich das glatt rasierte Kinn und setzte eine nachdenkliche Miene auf, als müsste er sich die vergangenen Ereignisse in Erinnerung rufen.

»Warum waren Sie damals so hartnäckig an diesem Fall dran?«, fragte ich.

»Ich war neu in der Branche und dachte, wenn ich den Vermisstenfall aufkläre, könnte das mein Sprungbrett hin zu einer der ganz großen Tageszeitungen sein.« Er lächelte matt. »War es nicht, denn ich habe nichts herausgefunden. Ich dachte, irgendwann würde sich vielleicht doch noch eine Spur ergeben, weil jemand unvorsichtig wurde, sich verplapperte oder etwas in der Art. Aber es verlief alles im Sand.«

»Was ist Ihrer Meinung nach mit Andreas Kalski passiert?«

»Ganz ehrlich? Ich glaube, er ist einfach abgehauen. Seinen Freunden gegenüber soll er oft davon gesprochen haben, eines Tages ins Ausland zu gehen. Und verschiedene Augenzeugen wollten ihn am Tag seines Verschwindens als Anhalter an der Straße in Richtung Emden stehen gesehen haben. Am dortigen Bahnhof verliert sich seine Spur.«

»Petra Ulferts sagte mir, Sie hätten die alten Zeitungsberichte und Ihre Notizen von damals aufbewahrt. Dürfte ich sie mir vielleicht einmal ansehen?«

»Ja, natürlich. Moment.« Er erhob sich. »Jacky, unterhalte du unseren Gast, während ich die Unterlagen hole.« Er verließ die Küche, ich hörte ihn die Treppe hochrumpeln.

Der Hund war nicht gerade der geborene Unterhalter, denn er bedachte mich nur mit einem gelangweilten Blick und entsandte einen leisen Furz in den Raum. Kurze Zeit später kehrte sein Herrchen mit einem braunen Archivkarton zurück.

Er nahm ein Notizbuch heraus und blätterte darin. »Hier haben wir schon mal die wesentlichen Eckdaten. Der Vermisste war zum Zeitpunkt seines Verschwindens dreiundzwanzig Jahre alt, etwa einen Meter fünfundachtzig groß, schlank, hatte braune Augen und schulterlange blonde Haare. Am einundzwanzigsten August – also dem Tag seines Verschwindens, einem Montag – trug er eine blaue Jeans und ein auffälliges gelbes T-Shirt mit Sternendruck auf der Vorderseite. Gelbe T-Shirts waren sein Markenzeichen. Dazu trug er weiße Turnschuhe.«

Er schob mir den Karton zu. »Sehen Sie selbst. Sie können sich die Unterlagen auch gerne ausleihen, ich habe mir geschworen, die Finger davon zu lassen.«

»Warum?«

»Ich habe schon zu viel Lebenszeit damit vergeudet, es gibt ja doch nichts Neues mehr in dem Fall. Von Zeit zu Zeit habe ich die Geschichte wieder ausgegraben, etwa wenn ein runder Jahrestag seines Verschwindens anstand, aber ergeben hat sich da nichts mehr.«

Ich blätterte in einem der Ordner, während ich die obligatorischen drei Tassen Tee trank, und öffnete schließlich einen Umschlag, in dem sich Fotos des Vermissten und seiner Freunde befanden. Auf fast jedem war er mit einer Frau im Arm zu sehen, außerdem mit Männern, die ihm bewundernde und teils neidische Blicke zuwarfen.

Auf einem der Fotos entdeckte ich etwas, das mich den Atem anhalten ließ. Ein Pärchen im Vordergrund lächelte in die Kamera, im Hintergrund beugte sich Andreas Kalski zu einer jungen Frau und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er trug eines seiner typischen gelben T-Shirts. Die Frau lächelte verliebt.

»Wer hat Ihnen dieses Foto gegeben?« Mit zitternder Hand hielt ich ihm den Abzug entgegen.

»Andreas Kalskis bester Freund, Frank Heykes. Das ist der, der mit seiner Freundin im Vordergrund zu sehen ist. Die Namen der abgebildeten Personen müssten auf der Rückseite stehen. Ich habe sämtliche Namen notiert, sofern sie mir bekannt waren.«

Ich drehte das Foto um, und mein Verdacht bestätigte sich.

»Schneidiger Kerl, der Frank. Groß, schlank, lange Haare.« Fabricius geriet regelrecht ins Schwärmen. »Die Mädels waren nach ihm genauso verrückt wie nach Andreas.«

Ich bedankte mich und machte mich zum Aufbruch bereit.

»Sie wollen schon gehen?« Er betrachtete mich mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck.

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einen Termin habe«, log ich.

Fabricius und sein Hund begleiteten mich zur Tür. »Es hat Spaß gemacht, mal wieder in Erinnerungen zu schwelgen. Sie halten mich doch auf dem Laufenden, Elli? Schauen Sie ruhig jederzeit vorbei, wenn Sie Fragen haben.«

»Danke, das werde ich machen.« Ich hastete zum Auto, stellte den Karton auf den Beifahrersitz und ließ mich hinter das Lenkrad fallen. Ich lehnte mich zurück und atmete ein paarmal tief durch, dann betrachtete ich das Foto erneut.

Unmöglich, dass ich mich jetzt noch aus dem Vermisstenfall heraushalten konnte. Immerhin kannte ich die Frau neben Andreas Kalski nur zu gut.

Es war meine Mutter.

Der falsche Friese

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