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Das Klingeln meines Handys riss mich aus dem Schlaf. Ein Blick auf das Display sagte mir erstens, dass Diana anrief, und zweitens, dass es schon kurz nach zehn war. Ich hatte die halbe Nacht vor dem PC verbracht und über Andreas Kalski recherchiert; die Ähnlichkeit zwischen ihm und meinem früheren Schwarm Sebastian hatte mich in einen Zustand mittelschwerer Besessenheit versetzt.

»Du musst unbedingt sofort zum Marktplatz kommen«, sagte Diana ohne eine Begrüßung.

»Ist was passiert?«

»Bruno hat gleich einen Auftritt. Bist du dabei?«

»Ich fürchte, ich habe keine Zeit. Ich muss noch die Wohnung aufräumen.«

»Als ob du das freiwillig machen würdest. Ich warte hier am Kugelbrunnen auf dich. Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch pünktlich zur Vorstellung. Bring etwas Kleingeld mit für Brunos Sammeldose. Die Touris werfen eher was ein, wenn schon jemand den Anfang gemacht hat.«

Beim Gedanken, mir erneut den Auftritt ihres Clowns anzusehen, hätte ich mir auch am liebsten etwas eingeworfen. Ich beendete das Gespräch und schrieb Alexa eine Nachricht, in der ich sie aufforderte, ebenfalls zum Kugelbrunnen zu kommen, da ich bei Brunos Show ihren seelischen Beistand brauchte. Als Antwort schickte sie mir die Emojis der drei Affen, die sich Augen, Ohren und den Mund zuhielten.

Genau das war auch mein Gedanke. Aber ich kam aus der Nummer nicht raus, und ich kannte Alexa. Sie würde mich nicht hängen lassen.

Alexa saß bereits am Kugelbrunnen, als ich dort eintraf. Wie es aussah, war sie aus dem Kontaktzentrum herübermarschiert, und ihre vor Aufregung geröteten Wangen und glänzenden Augen verrieten mir, dass sie sich dort wieder mit Henry getroffen hatte.

Ich setzte mich neben sie auf die Stufe und sah kopfschüttelnd zu Diana, die wie ein verliebter Teenager um den überfordert wirkenden Bruno herumwuselte.

»Wenn man ihn sich so ansieht, möchte man kaum glauben, dass ausgerechnet dieses Erbgut das Gewinnerspermium war, oder?«

»Vielleicht bist du voreingenommen, weil er ein Clown ist. Ich habe ihn schon häufiger hier in der Fußgängerzone getroffen, eigentlich ist er ganz nett.«

»Hast du ihn schon mal ohne die ganze Schminke gesehen? Ich kenne ihn nur in seinem Clownskostüm.«

»Ich kenne ihn auch nur als Clown. Glaube ich zumindest. Vielleicht ist er mir schon mal ungeschminkt über den Weg gelaufen, und ich habe ihn bloß nicht erkannt. Wie geht es denn mit deinem ersten Artikel für den Ostfriesland-Reporter voran? Komme ich gut dabei weg?«

»Das kannst du mir gleich selbst sagen.« Ich reichte ihr einen Ausdruck des Textes, den ich in der vergangenen Nacht noch in den Laptop gehämmert hatte.

»Schon fertig? Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?« Alexa nahm die Seiten entgegen und las, was ich geschrieben hatte. Sie korrigierte drei Tippfehler und ergänzte zwei Sätze. »Wenn du das noch änderst, bin ich zufrieden.«

Ich rieb mir mit den Händen über das Gesicht. »Ich habe tatsächlich kaum geschlafen, zuerst war ich mit einer Internetrecherche beschäftigt, dann habe ich den Artikel geschrieben, um mich abzulenken.«

Alexa winkte ab. »Das Tückische an Internetrecherchen ist doch, dass man mit einem bestimmten Thema anfängt und irgendwann bei diesen süßen Katzenvideos landet. Geht mir immer so. Aber warum hast du denn noch extra über mich recherchiert?«

»Nicht über dich. Ich habe mich mit Andreas Kalski beschäftigt. Was weißt du über ihn?«

»Ich habe mich hauptsächlich mit der Arbeit seiner Mutter auseinandergesetzt, von ihm weiß ich nur, dass er ein Weiberheld gewesen sein soll.«

»Bei seinem Aussehen wundert mich das nicht.« Ich zog den Zeitungsartikel, den ich letzte Nacht während meiner Recherche ausgedruckt hatte, aus der Handtasche und deutete auf das darin abgebildete Foto. »Fällt dir was auf?«

Alexa erkannte sofort, worauf ich hinauswollte. »Auweia, der sieht ja genauso aus wie Sebastian.«

»Verstehst du jetzt, warum ich kein Auge zubekommen habe?«

Diana trabte zu uns herüber. »Meine Güte, ich sterbe fast vor Aufregung.«

»Warum? Du bist doch nicht diejenige, die auftreten muss«, sagte ich.

»Aber ich animiere das Publikum. Versprecht mir, dass ihr mitmacht, wenn ich euch dazu auffordere, ja?«

»Versprochen«, sagte Alexa.

Ehe ich einwenden konnte, dass ich für einen Clown definitiv kein derartiges Versprechen abgeben würde, huschte Diana davon, stellte einen kabellosen CD-Player auf den Boden und drückte die Play-Taste. Wieder mal der Ententanz.

Ein paar sonntägliche Spaziergänger blieben bei den ersten Klängen der Musik interessiert stehen, ein junges Pärchen, etwa in den Zwanzigern, gesellte sich zu uns auf die Stufe. Die Gäste des Eiscafés nebenan wandten ihre Köpfe in unsere Richtung. Bruno hopste aus dem Zugang zur Tiefgarage, heute trug er eine rote Perücke. Er führte den Tanz mit übertriebenen Bewegungen auf, einige Zuschauer taten es ihm nach und lachten.

Diana gab mir ein Zeichen und deutete auf einen Hut, den sie vor Bruno auf den Boden gelegt hatte. Seufzend stand ich auf und warf ein paar Zwanzig-Cent-Stücke hinein, dann kehrte ich zu Alexa zurück, die sich erhoben hatte und mit zusammengedrückten Knien eine watschelnde Ente imitierte.

Ich bedachte sie mit einem strengen Blick und setzte mich wieder auf die Stufe. »Verglichen mit Bruno war Wilbert ein richtiger Glücksgriff. Mir war sein Michael-Jackson-Tanz jedenfalls lieber als das Gehopse hier. Für ihn mussten wir uns nicht in der Öffentlichkeit zum Affen machen.«

Bruno verbeugte sich vor Diana, wobei seine rote Clownsnase herunterrutschte und über den Boden kullerte. Sie hob sie auf, und Bruno bedeutete ihr, sie wieder an seinem Naturzinken zu befestigen. Als Diana das tat, gab die Nase ein Tuten von sich. Alexa und ich tauschten einen peinlich berührten Blick.

Am Ende der Show konnte ich es kaum erwarten, von hier wegzukommen. Ich kämpfte mich auf die Füße. Mein Hintern fühlte sich vom Sitzen auf der harten Betonstufe taub an.

»Diana!«

Im Tiefgaragenzugang stand Wilbert, Dianas Verflossener. Seine schwammige Gestalt steckte in weiten Klamotten, die aussahen, als wären sie einem Hip-Hop-Video aus den Neunzigern entsprungen, ein Basecap saß schief auf seinem Schädel. Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und startete einen Musiktitel. Immerhin handelte es sich dabei nicht um den Ententanz, das gab schon mal einen Pluspunkt für Wilbert.

Ein blecherner Rap ertönte, die Handylautsprecher kamen kaum gegen die Umgebungsgeräusche an. Wilbert hopste von einem Bein auf das andere und drehte sich um die eigene Achse, dann legte er sich auf den Rücken und zappelte mit den Füßen in der Luft herum wie ein Käfer, der nicht wieder auf die Beine kam.

Diana trippelte zu uns herüber. »Dass Wilbert aber auch einfach nicht loslassen kann! Er weiß genau, wie sehr mich das anmacht.« Sie seufzte. »Bewegt er sich nicht einfach großartig?«

Konnte ich nicht behaupten. Für mich sah es eher so aus, als würde ein Waldorfschüler eine Beleidigung tanzen.

Diana schüttelte ihren Lockenkopf. »Ich muss hier weg. Wenn ich noch länger in Wilberts Nähe bleibe, geht es mit mir durch.« Sie griff nach Brunos CD-Player und rauschte davon.

Wilbert schlenderte zu uns herüber, sein rundes Gesicht glühte vor Anstrengung. Er nahm die Mütze ab und präsentierte seine glänzende Halbglatze. »Ist Diana mit diesem Clown zusammen?«

»Ja, aber erst seit ein paar Tagen.« Ich wollte ihm durch die Blume zu verstehen geben, dass er Diana noch nicht aufgeben sollte – irgendjemand musste uns schließlich von diesem Clown erlösen.

Wilbert stemmte die Hände in seine füllige Körpermitte und nickte anerkennend. »Der hat’s einfach drauf, dagegen komme ich nicht an.« Er steckte sein Handy ein und verschwand in Richtung Tiefgarage.

Nach diesem Auftritt hätte ich ein Bier vertragen können, aber da es gerade erst Mittag war und ich noch nichts gegessen hatte, setzten wir uns ins nächste Café, und ich bestellte Cappuccino und Muffins. Auch Diana gesellte sich wieder zu uns. Alexa verzichtete auf die Zuckerbomben und orderte stattdessen einen Kräutertee. Sie achtet sehr auf ihre Ernährung, aber ich für meinen Teil finde, dass Cappuccino und Muffins ein prima Frühstücksersatz sind.

Wir kamen auf meinen neuen Job zu sprechen, und ich erzählte Diana, was sich seit meinem gestrigen Aufbruch zum Ostfriesland-Reporter alles ereignet hatte.

»Zeig mir mal ein Foto von dem Kalski«, sagte sie.

Ich kramte den Zeitungsartikel hervor und reichte ihn ihr.

»Wahnsinn!« Dianas Augen wurden riesengroß. »Er und Sebastian könnten eineiige Zwillinge sein.«

»Eher Vater und Sohn«, gab ich zu bedenken. »Wobei ich auch das für unwahrscheinlich halte. Andreas Kalski verschwand vor gut vierzig Jahren, Sebastian ist erst Mitte dreißig. Es ist natürlich möglich, dass seine Mutter Andreas ins Ausland folgte und dort von ihm schwanger wurde, aber das bleibt eine rein theoretische Überlegung. Fragen kann ich sie jedenfalls nicht mehr, sie ist vor einigen Jahren gestorben.«

»Zumindest kann ich jetzt verstehen, warum dir die Sache keine Ruhe lässt. Es ist ja fast so, als würdest du versuchen, Sebastian aufzuspüren.«

Da konnte man mal wieder sehen, dass Friseurinnen eigentlich auch nur mit Kamm und Schere bewaffnete Psychologinnen waren. Vermutlich ist das eine Begleiterscheinung, wenn man sich tagtäglich die verschiedensten Lebens- und Leidensgeschichten seiner Kunden anhören muss.

»Ich hatte bis gestern gar nicht vor, in der Sache noch was zu unternehmen, aber jetzt … Ich wünschte, ich hätte diese blöde Internetrecherche nicht gestartet und das Foto nie gesehen. Zudem habe ich keine Ahnung, wo ich noch suchen soll, die frei zugänglichen Artikel im Internet habe ich alle abgegrast.«

Diana lachte. »Jetzt stehst du aber ganz schön auf dem Schlauch. Du sitzt doch direkt an der Quelle. Den Ostfriesland-Reporter gibt es seit Jahrzehnten, bestimmt findest du in den Archiven noch Unmengen an Informationen.«

Keine schlechte Idee. Ich wollte morgen ohnehin den Artikel über Alexa abgeben, da konnte ich das gleich miteinander verbinden.

Wir kamen auf die Hochzeit meiner Eltern zu sprechen, zu der Diana und Alexa natürlich auch eingeladen waren. Diana als meine langjährige Freundin, und bei Alexa war die Sache verwandtschaftsbedingt sowieso klar. Ich beichtete den beiden meine Notlüge in Kleiderfragen und gestand, dass ich bislang kein Kleid gefunden hatte, auf das meine Beschreibung zutraf.

»Ich kenne da einen Onlineshop, bei dem bekommst du alles. Du kannst sogar nach deinen Maßen bestellen, und die fertigen es für dich an.«

Diana gab mir die Internetadresse, und ich verabschiedete mich. Ich hatte das leidige Kleiderthema viel zu lange aufgeschoben, es wurde Zeit, sich der Herausforderung zu stellen.

Der Tipp mit dem Onlineshop erwies sich als absoluter Glücksgriff, ich fand ein graublaues, mittellanges Kleid mit mittellangen Ärmeln. Perfekt. Ich ermittelte meine Körpermaße, stellte fest, dass das Maßband beim letzten Frost im Winter irgendwie eingegangen sein musste, und tippte die Daten für die Bestellung ein.

Dann telefonierte ich mit Phil, der mir keine Neuigkeiten bezüglich Andreas Kalski mitteilen konnte, da sein ehemaliger Kollege Stefan, den er hatte fragen wollen, dieses Wochenende freihatte.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch vor dem großen Wohnzimmerfenster und überarbeitete meinen Artikel über Alexa. Zwischendurch blickte ich auf und sah durch die Scheibe zu den nahe gelegenen Blockbauten hinüber. Roter Backstein, graue Balkone, teilweise mit Grünspan überzogen. Auf einigen hing bunte Wäsche auf Wäscheständern, auf anderen boten Sonnenschirme Schutz vor der Frühlingssonne, wiederum andere schauten einfach leer und trostlos zu mir zurück.

Ich beendete mein Tagwerk, nahm mir ein Feierabendbier aus dem Kühlschrank, setzte mich zu O’Malley aufs Sofa und legte die Füße hoch. Momentan lief alles mit. Okay, abgesehen von Dianas Clown. Aber ich hatte ein Kleid für die Hochzeit gefunden, stand wieder in Lohn und Brot, und meine Mutter würde sich auch bald wieder berappeln, wenn ihr Standesbeamter aus dem Krankenhaus entlassen wurde und der Hochzeit nichts mehr im Wege stand. Irgendwie fügt sich eben doch immer alles zum Guten.

Dachte ich.

Der falsche Friese

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