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Das Haus meiner Eltern liegt in Ostgroßefehn, und zwar direkt am Fehnkanal, unweit einer der typischen weißen Klappbrücken. Ich parkte meinen altersschwachen Golf auf der Auffahrt und stiefelte zur Haustür, wobei ich mir das Hirn zermarterte, wie ich meiner Mutter die Nachricht von Hans Lemkes Zusammenbruch möglichst schonend beibringen konnte. Die beiden kannten sich seit ihrer Jugend und hatten es geschafft, ihre Freundschaft auch nach der Schulzeit während ihres Erwachsenenlebens aufrechtzuerhalten, daher war es für meine Mutter selbstverständlich, dass nur er die Trauung vornehmen durfte.

Die Tür schwang auf, bevor ich den Klingelknopf drücken konnte.

»Komm rein, Eleonore. Schön, dass du da bist.«

Ich folgte meiner Mutter in die Küche. Sie ließ sich ermattet auf einen Stuhl plumpsen, und ich setzte mich ihr gegenüber an den Esstisch. Ich wollte gerade mit der Neuigkeit rausplatzen, als sie mich unterbrach.

»Ich habe schon gehört, was passiert ist. Hans und ich waren heute Mittag verabredet. Ich habe eine ganze Zeit im Café gesessen und auf ihn gewartet, ehe er mich schließlich anrief und mir von seinem Herzanfall erzählte.«

»Dann geht es ihm wieder besser?«

»Den Umständen entsprechend. Er hat seit Langem Herzprobleme, das war nicht sein erster Kollaps. In ein paar Tagen ist er wieder auf den Beinen.«

»Also findet eure Hochzeit wie geplant statt?«

Sie seufzte. »Das tut sie.«

Ich musterte meine Mutter, die so gar nicht der Vorstellung entsprach, die ich von einer vorfreudigen Braut hatte. Ihre Bewegungen wirkten fahrig, und auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. Ihr brauner Fransenschnitt schien jegliche Spannkraft verloren zu haben, schlaff und kraftlos hingen ihr die Strähnen in die Stirn.

»Freust du dich gar nicht darauf?«, fragte ich vorsichtig.

»Doch, schon. Irgendwie.« Sie mied meinen Blick. »Aber meine Vorfreude wird gerade ganz schön auf die Probe gestellt.«

»Inwiefern?«

»Ach, in letzter Zeit habe ich dauernd Pech. Ständig fällt mir was runter, oder ich stoße mich. Größere Dinge gehen oft von ganz allein kaputt.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern.

Ich erinnerte mich, dass sie mir vor einigen Wochen schon mal von ihrer derzeitigen Pechsträhne erzählt hatte. Missgeschicke, die meist glimpflich endeten. »Du bist sicher nur nervös.«

»Möglich. Aber es sind auch Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. Als ich zum Beispiel gestern Morgen zur Arbeit fahren wollte, ist mir vor der Haustür fast ein loser Dachziegel auf den Kopf gefallen, ich konnte gerade noch zur Seite springen. Auf der Rückfahrt abends habe ich mich gewundert, dass das Auto so komisch fährt. Zu Hause habe ich dann mehrere Schrauben in den Hinterreifen entdeckt, und zwar an beiden Seiten. Ist das nicht seltsam? Und das war ja nicht das erste Mal. Schon im Dezember mussten wir einen Reifen wechseln lassen, weil eine Schraube drinsteckte. Das sind keine guten Vorzeichen für die Hochzeit.«

»Diese Vorfälle haben wohl kaum etwas mit der Hochzeit zu tun. Du hattest außerdem jedes Mal Glück im Unglück, das ist doch ein gutes Zeichen.« Als derzeit einziges von drei Kindern meiner Eltern vor Ort – meine Schwester Victoria lebt in Frankfurt und mein Bruder Michael hat sich mit seiner Modelfrau und den beiden gemeinsamen Töchtern in der Schweiz niedergelassen – bestand meine Aufgabe als jüngste Tochter darin, meine Eltern in sämtlichen Hochzeitsangelegenheiten zu unterstützen, bis meine Geschwister ankamen. Diesen Job nahm ich ernst, auch wenn ich mit dem ganzen Hochzeitstrubel nicht viel am Hut hatte.

»Dann würde mich nur mal interessieren, warum diese Dinge erst seit der Verlobung passieren. Aber lassen wir das. Was für ein Kleid hast du dir eigentlich für die Hochzeit besorgt, Eleonore?«

»Zur standesamtlichen Trauung ziehe ich mein kleines Schwarzes an.« Ich hatte es mir schon vor Jahren gekauft, zu deutlich schlankeren Zeiten. Damals musste ich es noch enger nähen lassen, diese Nähte hatte ich inzwischen wieder aufgetrennt. Wenn ich meine Atmung während der Trauung auf das Nötigste beschränkte, müsste es passen. Ich hatte versucht, die acht Kilo, die ich seit meiner Rauchentwöhnung zugenommen hatte, wieder loszuwerden, und jetzt, einige Monate später, fehlten mir noch elf Kilo bis zu diesem Ziel.

»Und wie sieht dein Kleid für die große Saalfeier aus?«

Tja, gute Frage, denn ehrlich gesagt besaß ich ein solches Kleid bislang nur in meiner Phantasie. »Es ist grau … oder eher blau. Graublau.«

»Sehr schön. Was für Ärmel?« Sie blickte mich mit leuchtenden Augen an, und mein schlechtes Gewissen meldete sich.

»Mittel.«

»Und die Länge?«

»Auch.«

Ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ich freue mich schon auf meine herausgeputzten Kinder, schließlich ist das auch euer großer Auftritt.«

Auf den ich mich ungefähr so sehr freute wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. In meiner derzeitigen Form taugte ich höchstens als schlechtes Beispiel für einen Vorher-Nachher-Vergleich, wie sie häufig auf Plakaten vor Fitnessstudios zu finden sind. Neben meiner Schwester, die ihre Feierabende in der Muckibude verstrampelt, und der Modelfrau meines Bruders würde ich wie ein Ork im Abendkleid rüberkommen.

»Ich habe übrigens einen neuen Job«, sagte ich, um vom Kleiderthema abzulenken, und erzählte ihr, wie es dazu gekommen war. »Mein erster Artikel handelt von Alexa. Eigentlich wollte ich zunächst über Violetta Kalski schreiben, aber daraus wird leider nichts. Sie war mal eine ganz große Nummer in der Kunstszene. Kennst du sie?«

Meine Mutter stand auf, nahm einen Lappen aus der Spüle und wischte damit einen Kaffeefleck vom Tisch. »Keine Ahnung, ich glaube nicht.«

»Ihr Sohn Andreas ist vor vierzig Jahren spurlos verschwunden, die Sache hat wohl ziemliches Aufsehen erregt und war längere Zeit in den Medien.«

»Wirklich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Alexa ist bestimmt sowieso die bessere Wahl, sie ist jung und modern, das wird deine Leser sicherlich mehr interessieren als eine alte Frau, die vor Jahrzehnten mal bekannt war. Wie geht es eigentlich Phil? Ich hoffe, es bleibt dabei, dass er für die Hochzeit Urlaub nehmen kann.«

»Keine Sorge, das klappt. Er kommt am Freitag an und bleibt für drei Wochen.«

»Wohnt er in der Zeit bei dir?«

»Nein, er nimmt sich eine Ferienwohnung in Tannenhausen am Badesee.«

Ich hatte Phil angeboten, die drei Wochen bei mir zu verbringen, doch meine Erleichterung, als er diesen Vorschlag ablehnte, kann ich kaum in Worte fassen. Ich mochte ihn wirklich sehr, liebte ihn vielleicht sogar, aber die Vorstellung, rund um die Uhr mit ihm zusammen zu sein, versetzte mich in Panik. Phil ist echt ein toller Typ – mit einigen Eigenarten, von denen ich nicht weiß, ob ich damit leben kann. Bei meinem letzten Besuch in München habe ich ihn zum Beispiel dabei beobachtet, wie er seine Schokoriegel in den Kühlschrank legte. Das macht man doch nicht! Seitdem fragte ich mich, welche dunklen Seiten er noch vor mir verbarg.

Ich sah auf die Uhr und erschrak, ich musste dringend nach Hause. Außer einem Telefonat mit dem wahrscheinlich heißesten Polizisten der Welt wartete schließlich noch ein anderes männliches Geschöpf auf mich. Ein hungriges. Und wenn es nichts zu fressen bekam, wurde es unausstehlich.

O’Malley erwartete mich bereits, als ich aus dem Auto stieg. Er saß auf der Fußmatte vor meiner Wohnungstür, zwischen seinen Pfoten lag eine tote Ratte. Ich nahm die Schaufel, die griffbereit neben dem Eingang lehnte, und entsorgte den Langschwanz in der Biotonne meines Nachbarn, der mich nachts gern mit seiner Dolby-Anlage beschallt. Es lohnte sich nicht, die Schaufel wieder in den kleinen Geräteraum zurückzustellen, da O’Malley mir mindestens jeden zweiten Tag eine Ratte brachte. Fand er keine, brachte er zum Ausgleich drei Mäuse.

Das Haus, in dem ich lebe, steht in Aurichs Multikulti-Viertel und ist in vier Wohneinheiten unterteilt. Meine Wohnung liegt im Erdgeschoss, sie hat nur ein Wohnzimmer, eine Küche, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer zu bieten, außerdem einen winzigen Garten. Für mich reicht es. Und für O’Malley sowieso. Er braucht nicht viel Platz für Kratzbäume und Spielzeug, am glücklichsten ist er, wenn ich ihm ein Loch in einen Pappkarton schneide.

In seltenen Fällen wohne ich in Alexas Gästezimmer in Greetsiel, aber das passiert nur, wenn ich frisch getrennt bin oder mich mit durchgeknallten Mördern anlege, und auf beides konnte ich momentan gut verzichten.

Nachdem ich O’Malley gefüttert hatte, setzte ich mich aufs Sofa und startete meinen Laptop, um mit dem Artikel über Alexa zu beginnen. Da das Geheimnis um Violetta Kalskis verschwundenen Sohn mich aber nach wie vor interessierte, gab ich zuerst ihren Namen in die Suchmaschine ein. Wenn ich auch keinen Artikel über sie schreiben durfte, so wollte ich doch wissen, mit wem ich es zu tun gehabt hatte. Ich las gerade den Wikipedia-Eintrag über sie, als mein Handy klingelte. Phils Name blinkte im Display auf, und ich nahm das Gespräch an.

»Wie geht es meiner Lieblingsautorin?«

»Befindet sich im Hochzeitsstress und versucht, die Braut davon abzuhalten, einen Rückzieher zu machen.« Ich berichtete ihm von Hans Lemke.

»Lass mich raten«, sagte Phil kurz vor Ende meiner Ausführungen. »Du hast ihm durch Mund-zu-Mund-Beatmung das Leben gerettet. Willst du mich eifersüchtig machen?«

»Ich habe ihn nicht beatmet. Eigentlich habe ich kaum etwas gemacht, weil der Krankenwagen so schnell da war.« Ich schnaubte, als mir der Auftritt von Dianas neuem Freund wieder einfiel. »Vielleicht hat der Clown ihm ja Glück gebracht.«

Phil stockte. »Was hat dich denn freiwillig in die Nähe eines Clowns verschlagen? Ich dachte, du hasst Clowns.«

»Aus tiefstem Herzen. Aber Diana hat sich in einen verliebt, Bruno heißt er. Und du kennst ja ihren Männergeschmack.«

»Hast du dich den ganzen Tag nur mit halb toten Standesbeamten und Clowns herumgeschlagen?«

»Nein, seit heute Nachmittag bin ich außerdem Gastautorin beim Ostfriesland-Reporter. Ich soll eine Artikelserie für die Samstagsausgabe schreiben.«

»Klingt nicht schlecht. Über welches Thema?«

»Wenn es nach Martin Jäger ginge, über meine liebsten Sexualpraktiken.«

»Die sind mir bekannt.« Seine Stimme wurde eine Nuance dunkler, und ich war mir sicher, dass er soeben sein typisches schiefes Lächeln aufgesetzt hatte. »Bei deiner weiterführenden Recherche kann ich dich aber gern unterstützen, sobald ich wieder im Lande bin.«

Ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus, und ich hatte Mühe, den Gesprächsfaden wiederzufinden. »Das Thema habe ich abgelehnt. Ich schreibe jetzt über bekannte Persönlichkeiten der Region. Kennst du eine Violetta Kalski?«

»Nie gehört.«

»Sie war früher eine bekannte Künstlerin. Ich habe sie heute mit Alexa in einem Altersheim in Norddeich aufgesucht.«

»Warum schreibst du nicht einfach über Alexa? Sie ist doch auch Künstlerin.«

»Das mache ich, die Kalski hat mir nämlich eine Abfuhr erteilt. Dabei hätte sie wirklich gut gepasst. Du kennst ja den Ostfriesland-Reporter, da sind pikante Themen an der Tagesordnung. Und Violetta Kalski war früher nicht nur unglaublich attraktiv, sie hatte auch enge Kontakte zur Rotlichtszene in Hamburg. Ihren Sohn Andreas zog sie allein groß, keiner weiß, wer der Vater war. Mit Anfang zwanzig ist er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden.«

»Gab es Hinweise auf ein Verbrechen?«

»Da gehen die Meinungen auseinander. Sie glaubt und glaubte wohl schon damals, dass ihr Sohn tot ist, aber die allgemeine Ansicht ist die, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat. Davon ging wohl auch die Polizei aus, es wurden nämlich keine ausführlicheren Ermittlungen eingeleitet.«

»Soll ich mal bei meinen Kollegen in Aurich nachhaken, ob sich in dem Fall im Laufe der Jahre was ergeben hat? Meine Verbindungen sind immer noch sehr gut.«

»Danke, aber das ist nicht nötig. Schließlich schreibe ich nun doch nicht über sie.«

Während wir uns unterhielten, gab ich Andreas Kalskis Namen in die Suchmaschine ein. Alte Zeitungsberichte und Nachrichtenvideos tauchten auf, in sämtlichen Medien war über das Verschwinden des berühmten Künstlersohns berichtet worden. Mein Blick fiel auf ein Foto des Vermissten, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich klickte auf das Bild, um es zu vergrößern.

Violetta Kalskis Sohn hatte große Ähnlichkeit mit einer Person, die ich kannte. Einer Person, die ebenfalls verschwunden war. Nur nicht vor vierzig Jahren, sondern erst vor ein paar Monaten.

»Elli, bist du noch dran?«

Ich räusperte mich, konnte das Kratzen aus meiner Stimme aber nicht vertreiben. »Entschuldige. Mir fällt da gerade was ein. Kannst du deine Auricher Kollegen bitte doch mal auf den Kalski-Fall ansetzen?«

»Woher der plötzliche Sinneswandel?«

»Ist nur so eine Idee.« Wie hypnotisiert starrte ich auf das Foto, das einen blonden Mann mit schulterlangem Haar und schokoladenbraunen Augen zeigte.

Wäre die Aufnahme aktuell gewesen, hätte Andreas Kalski der Zwillingsbruder von Sebastian Beck sein können.

Der falsche Friese

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