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Madame Cassandra lebte in einer hellblauen Villa mit weiß umrahmten Fenstern in der Nähe der Stiftsmühle in Aurich. Ich war unangemeldet aufgetaucht, aber wenn sie wirklich hellseherische Fähigkeiten hatte, würde sie mich ohnehin erwarten.

Die Wahrsagerin entpuppte sich als stämmige Frau im hohen Rentenalter mit struppigen, schwarz gefärbten Haaren und blassem Teint. Ihre Augen waren dick mit Kajal umrandet, und sie schielte. Sie trug ein selbst gemachtes Batikshirt, ich erinnerte mich, so etwas auch mal gemacht zu haben, aber das war in einem Schulprojekt in der siebten Klasse gewesen.

»Guten Tag. Ich heiße Elli Vogel. Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über die Vergangenheit sprechen möchte.«

»Tritt ein.« Madame Cassandra sprach langsam und mit rauchiger Stimme, so als wollte sie besonders geheimnisvoll wirken, wohl um ihr Batikshirt zu kompensieren.

Ich trat ein und sah mich um. Ihr Haus wirkte ganz und gar nicht übersinnlich. Motivtapeten zierten die Wände, auf dem Parkettfußboden lagen flauschige Läufer. Ich folgte Madame Cassandra, die mit eigenartig federnden Schritten vor mir herging, den Flur entlang, ihr buschiges Haar wippte bei jedem Schritt, als habe es Mühe, sich mit der Schwerkraft abzufinden.

Sie öffnete eine Tür und ließ mir den Vortritt. »Willkommen im Raum der Erkenntnis.«

»Oh, wow!« Ich wusste vor lauter Kuriositäten nicht, wohin ich zuerst blicken sollte. Aus einem Regal an der rechten Zimmerseite starrte mir ein Schrumpfkopf entgegen. Ich hoffte inständig, dass es sich um ein albernes Souvenir und nicht um einen echten handelte. Außerdem beinhaltete das Regal Unmengen an getrockneten Kräutern, daneben vegetierten undefinierbare Gebilde in verstaubten Einmachgläsern vor sich hin. Ein Fenster, das von dunkelblauen Vorhängen gesäumt wurde, erlaubte einen Blick nach draußen in die Wirklichkeit, umrahmt von unzähligen Traumfängern. Auf einem runden Tisch stand eine Kristallkugel, ein penetranter Patschuligeruch hing im Raum, der von einem abgebrannten Räucherstäbchen in einer Zimmerecke herrührte.

Madame Cassandra wies mir einen Stuhl an dem runden Tisch zu und setzte sich mir gegenüber. Es gefiel mir ganz und gar nicht, dass ich von hier aus den Schrumpfkopf genau im Blick hatte. Obwohl seine Augen geschlossen waren, fühlte ich mich von ihm beobachtet. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken.

Die Wahrsagerin richtete ihren Silberblick auf mich. »Was begehrst du zu erfahren?«

»Sollten Sie das nicht bereits wissen?«

Sie schielte jetzt noch ein wenig mehr, mit einer unwirschen Geste warf sie ihr Haar über die Schulter und seufzte. »Eine Skeptikerin. Das habe ich gleich erkannt. Wenn du deinen Geist verschließt, kann ich dir nicht helfen. Du musst mich deine Energien spüren lassen.« Sie streckte die Arme aus, bis sie mein Gesicht fast mit den Fingern berührte, so als wollte sie mir die Energien direkt aus dem Schädel ziehen.

Ich lehnte mich zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. »Ich bin nicht hier, um etwas über mich zu erfahren, sondern weil ich wissen möchte, was Andreas Kalski vor vierzig Jahren widerfahren ist. Seine Mutter hat mir erzählt, dass sie damals mit Ihnen über ihren Sohn gesprochen hat.« Dass sie mich bei dieser Gelegenheit davongejagt und mir verboten hatte, mich weiter mit dem Fall zu beschäftigen, verschwieg ich lieber. Käme bestimmt nicht gut an.

»Sein Verschwinden liegt lange zurück.«

Ich nickte. »Haben Sie eine Ahnung, was mit ihm passiert ist?«

»Allerdings.« Madame Cassandra lehnte sich mit ernstem Gesichtsausdruck gegen die Rückenlehne ihres Stuhls. »Er ist gestorben.« Sie hob die Schultern, als sei das eine ganz logische Schlussfolgerung.

»Warum sind Sie sich da so sicher?«

»Weil ich mit seinem Geist gesprochen habe. Wenige Wochen nach seinem Verschwinden.«

Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augenbrauen in Richtung Haaransatz wanderten. »Aha. Und was hat sein Geist Ihnen mitgeteilt? Wie ist er gestorben?« Ich glaubte zwar nicht eine Silbe von dem, was sie mir da auftischte, aber ihre Theorie zu seinem Ableben interessierte mich doch.

»Das konnte er mir nicht sagen. Sein Tod trat völlig unerwartet ein, er hat ihn nicht kommen sehen.«

Ich hätte Wahrsagerin werden sollen. So ein Geistergespräch konnte ich mir auch noch aus den Fingern saugen und damit trauernde Angehörige um ihr sauer verdientes Geld bringen. »Dann hat er Ihnen wohl auch nicht gesagt, wo seine Leiche zu finden ist?«

»Tut mir leid. Er wurde zu plötzlich aus seinem Körper gerissen, seine Erinnerung an den Ort war verblasst.«

Wie praktisch.

Zeit, zu den weltlichen Fakten zurückzukehren. »Haben Sie Andreas Kalski jemals persönlich kennengelernt?«

»Nein. Erst nach seinem Verschwinden habe ich sein Bild in der Zeitung gesehen. Ein ungewöhnlich schöner junger Mann.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen.«

»Warum interessierst du dich für ihn?«

»Er war ein Bekannter meiner Mutter.«

»Maria Vogel.« Sie dehnte den Namen unnatürlich in die Länge und sah mich durchdringend an. Genauer gesagt sah sie ihre eigene Nasenspitze durchdringend an, aber ich ging davon aus, dass dieser Blick mir galt.

»Sie kennen sie?«

»Durchaus. Sie war sein Schicksal.«

»Frau Kalski glaubt, meine Mutter sei für seinen Tod verantwortlich. Warum haben Sie das damals behauptet?«

»Ich hatte eine Vision, in der Maria an Andreas’ Totenbett stand und auf seinen Leichnam hinunterblickte.«

»Das ist doch Quatsch, meine Mutter hat niemals an seinem Totenbett gestanden. Wie auch? Es gab ja keine Leiche.«

»Visionen zeigen lediglich ein symbolhaftes Bild der Realität. Viel ist Interpretationssache. Ich habe Violetta letztlich nur erzählt, dass Andreas’ bevorstehender Tod irgendwie mit Maria zusammenhängt.«

»Wissen Sie, warum Frau Kalski die Villa nicht verkaufen will?«

»Sie behält sie wegen Andreas.«

»Das verstehe ich nicht. Sie scheint doch überzeugt zu sein, dass er seit vier Jahrzehnten tot ist.«

»Sein Geist lebt immer noch dort. Er hat sich nie von dem Gebäude gelöst.«

Gruselige Vorstellung. Zum Glück hatte ich Violetta Kalski in der Seniorenresidenz getroffen; ein Besuch in einem Geisterhaus wäre absolut nichts für mich.

»Er verweilt bis heute in seiner Wohnung im Dachgeschoss, sie steht ja noch genauso da wie früher. Dort kann sein Geist zur Ruhe kommen.«

»Moment mal, soll das heißen, dass Violetta Kalski seit über vierzig Jahren nichts in der Wohnung verändert hat?«

Madame Cassandra nickte. »Alles ist noch so wie an dem Tag, als sie ihren Sohn zum letzten Mal sah.«

Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. Natürlich las ich ab und zu von Fällen, in denen Eltern die Zimmer ihrer vermissten Kinder nicht veränderten. Aber vierzig Jahre? Ich fragte mich, ob sie es nicht fertigbrachte, sich von seinen Sachen zu trennen, weil sie insgeheim immer noch auf seine Rückkehr hoffte – trotz allem, was Madame Cassandra sie glauben gemacht hatte.

Ich verabschiedete mich, die Wahrsagerin begleitete mich zur Wohnungstür. »Darf ich mich noch mal an Sie wenden, falls ich noch Fragen habe?«

»Jederzeit. Ich kann dir auch gern die Karten legen.«

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.«

Ich lief zu meinem Auto und schloss die Fahrertür auf. Von dieser Batik-Tante würde ich mir gar nichts legen lassen. Und auf eine erneute Begegnung mit dem Schrumpfkopf hatte ich erst recht keine Lust.

»Eleonore!«

Ich war mit dem Hintern schon auf halbem Weg zum Sitz, kämpfte mich aber wieder hoch und sah Madame Cassandra über das Autodach hinweg an. »Ja?«

»Du wirst ihn wiedersehen.«

»Wen?«

»Den, den du suchst.«

Ich war mir nicht ganz sicher, ob wir noch von derselben Person sprachen. »Und wann soll das sein?«

»Bald. An dem Tag, an dem der Tod erneut in dein Leben tritt.«

Ihre Worte sorgten für ein eisiges Gefühl in meinem Inneren. Ich murmelte eine halbherzige Verabschiedung, ließ mich auf den Fahrersitz fallen und brauste davon.

Erst an der nächsten Kreuzung fiel mir ein, dass ich Madame Cassandra gegenüber meinen vollständigen Vornamen gar nicht erwähnt hatte.

Der falsche Friese

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